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II.
Probleme der Linie


1. Mit Zirkel und Lineal

Vier uralte Probleme – Die Bedingungen Platos – Altertum und Mittelalter – Ein Universitätsbeschluß – Eine neue Richtung – Drei Unmöglichkeitsbeweise


Zu den ältesten und reizvollsten Problemen, die die Geschichte des menschlichen Denkens kennt, gehört eine Anzahl geometrischer Aufgaben, bei denen es sich darum handelt, bestimmte geometrische Figuren herzustellen oder bestimmte geometrische Konstruktionen auszuführen und für diesen Zweck lediglich Zirkel und Lineal als Hilfsmittel zu verwenden. Vor allem sind das die folgenden Probleme:

  1. Die Quadratur des Kreises;

  2. Das Delische Problem oder das Problem der Verdoppelung des Würfels;

  3. Das Problem der Dreiteilung des Winkels, auch kurz als Problem der Trisektion bezeichnet;

  4. Das Problem der Kreisteilung.

Diese Probleme haben den menschlichen Geist an zweieinhalb Jahrtausende beschäftigt, ehe es gelang, die ganze ungeheure Schwierigkeit und Tiefe dieser doch so einfach anmutenden Aufgaben auszuschöpfen und das zauberhafte Geheimnis, das sich an sie knüpfte, in vollem Umfange zu lösen. Wie ein Stück Romantik des menschlichen Geistes mutet die Geschichte gerade dieser Probleme und ihrer Lösung an, romantisch einerseits wegen des blendenden Reizes, der gerade jenen Problemen zu eigen war und noch heute zu eigen ist, andererseits aber wegen der ungeheuren Summe von Mühe, Arbeit und unerhörtem geistigen Ringen, das an die Lösung dieser Aufgaben gewandt wurde, ehe es gelang, sie restlos zu bewältigen. Und nicht nur die berufenen Fachleute der exakten wissenschaftlichen Forschung, sondern auch weite Kreise gebildeter Laien haben diese Probleme zu allen Zeiten in ihren Bann gezogen. Das liegt in der Natur dieser Aufgaben begründet, die par excellence Probleme des reinen Denkens sind, zugleich aber auch Probleme, die, wenigstens äußerlich angesehen, einer Behandlung oder sogar Lösung auch durch den, der nicht Fachgelehrter im Reiche der Mathematik ist, zugänglich zu sein scheinen. Einen Kreis in ein Quadrat von gleichem Flächeninhalt zu verwandeln, einen Würfel von dem doppelten Rauminhalt eines gegebenen anderen Würfels zu konstruieren, einen Winkel in drei oder einen Kreis in sieben Teile zu teilen, das schienen Aufgaben, die nur der persönlichen Findigkeit, viel weniger wissenschaftlicher Tiefgründigkeit bedurften, um restlos gelöst werden zu können, und an denen sich daher auch der findige Laie versuchen konnte. Das waren und das sind noch die Gründe für das Interesse, das gerade spekulativ veranlagte Köpfe allgemein jenen Problemen von jeher entgegenbrachten und noch heute entgegenbringen, die Gründe für den Eifer, den gerade auch Laien mit mehr oder weniger unzulänglichen Mitteln an die Ergründung und Lösung jener Aufgaben setzten, und die jenen Problemen sogar eine ausgesprochene Popularität ganz ähnlich derjenigen des Perpetuum mobiles verschafften, das sich ja ebenfalls, wenn es auch keinesfalls auf ein so stattliches Alter wie unsere Aufgaben zurückblicken kann, von jeher der Gunst Berufener und noch mehr Unberufener zu erfreuen hatte. So ist die Geschichte jener vier geometrischen Aufgaben eins der reizvollsten Kapitel in der Geschichte menschlichen Denkens und menschlichen Scharfsinnes geworden, eine Geschichte unermüdlicher Versuche, eine Anzahl merkwürdige Rätsel zu lösen, die Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch mit dem ganzen Zauber des Geheimnisvollen und Unergründlichen behaftet waren.

