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3. Der Goldene Schnitt

I

Zahl und Kunst – Das Buchformat und sein Streckenverhältnis – Zweck und Form – Die Konstruktion des Goldenen Schnittes – Major und Minor – Ein interessantes psychologisches Experiment


Eine der eigenartigsten Erscheinungen, in denen sich das Wirken der Zahl bekundet, ist jene Beziehung, die als der Goldene Schnitt bezeichnet wird. Eigenartig und merkwürdig ist diese Beziehung deswegen, weil hier die Zahl, die wir sonst nur in der unbelebten Natur und dem Ablauf der mechanisch wirkenden und daher zahlenmäßig bestimmbaren Naturgesetze vorfinden, ihr Walten in einem Gebiete bekundet, das mit mechanischer Gesetzmäßigkeit nichts zu tun hat, sondern seinem ganzen Wesen nach gerade das Gegenteil einer solchen ist, im Gebiete der Kunst. Die Kunst aber ist ein aus freiem seelischen und geistigen Leben geborenes Tun, und ihre Schöpfungen sind Äußerungen und Erzeugnisse des frei waltenden Geistes, der sich über die mechanische Zwangsmäßigkeit erhebt, mit der sich die Naturgesetze erfüllen, und wenn wir dennoch in den Schöpfungen der Kunst die Wirksamkeit der Zahl verfolgen können, so manifestiert sich hier die Zahl in besonders eigenartiger Weise als das Wesen der Dinge.

Daß Zahl und Kunst keine Gegensätze sind, dafür ist uns die ursprünglichste aller Künste, die Musik, Beweis. Der Rhythmus der Töne beruht auf dem zahlenmäßigen Zusammenhang der Tonintervalle, der Terz, Quarte, Oktave usw., und läßt erkennen, daß der seelische Akt, der sich in dem Empfinden des Schönen ausdrückt, wenigstens im Reich der Töne von der zahlenmäßig gebundenen Form bedingt wird. Diesen Zusammenhang zwischen Rhythmus und Zahl in der Musik hatten schon die alten Pythagoreer erkannt, und deswegen wandelten sie nur die Bahnen einer bereits vertrauten Auffassung, als sie einen ähnlichen Zusammenhang auch in anderen Gebieten der Kunst, in der Malerei, der Plastik und Baukunst, finden und nachweisen zu können glaubten. Sie fanden, daß die künstlerische Formgebung, wie es gerade an den hervorragendsten Erzeugnissen der genannten Künste erweisbar ist, in ausgesprochenem Maße ein ganz bestimmtes, zahlenmäßig ausdrückbares Verhältnis der Längen und Strecken bevorzugt und daß auch die Natur in ihren Formen, wenigstens denen der lebenden Naturschöpfungen, mit Vorliebe dasselbe Streckenverhältnis befolgt, ein Prinzip der Formgebung, das insbesondere immer da zu konstatieren ist, wo wir ein Kunstwerk oder eine Naturgestalt als besonders schön empfinden.

Dieses Streckenverhältnis ist der Goldene Schnitt.

Die alten Philosophen haben dieser merkwürdigen Beziehung ihre volle Aufmerksamkeit gewidmet und glaubten, in dieser das Gesetz der künstlerischen Formgebung gefunden zu haben, das zugleich auch das Gesetz der schönheitlichen Formgebung in der Natur sei, glaubten so die Zahl auch in der Welt des Schönen, der Naturschönheit wie der Schönheit der künstlerischen Schöpfung, waltend und wirkend wiedergefunden zu haben.

