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Der Einstein des Altertums – Achilles und die Schildkröte – Der »Achilleus« in alter und neuer Zeit – Reihenrechnung – Rechnung und Wirklichkeit – Die Lösung – Der Reihenschläfer
Vor etwa zweieinhalb Jahrtausenden war es, da gab es in den Kreisen der Gelehrten und Gebildeten im alten Griechenland eine heillose Aufregung, die sich in vielfacher Hinsicht mit dem Aufsehen und der Erregung vergleichen läßt, die in unseren Tagen die Aufstellung der Relativitätstheorie im Gefolge gehabt hat. Wie bei dieser, so handelte es sich auch damals um die Probleme von Raum und Zeit. Der damalige Einstein hieß Zenon und war ein Philosoph aus der Schule der Eleaten. Diese Schule hatte gelehrt, daß es überall und immer nur ein einziges einheitliches Sein gäbe. Alles ist Eines und das Eine ist das All, so hatte Parmenides, das Haupt jener Schule, gelehrt und daraus den Schluß gezogen, daß alles Werden und Sichverändern, also die aufeinanderfolgende Vielheit verschiedener Zustände bei einem Dinge, wie sie uns die Sinneswahrnehmung zeigt, Irrtum und Täuschung, ein bloßer Trug der Sinne sei. Diese Lehre aber fand heftigen Widerspruch, insbesondere seitens der Schüler des Heraklit, eines Zeitgenossen des Parmenides, der ungefähr gerade das Gegenteil lehrte. Mit vielen und gewichtigen Gründen suchte man jenen Philosophen von der Absurdität seiner Denkweise zu überführen, und als stärkstes Argument wurde geltend gemacht, daß, wenn es keine Veränderung gäbe, es auch keinerlei Bewegung geben könne. Kein Mensch könne dann sein Haus verlassen, kein Wagen die Rennbahn durcheilen, und der Pfeil müßte ewig an der Sehne kleben bleiben.
Das waren starke Gründe, und Spott und Hohn hagelten auf das Haupt des Eleaten herab. Da aber sprang Zenon, ein unruhiger Geselle, der auch sonst viel von sich reden machte, aber zugleich auch ein Kopf von eminentem dialektischen Talent, dem bedrängten Meister an die Seite und bewies an einer Anzahl von Beispielen den verblüfften Zeitgenossen haarscharf, daß es tatsächlich keinerlei Bewegung gebe oder auch nur geben könne und jede dem widersprechende Sinneswahrnehmung eitel Lug und Trug sei. Der berühmteste dieser Beweise, mit denen Zenon die Gegner der eleatischen Schule einfach schachmatt setzte, war der sogenannte » Achilleus«, der beweisen sollte, daß der schnellste Läufer eine langsam kriechende Schildkröte, wenn diese nur einen geringen Vorsprung habe, niemals einholen könne. Dieser Beweis ist folgender: Angenommen, eine Schildkröte und der Schnelläufer Achilles befinden sich in einer Entfernung von 100 Metern, und Achilles will die Schildkröte einholen. Beide setzen sich in demselben Augenblick in Bewegung, Achilles mit Nurmischritten, die Schildkröte mit der ihr angeborenen Gemütlichkeit. In wenigen Sekunden wird Achilles die 100 Meter der ursprünglichen Entfernung durcheilt haben. Aber während dieser Zeit ist auch die Schildkröte ein – wenn auch nur viel kleineres Stück – vorwärtsgekommen, das Achilles also nunmehr erst noch zurücklegen muß; hat er das erreicht, so ist aber die Schildkröte abermals um ein – allerdings noch viel kleineres – Stück weitergekommen, und hat der Schnelläufer auch dieses Stückchen bezwungen, so ist inzwischen die Schildkröte wiederum ein ganz kleines Stückchen weitergekrochen. Und so geht die Verfolgung weiter in infinitum. Der Abstand zwischen beiden wird immer kleiner, aber niemals Null, und kann das, wie die Rechnung zeigt, auch niemals werden. »Infame Kröte!« denkt schließlich Achilles und gibt verzweifelt das Rennen auf.
