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Jener Wettlauf mit der Schildkröte, den einst ein witziger und scharfsinniger Kopf erdachte, um das Problematische, das heißt das oftmals Unzulängliche, Fragwürdige, Widerspruchsvolle und Paradoxe des menschlichen Denkens, insbesondere des sogenannten reinen Denkens, darzutun, ist seitdem das bezeichnende Symbol zahlloser Aufgaben und Übungen in allen Gebieten menschlicher Geistestätigkeit überhaupt geworden. Philosophie, Logik und Mathematik, ebensosehr aber auch die exakten Erfahrungswissenschaften, ja auch die realistische Technik haben in den Jahrtausenden ihrer Geistesarbeit neben den konkreten, eindeutigen und handfesten Ergebnissen und Leistungen zugleich auch Probleme aufgeworfen, die sich durch die Abstraktheit ihrer Gegenstände oder auch durch die Tiefe und Schwierigkeit ihrer Wurzeln der konkreten Auflösung und Bewältigung wieder und immer wieder entzogen und dadurch zu Rätseln von größter Seltsamkeit und stärkstem Reiz wurden.
Gerade diesen Problemen des Abstrakten, Paradoxen und gedanklich Tiefen haben sich die Denkenden aller Zeiten mit brennendem Eifer zugewandt und in dem Versuche, sie zu bewältigen, im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende eine ungeheure Summe von Scharfsinn und Gedankenarbeit geleistet, die eins der eigenartigsten und reizvollsten Kapitel in der Geschichte des menschlichen Geistes überhaupt darstellt. Irrlichter der Geisteswelt sind jene Probleme gleichsam gewesen oder sind sie noch, Irrlichter, durch die das menschliche Denken auf Irr- und Umwege geriet, sich in Trugschlüsse, Antinomien und Paradoxien verwickelte, aber zugleich auch in unermüdlicher Gedankenarbeit sich zu dem Grad von Gedankenschärfe entwickelte, der ihm die Einsicht in das Wesen jener Probleme verschaffte. So ist der Kampf mit diesen Aufgaben des Paradoxen und Abstrakten, mit jenen »Doktorfragen«, nicht vergeblich und noch weniger ein müßiges Spiel gewesen. Im Gegenteil. Wo das Denken Widersprüche, Paradoxien oder anscheinend unüberwindliche Schwierigkeiten antrifft, hat es die Aufgabe und die Pflicht, solche zu lösen und zu beseitigen, das erfordert die Exaktheit und Reinheit des Denkens selbst, sofern es überhaupt Anspruch auf Geltung erheben will. Die besten Denker aller Zeiten haben sich an jenen Problemen erprobt, und diese halten heute noch, gleichviel welche Auffassung von ihnen inzwischen erlangt worden ist, alle Denkenden, Gelehrte wie Ungelehrte, in ihrem Bann. Für alle diese Art von Denkaufgaben und Denkübungen ist jener Wettlauf mit der Schildkröte Symbol; er ist daher auch mit Recht der Titel dieses Buches geworden, das eine Reihe solcher Probleme, teils erläuternd, teils kritisch betrachtend, darzustellen sucht.
»Gelöste und ungelöste Probleme« nennt sich das Buch im Untertitel. Gewiß, viele jener Aufgaben, die sich durch ihren besonderen gedanklichen Charakter oder durch ihre Tiefe und Schwierigkeit auszeichneten, sind zur endgültigen Lösung gekommen. Viele aber entziehen sich nach wie vor der Lösung, und andere scheinen ihrem innersten Wesen nach auch heute noch nicht und vielleicht überhaupt niemals einer endgültigen und eindeutigen Entscheidung fähig, und diese wie jene sind nach wie vor Gegenstand unermüdlicher Gedankenarbeit Ungezählter und führen auch, wie weiland Doktor Faust seine Lehrer, diejenigen, die sich mit ihnen beschäftigen, weiterhin an der Nase herum. Gerade gegenwärtig scheint es ja eine Renaissance des Paradoxen geben zu wollen. Die alten Paradoxien in Logik und Mathematik sind zu neuem Leben erstanden und neue sind dazugekommen, und wer Freude hat an solchem irrlichternden Denken, kommt heute mehr denn je auf seine Rechnung. Aber auch jene Probleme, die inzwischen ihre vollständige und exakte Lösung und Erledigung gefunden haben, wie etwa die Quadratur des Kreises, die Dreiteilung des Winkels, das Perpetuum mobile usw., finden noch immer ihre Liebhaber und »Löser«, die sich dem Spruch der Wissenschaft über diese Fragen nicht fügen wollen oder die wissenschaftliche Auffassung über diese Dinge überhaupt noch nicht kennen und daher nach wie vor Lösungen suchen, wo es wirklich nichts mehr zu lösen gibt. Auch diese sozusagen posthume Problematik gehört noch zur Geschichte jener Probleme und ist nicht ihr uninteressantestes Kapitel.