Befassen wir uns zunächst damit, jenes Streckenverhältnis, das der Goldene Schnitt genannt wird, genauer zu bestimmen. Wenn wir irgendein Buch zur Hand nehmen, so werden wir regelmäßig feststellen können, daß es die Form eines Rechteckes aufweist, ein Format also, bei dem die eine Seite länger ist als die andere. Ferner ist es auch nicht ein beliebiges Rechteck, sondern fast immer ein solches, bei dem die Längs- zur Breitseite in einem ganz bestimmten zahlenmäßigen Verhältnis steht. Ich nehme ein Buch aus meiner Bibliothek heraus, messe die Länge der beiden Seiten und finde, daß die eine Seite 13, die andere 21 Zentimeter lang ist. Letztere ist also l,6mal so lang wie die andere, oder die Längen der beiden Seiten stehen, wie man zu sagen pflegt, in dem Verhältnis 1: 1,6. Ich nehme ein anderes Buch, messe wiederum und finde diesmal die Längen der Seiten mit 15 und 24 Zentimeter; wiederum ist die längere Seite gerade l,6mal so lang wie die andere, wiederum ist das Streckenverhältnis 1: 1,6 zu konstatieren. Dann nehme ich ein kleines Notizbuch zur Hand; die Seiten sind 8 und 13 Zentimeter lang, und bei einem kleinen Notizkalender von Westentaschenformat finde ich 5 und 8 Zentimeter als Seitenlängen. Auch in diesen beiden Fällen ist jedesmal das bereits angegebene Streckenverhältnis vorhanden. Nach jenen Buchzwergen greife ich endlich auch zu einem Folianten großen Formates. Es ist ein lateinisches Geschichtswerk aus dem 16. Jahrhundert. Die Ausmessung ergibt genau 20 und 32 Zentimeter Seitenlänge, und auch diese entsprechen jenem Streckenverhältnis. Also schon vor dreihundert Jahren haben Buchdrucker und Buchbinder das Buchformat bevorzugt, bei dem die eine Seite l,6mal so lang ist wie die andere. Die Versuche und Messungen mit den verschiedenartigsten anderen Büchern aus heutiger wie vergangener Zeit führen immer zu ähnlichen Resultaten, und nur selten zeigt sich eine erheblichere Abweichung. So groß oder so klein auch das Format der Buchwerke sein mag, in den meisten Fällen finden wir ein Längenverhältnis der Seiten von etwa 1: 1,6 oder, wenn wir dieses Verhältnis in ganzen Zahlen ausdrücken wollen, was empfehlenswert ist, ein Verhältnis von 5: 8.

Diese Regelmäßigkeit in dem Längenverhältnis der Bücherformate ist eine überaus eigenartige Erscheinung. Es bestand für Buchdrucker und Buchbinder niemals ein Zwang, gerade die Formate von dem genannten Längenverhältnis in so ausgesprochener Weise zu bevorzugen, und wenn wir fragen, warum sie es dennoch taten, so finden wir keine andere Antwort als die, daß diese Formate dem Form- und Schönheitsgefühl der Bücherverfertiger wie der Büchergebraucher von jeher am meisten zusagten. Das Buchformat mit dem Längenverhältnis 5: 8 erzeugt in uns eine gewisse Befriedigung, ein gewisses Schönheitsgefühl, es entspricht am meisten unserem »Geschmack«. Wie sehr das der Fall ist, wird deutlich, wenn wir ein Buch mit einem von dem genannten stark abweichenden Format auf uns wirken lassen. Ein Buch von quadratischem Format beispielsweise macht auf uns einen ausgesprochen unschönen Eindruck; dasselbe gilt auch Von einem Buchformat, das ein sehr langgestrecktes Rechteck darstellt, bei dem etwa die eine Seite doppelt so lang ist wie die andere. Manchmal kommen Bücher solcher abweichenden Formate auf den Markt, doch gehört das zu den Seltenheiten, die auch, wie die Erfahrung regelmäßig lehrt, niemals Anklang bei den Gebrauchern oder Käufern der Bücher findet.

Das Buchformat ist nur ein einzelnes Beispiel für die bevorzugte Anwendung des Streckenverhältnisses 5 : 8. Bei zahllosen anderen Dingen und Gegenständen der Gebrauchswelt finden wir es angewandt, und zwar mit einer Häufigkeit und Regelmäßigkeit, daß wir hier nicht mehr von einem Zufall sprechen können, sondern auf einen tiefer liegenden Grund schließen müssen. Und als diesen Grund können wir nennen, daß die Paarung von Zweckmäßigkeit und wohlgefälliger Form, die wir gerade an den Dingen des täglichen Gebrauchs wünschen, jenen Dingen also, mit denen wir die Umwelt unserer häuslichen Daseinsweise herstellen, durch die Proportionen nach dem Goldenen Schnitt in besonderem Maße gewährleistet wird. Das Buchformat mit dem Seitenverhältnis 5 : 8 ist das zweckmäßigste für den Gebrauch, und zugleich empfinden wir es als das wohlgefälligste. Zweck und Form stehen in einem engen Kausalnexus und bedingen sich gegenseitig. Der Gegenstand, gleichviel ob es sich um ein einzelnes Stück oder um die ganze Anordnung unserer Umgebung, die Gestaltung und Einrichtung von Wohnung und Haus handelt, soll nicht nur nützlich, sondern auch gefällig sein und zur Verschönerung unserer Umwelt und unserer Daseinsweise beitragen. Diese Verbindung des Zweckmäßigen mit dem Gefälligen und Schönen in der äußeren Gestaltung und Formgebung herzustellen ist, soweit es die Dinge unseres Gebrauches betrifft, insbesondere die Aufgabe des Kunstgewerbes, das am Gebrauchsgegenstand dasselbe Gesetz der Formgebung zum Ausdruck bringt, das die reine Kunst in der Form und Gestaltung ihrer rein idealen Schöpfungen befolgt. Das Buchformat stellt nur ein einzelnes, aber überaus sprechendes und beweiskräftiges Beispiel des Formengesetzes des Goldenen Schnittes im Kunstgewerbe dar.