Man war zunächst verblüfft, und zwar total. Dann freilich rafften sich die Gegner von nah und fern zu heftigster Gegenargumentation auf, und die literarische Fehde wuchs zu ungeahnter Dimension an. Aber siehe da, die unheimliche Logik des Eleaten erwies sich als ein rocher de bronze, an dem sich die Gegner einfach die Zähne ausbissen. Die Sache stimmte rechnerisch mit absoluter Sicherheit, und gegen die rechnerische Richtigkeit eines Beweises ließ sich einfach nicht ankämpfen. Die Eleaten behielten glänzend die Oberhand. Freilich war das bewiesene Ergebnis nur theoretischer Art, und in der Praxis des Lebens wird ja wohl auch der scharfsinnige Zenon die Bewegung haben gelten lassen. Aber was er bewiesen hatte, war, daß ein klaffender Widerspruch bestand zwischen Logik und Rechnung einerseits und der praktischen Tatsächlichkeit des Geschehens andererseits, und daß dieser Widerspruch trotz aller Anstrengungen der erlesensten Gehirne nicht aus der Welt zu schaffen war. Und so blieb es! Jahrhunderte hindurch tobte der Kampf der Gelehrten für und gegen Zenon, und die Scholastiker des Mittelalters bemühten sich nicht weniger als die Sophisten des Altertums, die harte Nuß zu knacken. Ungezählte tiefsinnige Abhandlungen wurden darüber geschrieben, die scharfsinnigsten Beweise und Gegenbeweise ersonnen, aber der »Achilleus« behielt seine Bedeutung als berühmtester Widerspruch zwischen Denken und Sein ungeschmälert weit über zwei Jahrtausende hindurch. Erst der neuesten Denkrichtung, erst der modernen logischen Betrachtung des Unendlichen in Philosophie und Mathematik, ist es gelungen, sich des peinlichen Zaubers zu erwehren, mit dem der Parmenidesschüler so lange nachzuwirken vermochte. Freilich, ganz einwandfrei scheint für viele auch heute noch das Problem nicht gelöst. Auch heute noch erproben die Jünger der Wissenschaft ihren logischen und erkenntnistheoretischen Scharfsinn an dem »Achilleus«, und zwar nicht immer erfolgreich; noch immer werden Dissertationen darüber geschrieben, und noch vor kurzem hörte ich einen hochangesehenen Universitätslehrer sich in der Vorlesung über das Problem des Zenon in der Weise äußern, daß hier eben ein Widerspruch vorliege, mit dem wir uns abzufinden haben, ein Widerspruch, begründet in den Antinomien unseres Denkens und geboren aus der Diskrepanz zwischen Denken und Anschauung, die beide letzten Endes das wahre Wesen der Dinge doch nicht klarzulegen und widerspruchslos wiederzugeben vermögen.
Aber diese doch wohl ein wenig resigniert klingende Auffassung befriedigt nicht. Tatsächlich sind wir heute in der Lage, den Fehler der Zenonschen Rechnung aufzudecken und jenen fatalen Widerspruch restlos auszumerzen. Dem Verfasser sei es gestattet, hier eine persönliche Betrachtungsweise vorzutragen, die jedenfalls vollkommen zum Ziele führt.