Die Logik, diese unerschöpfliche Fundgrube des Problematischen und Paradoxen, hat in erster Linie Stoffe zu diesem Buch geliefert, dann aber auch andere Gebiete des philosophischen Denkens. Einen verhältnismäßig breiten Raum neben diesen aber nehmen Fragen und Probleme aus dem Gebiet der Mathematik ein. Das bringt das Wesen der Sache mit sich, denn gerade in Raum und Zahl tritt der problematische Charakter des Denkens vielfach in Erscheinung. Das braucht aber in dem Leser, der nicht Mathematiker ist, keinesfalls die landesübliche Furcht vor allem Mathematischen rege zu machen. Denn es sind nicht die komplizierten und subtilen Fragestellungen und Gedankenkomplexe, mit denen der Fachmathematiker sein Gehirn trainiert, sondern mehr Dinge allgemeinerer Natur, deren es auch in der Mathematik zahllose gibt, Dinge, die einen unendlichen Reiz für jeden Denkenden überhaupt in sich bergen und geeignet sind, auch den geschworenen Nichtmathematiker in ihren Bann zu ziehen, wenn sie ihm in der geeigneten Form nahegebracht werden. Ich glaube, daß das in dem vorliegenden Buche erreicht ist und darf mich vielleicht auf eine ausgedehnte schriftstellerische Praxis auf diesem Gebiete berufen, die mir eine gewisse Fähigkeit, selbst schwierigere mathematische Dinge so zu behandeln, daß sie für den intelligenten Laien verständlich und interessant werden, vermittelt hat. Denn viele der in diesem Buche behandelten Fragen und Probleme, insbesondere auch die mathematischen, sind von mir in ähnlichen Formen bereits in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften behandelt worden, und ich habe damit – sehr im Gegensatz zu der Meinung vieler Schriftleiter, daß Mathematisches, selbst wenn es in noch so leichtverständlicher und anregender Form dargeboten wird, die Leser nicht zu fesseln vermöge – zumeist ganz überraschende Erfolge erzielt. Oftmals gingen mir auf einen solchen Aufsatz Hunderte von Zuschriften zu; die Zahl aller, die im Laufe der Zeit aus solchen Gründen mit mir in briefliche Verbindung getreten sind, geht in die Tausende, und Leser aller fünf Erdteile haben sich an dieser Korrespondenz beteiligt. Kam dabei allerdings oftmals auch viel Naivität zutage, so doch auch viel aufrichtiges Streben nach tieferem Eindringen in die behandelten Fragen und Dinge und viel aufrichtige Freude an der durch solche Aufsätze angeregten Beschäftigung mit der verschrienen Mathematik, die doch jedem, der sich ihr mit Liebe und Ausdauer naht, so bald zur schönsten und reizvollsten aller Wissenschaften werden kann. Dieser ausgesprochene publizistische Erfolg läßt mich hoffen, daß auch dieses Buch trotz des umfangreichen mathematischen Teils seine Freunde finden wird. Eine Reihe von Erfahrungen, die sich bei der erwähnten Korrespondenz mit Lesern meiner Aufsätze ergaben, habe ich in dieses Buch an geeigneter Stelle, zumeist im Postskriptum, hineingewoben; sie sind vielfach recht humorvoller Art, haben zum mindesten aber auch immer ein gewisses psychologisches Interesse.