Schon die frühesten Mathematiker des Altertums haben sich mit jenen Problemen beschäftigt und die ganze Eigenart und Schwierigkeit derselben in vollem Umfange erfahren und empfunden. Schon die Pythagoreer, die älteste Mathematikerschule der Griechen, aus deren Schoß die Lösung so mancher mathematischen und geometrischen Aufgabe hervorging, bemühten sich ebenso angestrengt wie vergeblich auch um die Lösung dieser Probleme. Die eingehendste Behandlung und Bearbeitung aber erfuhren diese Probleme in dem Kreise des großen Plato (427-347 v. Chr.), der in seiner Philosophenschule auch die Mathematik aufs eifrigste pflegte und über den Eingang seines Lehrgebäudes schreiben ließ, daß niemand dort eintreten solle, der sich nicht zuvor gründliche mathematische Kenntnisse angeeignet habe. Plato und seine Schüler versuchten mit allem Scharfsinn, den wir an den Gelehrten jener Zeit, vor allem den damaligen Geometern, kennen und bewundern, die Lösung der Probleme zu finden, jedoch mit ebensowenig Erfolg wie ihre Vorgänger, und ebenso wie diese überrascht und ratlos durch die Schwierigkeit dieser Aufgaben, die allen und selbst den raffiniertesten Konstruktionsmethoden, allen den zahllosen Kunstgriffen, die extra für sie erfunden wurden, trotzten. Plato war es aber auch, der jenen Problemen zuerst die strenge präzis wissenschaftliche Formulierung gab, indem er die Forderung aufstellte, daß die verlangten Konstruktionen lediglich vermittels Zirkels und Lineals, unter Ausschluß aller anderen Hilfsmittel, ausgeführt werden dürften. Diese Bedingung, die natürlich nicht nur für unsere vier Probleme, sondern für alle geometrischen Aufgaben und Konstruktionen überhaupt festgelegt wurde, ist seitdem für die Mathematiker bindendes Gesetz geworden. Erst durch diese Bedingung ist die Geometrie auf eine exakt wissenschaftliche Grundlage gestellt worden, erst hierdurch aber sind auch die geometrischen Konstruktionsaufgaben, vor allem unsere vier genannten Probleme, zu der harten Nuß geworden, an der sich so viele die Zähne ausgebissen haben.

Es gelang Plato und seinen Schülern nicht, jene vier Probleme unter den gestellten einschränkenden Bedingungen zu lösen, und die Vergeblichkeit aller ihrer vielfachen Anstrengungen ließ die ganze Schwierigkeit und Tiefe jener Aufgaben in ihnen aufdämmern. Von der Lösbarkeit der Probleme an und für sich aber war man überzeugt und hatte angesichts der großen Erfolge der platonischen Methoden bei der Lösung vieler anderer Konstruktionsaufgaben zu dieser Annahme auch allen Grund. Warum also sollte, was einst dem Pythagoras in so eleganter Weise gelungen und auch bei so vielen anderen geometrischen Problemen erreicht worden war, nämlich Ausführung der verlangten Konstruktion nur mit Zirkel und Lineal, nicht auch bei dem Delischen und dem Winkelteilungsproblem und ebenso bei der Quadratur des Kreises möglich sein? Auf eine oder einige Hekatomben fetter Ochsen sollte es nach dem Vorbild des Pythagoreers gewiß nicht ankommen.

Und von den Mathematikern des Altertums gingen die Probleme auf die Gelehrten des Mittelalters über, nach wie vor behaftet mit dem ganzen aufreizenden Geheimnis ihrer Schwierigkeit und Rätselhaftigkeit. Die merkwürdigsten und kompliziertesten rechnerischen und geometrischen Methoden wurden ersonnen und eine ungeheure Summe von Scharfsinn und Geistesarbeit im Laufe der Jahrhunderte daran gewandt, um die Konstruktionen im Sinne Platos zu verwirklichen. Unzählige Male auch glaubten scharfsinnige Köpfe die Lösung des einen oder anderen der so heißumstrittenen Probleme gefunden zu haben, unzählige vermeintliche Lösungen dieser Art wurden im Laufe der Zeit den wissenschaftlichen Instanzen zur Prüfung unterbreitet, zumeist immer mit großem Triumphgeschrei der glücklichen Entdecker, die schon den Kranz unvergänglichen Lorbeers auf ihren Häuptern sahen; ebensooft aber machte die genauere Untersuchung alle daran geknüpften Hoffnungen und Erwartungen wieder zunichte, und viele hochberühmte Gelehrte blamierten sich nach dieser Hinsicht nicht weniger als wagemutige Laien. Am meisten hatten unter der Popularität jener Probleme die wissenschaftlichen Institute, besonders die Universitäten, zu leiden, die ständig mit Abhandlungen von Gelehrten und Ungelehrten über die angeblich vollkommene Lösung dieser Aufgaben überschüttet wurden. Daher beschloß endlich die Pariser Akademie der Wissenschaften im Jahre 1775, fernerhin Abhandlungen, die sich mit diesen Aufgaben befaßten, überhaupt nicht mehr zur Prüfung anzunehmen, um ihren Mitgliedern ein für allemal die sehr mühevolle und zeitraubende und doch immer vergebliche Arbeit der Prüfung solcher Elaborate zu ersparen, und dem Beispiel dieses berühmtesten und maßgebendsten wissenschaftlichen Institutes jener Zeit folgten auch die meisten anderen Universitäten.