Die Argumentation Zenons stimmt, rein rechnerisch betrachtet, absolut, aber auch nur rein rechnerisch. Angenommen, Achilles habe eine Geschwindigkeit von 10 Metern, die Schildkröte eine solche von 1 Meter in der Sekunde, so wird Achilles in der ersten Etappe des Wettlaufes zunächst die 100 Meter der ursprünglichen Entfernung, in jeder folgenden Etappe aber immer nur den zehnten Teil der vorhergegangenen Etappe zurücklegen. Er legt dann also hintereinander eine Reihe von Einzelstrecken, nämlich 100 + 10 + 1 + 1/ 10 + 1/ 100 + 1/ 1000 usw. Meter, zurück, und braucht dafür 10 + 1 + 1/ 10 + 1/ 100 + 1/ 1000 + 1/ 10 000 usw. Sekunden Zeit. Die Summe aller jener Raumteile aber gibt, so weit man sie auch fortsetzt, niemals eine beliebige Strecke, sondern bleibt immer in sehr engen Grenzen, erreicht beispielsweise niemals den Wert von auch nur 112 Metern. Wer's nicht glaubt, rechne nach, was bei der elementaren Natur dieser Rechnung jedem möglich ist, der über die Kenntnis der Addition und der einfachsten Bruchrechnung verfügt. Bemerkt sei, daß man eine solche wie oben dargestellte Reihe von Summanden, bei der jeder Summand immer um dasselbe Vielfache größer ist als der folgende (in unserem Falle um das Zehnfache) eine geometrische Reihe nennt, und solche geometrischen Reihen spielen nicht nur in der Mathematik eine große Rolle, sondern sind auch für die logische und erkenntnistheoretische Betrachtung von größtem Interesse. Also Achilles kommt, wenn er gemäß der Vorschrift Zenons den ganzen Weg in den Etappen einer solchen geometrischen Reihe zurücklegen will, tatsächlich niemals bis an die Schildkröte heran. Aber muß denn Achilles, um sein Ziel zu erreichen, den Weg bruchstückweise zurücklegen? Kann er seinen Weg nicht kontinuierlich, sozusagen in einem Zuge ohne Punkt und Komma, ablaufen? Freilich kann er das, und wenn er das tut, so ergibt sich ein ganz anderes Resultat als bei der Zenonschen Rechnung. Bei den vorausgesetzten Bestimmungen, also der angegebenen ursprünglichen Entfernung und der angegebenen Sekundengeschwindigkeit jedes der beiden Wettkämpfer, stellt sich das ganze Problem als eine lächerlich einfache algebraische Gleichung ersten Grades mit einer einzigen bescheidenen Unkannten (Pensum Untertertia) dar, aus der sich ergibt, daß Achilles die Schildkröte in genau 11 1/ 9 Sekunden und nach einer Laufstrecke von genau 111 1/ 9 Meter eingeholt hat.
Damit allein ist nun freilich der Widerspruch noch nicht beseitigt, denn der besteht ja gerade darin, daß beide Rechnungen richtig sind, Achilles aber nach der einen Rechnung die Schildkröte niemals, nach der anderen aber sehr schnell einholt. Also muß der Kernpunkt des Problems in dem Unterschied der beiden Rechnungsweisen zu suchen sein. Und das ist der Fall! Die Rechnung Zenons stellt den Fall dar, wenn Achilles den Weg in einer Reihe von einzelnen Teilen, die in gesetzmäßiger Weise immer kleiner werden, zurücklegt, die Gleichungsrechnung aber bei kontinuierlicher, völlig ununterbrochener Fortbewegung. Was bedeutet es denn nun aber für die Wirklichkeit, einen Weg in einzelnen Teilen, gleichsam etappenweise statt kontinuierlich, zurückzulegen? Das bedeutet und kann nur bedeuten, daß nach jedem Teilpunkt eine wenn auch noch so kleine Unterbrechung der Bewegung stattfindet und der Läufer für einen Moment zur Ruhe kommt, denn sonst könnte man in Wirklichkeit von Teilen der Strecke überhaupt nicht reden. Und tatsächlich, wenn bei jedem Teilpunkte in unserer geometrischen Reihe für einen noch so kleinen Augenblick ein Aufhören der Bewegung erfolgt und Achilles nach jeder der Etappen eine wenn auch noch so kleine Pause, sagen wir von einer milliontel oder billiontel Sekunde, macht, dann würde er die Schildkröte nicht nur rechnerisch, sondern auch in Wirklichkeit niemals einholen können. Denn so winzig klein auch die jedesmalige Unterbrechung sein mag, so sinken die einzelnen Glieder der Reihe ihrer zeitlichen Größe nach doch sehr bald unter den Wert der Pause herab. Nehmen wir an, daß diese immer nur den billiontel Teil einer Sekunde währt, so würde schon nach der 15. Etappe die Unterbrechung länger sein als die Zeit zum Durchlaufen der 16. Etappe; und wenn wir die Zeit der Unterbrechung selbst noch beliebig viel kleiner annehmen, immer und unweigerlich wird von einem bestimmten, leicht berechenbaren Intervall an die Zeit der Pause größer als die des Laufes. Dann aber summieren sich die Pausen gewaltig schnell und erlangen das Übergewicht über die Zeiten des Laufens in einem solchen Maße, daß das Match gegen das Ende hin fast nur noch aus Pausen besteht und schließlich in Stillstand übergeht. Achilles kommt, nachdem er die ersten zwanzig Etappen zurückgelegt hat, nicht mehr von der Stelle und kann daher die Schildkröte auch nicht einholen.