Überhaupt ist der Humor in der Mathematik (wie auch in den anderen der behandelten Wissensgebiete) in mancherlei Form in diesen Blättern zu seinem Recht gekommen, insbesondere auch durch Aufnahme und Behandlung einer Anzahl von Scherzaufgaben geometrischer und arithmetischer Art. Das sind zwar nur Kleinprobleme des Denkens, die aber doch manchmal recht viel Witz und Scharfsinn erfordern und für gewöhnlich auch von dem zünftigen Mathematiker nicht besser gelöst werden als von dem Außenseiter. Ich glaube nicht, daß das Niveau des Buches durch diese scherzhaften Miszellen eine Minderung erfahren hat, hat doch die Unterhaltungsmathematik sogar in dem mathematischen Standardwerk, der »Enzyklopädie der Mathematik«, ihren Platz erhalten.
Dann hat auch die Physik dem Buche Stoffe geliefert; hat hier doch heute besonders die Relativitätstheorie eine ganze Reihe von Problemen aufgeworfen, zu denen unser Denken noch immer keinen unverrückbaren Standpunkt einnehmen kann. Wer will mit Bestimmtheit sagen, ob jene noch immer so viel und heftig umstrittene Theorie eine gesicherte und unangreifbare Erkenntnis oder aber ebenfalls nur ein Wettlauf mit der Schildkröte ist? Auch die Technik mit ihren mancherlei problematischen Zielen und Ausblicken ist nicht vergessen. Wo ich einen Gegenstand von problematischem Charakter fand, da habe ich ihn aufgegriffen, und so ist es gekommen, daß in diesem Buche selbst sehr heterogene Dinge und Themen behandelt werden, die aber alle ein Gemeinsames, eben das Problematische, haben. Die Vielseitigkeit und Heterogenität liegt in der Natur der Probleme.
Die meisten, ja wohl sogar alle hier behandelten Probleme sind natürlich auch schon viele Male von anderer Seite erörtert worden, aber nur zerstreut und, wo es in populärer Form geschah, oftmals in sehr unzulänglicher Weise. Ich glaube in den Behandlungsstoff eine neue Note hineingebracht zu haben, einerseits – was besonders für die Aufsätze mathematischen Inhaltes gilt – durch die Art der Behandlung, für die mir bei aller Leicht- und Allgemeinverständlichkeit die notwendige Exaktheit Richtschnur war, dann aber auch durch die kritische Stellungnahme zu den einzelnen Gegenständen, die ich mir nicht nehmen ließ, wo Gelegenheit und Anlaß dafür vorhanden war, und endlich auch durch die Vollständigkeit des Ganzen, die Zusammenfügung und den Zusammenhang der vielen so heterogenen Themen und Dinge zu einem geschlossenen Buche des Problematischen. In dieser Form kann das Buch vielleicht eine Lücke ausfüllen, mir wenigstens ist weder in der deutschen noch in der ausländischen Literatur ein Buch dieser Art bekannt.
Sein und Dasein des Menschen bedeuten durch sich selbst einen ungeheuren Komplex von Fragen, Rätseln und Problemen, die als ein unveräußerliches Erbteil der Menschheit mit in die Wiege gelegt wurden. Das größte Problem ist, daß überhaupt etwas da ist! – so oder so ähnlich sagte einst, erschüttert von der Rätselhaftigkeit des Daseins an sich, der junge Schelling. Aber auch wenn man sich nicht so weit wie dieses Genie der spekulativen Reflexion und Problematik ins Transzendente versenkt, wird und muß man in dem Problematischen die Natur des Menschlichen spüren und von ihm ergriffen werden. Ihre Probleme sind das Schicksal der Menschheit, der Kampf um die Probleme des reinen Denkens aber ist die Romantik des Menschengeistes. Und diese Romantik auch andere empfinden zu lassen, ist die Aufgabe dieses Buches.