Das aber bedeutete zugleich, daß die Wissenschaft vor dem großen Geheimnis, das sich an die Lösung jener Probleme knüpfte, endgültig kapituliert hatte und keine Hoffnung mehr hegte, die Konstruktion der verlangten Figuren im Sinne der Bedingungen Platos verwirklichen zu können. Mit dieser Kapitulation aber war die mathematische Forschung zugleich zu einer veränderten Stellungnahme zu jenen Problemen gedrängt und vor die Frage gestellt: Welches sind, wenn die Konstruktion jener Figuren im platonischen Sinne unmöglich ist, wie aus den Jahrtausende währenden vergeblichen Versuchen mit Sicherheit geschlossen werden muß, die Gründe dieser Unmöglichkeit? und ferner: Kann vielleicht, da sich die verlangten Konstruktionen als unmöglich erwiesen haben, der Beweis dieser Unmöglichkeit mit wissenschaftlicher Exaktheit erbracht werden? Mit dieser Fragestellung war zugleich auch eine neue Richtung der wissenschaftlichen Forschung zur Aufhellung jener geheimnisvollen Konstruktionen gewiesen. Statt die Versuche zur Konstruktion der verlangten Figuren fortzusetzen, richtete sich nunmehr das Bestreben darauf, den Beweis für die Unmöglichkeit der positiven Lösung dieser Aufgaben zu finden und die hartnäckigen Probleme auf diese Weise zum Abschluß zu bringen. Auch ein solcher Unmöglichkeitsbeweis mußte, wenn er mit voller wissenschaftlicher Exaktheit gelang, eine Lösung bedeuten, wenn auch eine Lösung anderer Art, als man bis dahin die Jahrtausende hindurch angenommen hatte. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts etwa bewegte sich die wissenschaftliche mathematische Forschung in der angedeuteten Richtung, und hier sollte ihr, wenn freilich auch erst nach langem und schwerem Bemühen, schließlich ein voller Erfolg beschieden sein. Kurz vor dem Ende des 18. Jahrhunderts hatte der Student Karl Friedrich Gauß den ganzen Problemkomplex, der sich an die Kreisteilung knüpft, restlos zum Abschluß gebracht und damit ein Rätsel von Jahrtausenden gelöst, und bald nach Beginn des vorigen Jahrhunderts erbrachte derselbe Gauß, der Fürst der Mathematiker, wie ihn die mathematische Mit- und Nachwelt neidlos genannt hat, den Unmöglichkeitsbeweis für das Delische Problem und ebenso für das Problem der Dreiteilung des Winkels. Einige Jahrzehnte dauerte es dann freilich immer noch, ehe es gelang, auf ähnliche Weise auch die härteste Nuß, die es für die Mathematiker jemals zu knacken gab, die Quadratur des Kreises, zu erledigen und auch für dieses am meisten umstrittene Problem den exakten Unmöglichkeitsbeweis zu finden, was im Jahre 1882 dem deutschen Mathematiker Lindemann gelang.

Damit war eine Geistesarbeit von Jahrtausenden zum Abschluß gebracht und der Kampf um die Lösung jener Probleme beendet. Die Probleme sind als gelöst zu betrachten, aber diese Lösung ist negativer Art und besteht in dem Nachweis, daß die verlangten Konstruktionen mit Zirkel und Lineal allein überhaupt nicht ausgeführt werden können. Für die Wissenschaft waren jene Probleme damit erledigt, nicht aber für die Welt der Laien. Diese gaben sich mit einem solchen Ausgang der Sache nicht zufrieden und suchen daher auch heute noch mit heißem Bemühen nach der Lösung jener Aufgaben, sei es, weil sie nicht wissen, zu welcher Auffassung die Wissenschaft inzwischen von diesen Dingen gekommen ist, sei es, weil sie diese Auffassung einfach nicht anerkennen und auf eigene Faust das Verdikt der Wissenschaft umstoßen zu können glauben. Und tatsächlich bieten die hier genannten geometrischen Probleme, wenn sie auch wissenschaftlich als gelöst und erledigt zu betrachten sind, doch dem denkenden Laien auch heute noch so viel des Reizvollen und Interessanten, auch noch immer so viel des Geheimnisvollen, daß man es versteht, wenn von dieser Seite an der Geschichte dieser Probleme noch immer weitergearbeitet wird. Die Lösungsversuche von dieser Seite lassen oft einen großen Scharfsinn und eine gewisse Originalität des Denkens erkennen und sind, wenn sie freilich auch ewig zur Ergebnislosigkeit verurteilt sind, nichtsdestoweniger als ein Geistessport eigener Art aufzufassen, der jedenfalls viel mehr Scharfsinn erfordert als die manchmal höchst banalen Arten des modernen »Denksports«.

Nachdem wir den allgemeinen Charakter jener geometrischen Probleme erörtert haben, wollen wir diese auch noch einzeln betrachten, da erst dadurch die ganze Eigenart dieser Aufgaben erschlossen werden kann.


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