Das ist des Pudels Kern. Die Reihenrechnung Zenons, die die Laufstrecke und die Bewegung in dem seltsamen Wettrennen, statt sie als kontinuierliches Ganzes aufzufassen, in eine unendliche Anzahl immer kleiner werdender diskreter Teile zerlegt, bedeutet damit implizite, daß nach jeder der berechneten Etappen eine Unterbrechung der Bewegung erfolgt, und fügt auf diese Weise in die Laufbewegung eine unendliche Anzahl von Unterbrechungen oder Pausen ein, die, wenn sie wirklich stattfänden, den Verlauf des Wettrennens in der geschilderten paradoxen Weise gestalten müßten. Diesen Faktor der unendlichen Unterbrechungen der Bewegung hat Zenon unbemerkt eingeschmuggelt, und Mit- und Nachwelt haben diese begriffliche Konterbande übersehen. Die algebraische Gleichung aber sieht ihren Bedingungen nach keinerlei Unterbrechung oder Pause vor; der Wettlauf wird nach dieser Richtung kontinuierlich ausgeführt, ohne Pausen, ohne Verzögerung oder Verlangsamung und führt Achilles binnen wenigen Sekunden ans Ziel. Damit ist Fehler und Trugschluß in der Argumentation des Eleaten aufgedeckt. Er besteht darin, daß eine, für sich betrachtet, richtige Rechnungsweise auf einen Vorgang der Wirklichkeit angewandt wird, der seiner Natur nach jener nicht entspricht. Es ist nicht wahr, daß Achilles die Laufstrecke in unendlich vielen Teilen zurücklegt, sondern er legt sie zurück als kontinuierliches Ganzes. Nicht die geometrische Reihe, sondern die algebraische Gleichung mit endlicher Anzahl berechenbarer Summanden ist das Gesetz des Wettlaufes. Wir dürfen, wenn Sinneswahrnehmung und rechnerische Spekulation in Widerstreit geraten, getrost unseren Sinnen mehr vertrauen, weil jene, selbst bei zahlenmäßiger Richtigkeit, damit noch keinesfalls immer das äquivalente und wahre Abbild der Wirklichkeit ist.
Wir wollen das Verfängliche der Reihenrechnung noch an dem folgenden hübschen Beispiel zeigen: Mit derselben Begründung wie im Falle Achilles contra Schildkröte könnte Zenon auch behaupten, daß kein Mensch jemals dazu kommt, eine volle Stunde zu leben. Denn er muß zunächst 1/ 2, dann 1/ 4, dann 1/ 8, 1/ 16 usw. Stunde leben. Die Reihe 1/ 2 + 1/ 4 + 1/ 8 + 1/ 16 aber ergibt, so weit man sie auch fortsetzt, niemals 1, also in unserem Falle niemals eine ganze Stunde. Und wieder hätte der Eleate recht, wenn sich nämlich der Ablauf des Lebens in Form einer Reihenrechnung vollziehen würde. Angenommen, ein Mensch wird geboren, lebt ¼ Stunde und verfällt dann für den millionten Teil einer Sekunde in Bewußtlosigkeit oder Schlaf, erwacht dann nach dieser winzigen Spanne Zeit und lebt wach ¼ Stunde weiter, worauf er wieder für jenen kleinen Zeitteil in Schlaf versinkt, dann 1/ 8, dann 1/ 16 Stunde usw. fortlebt, jedesmal sein Bewußtsein mit der winzigen Pause von einer milliontel Sekunde unterbrechend. Das würde eine merkwürdige Folge haben. Schon nach den ersten zwanzig Etappen würden die Pausen länger sein als die Zeiten des Bewußtseins, und dann würden sich die Pausen so rasch summieren, daß sie vollständig das Übergewicht erlangen. Der Ärmste würde überhaupt nicht mehr aus dem Schlaf herauskommen und würde sich selbst in hundert oder tausend Jahren nicht einer vollen Stunde wachen Lebens zu erfreuen haben.