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Abb. 39
Die Konstruktion des Goldenen Schnittes

Die Teilung einer Strecke nach dem Goldenen Schnitt ist eine geometrische Aufgabe, die mit der Lehre vom Kreis, dieser schönsten und gleichmäßigsten aller geometrischen Figuren, im Zusammenhang steht und in folgender einfachen Weise zu lösen ist: Angenommen, die Strecke AB in unserer Abbildung 39 soll nach dem Goldenen Schnitt geteilt werden, so errichten wir auf dem einen Endpunkte der Strecke, in unserer Abbildung in B, eine senkrechte Strecke BM, die wir genau halb so lang machen wie die Strecke AB. Um M schlagen wir dann mit der Strecke BM als Halbmesser einen Kreis und verbinden dann die Punkte M und A durch eine gerade Linie, die den Kreis in dem Punkte P schneidet. Die Strecke AP tragen wir dann vermittels des Zirkels auf der Strecke AB ab und erhalten so auf der letzteren einen Teilpunkt C, der die ganze Strecke AB in die beiden Teilstrecken AC und CB teilt. Dann ist die ganze Strecke AB durch den Punkt C nach dem Goldenen Schnitt geteilt. Zugleich steht dann aber auch die ganze Strecke AB zu ihrem größeren Abschnitt, der Strecke AC, im Verhältnis des Goldenen Schrittes, d. h. nicht nur die Strecke AC ist 1,6mal so lang wie die Strecke CB, sondern zugleich ist auch die ganze Strecke AB 1,6mal so groß wie ihr größerer Abschnitt AC. Wenn wir ferner die kleinere Strecke CB auf der größeren AC abtragen, so steht auch der hierbei entstehende kleinere Teil zu der Strecke CB im Teilungsverhältnis des Goldenen Schnittes. Immer wenn wir die beiden Teile einer nach dem Goldenen Schnitt geteilten Strecke aufeinander abtragen oder wenn wir den größeren Teil einer solchen Strecke an die ganze Strecke ansetzen, so entsteht zwischen den beiden Teilen das Teilungsverhältnis des Goldenen Schnittes.

Die mathematische Begründung für diese Behauptungen wollen wir übergehen und nur erwähnen, daß die Konstruktion des Goldenen Schnittes mit der geometrischen Aufgabe der Zehnteilung des Kreises in engem Zusammenhange steht Die in Abbildung 16 (Seite 95) dargestellte 10-Teilung des Kreises läßt die Übereinstimmung mit der Konstruktion des Goldenen Schnittes deutlich erkennen. Die Sehne des regelmäßigen Zehnecks ist der größere Abschnitt des nach dem Goldenen Schnitt geteilten Radius des Umkreises.. Bemerkt sei noch, daß der jeweils größere Abschnitt einer nach dem Goldenen Schnitt geteilten Strecke als »Major« (die erste Silbe ist zu betonen!), der kleinere Abschnitt als »Minor« bezeichnet wird. In dieser Weise hat schon Euklid, der griechische Mathematiker und »Vater der Geometrie«, um das Jahr 300 die Konstruktion des Goldenen Schnittes gelehrt und damit das Verfahren angegeben, um auf geometrischem Wege zu jeder beliebigen Strecke eine andere zu finden, die zu jener in dem Längenverhältnis des Goldenen Schnittes steht.

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Abb.40 Format des Goldenen Schnittes

In Abbildung 40 sind die Streckenverhältnisse oder »Proportionen«, wie sie sich bei der Teilung nach dem Goldenen Schnitt ergeben haben, zu einer Formgebung verwandt worden. Wir haben hier ein Rechteck vor uns, dessen Längsseite AB der ganzen Strecke AB unserer Abbildung 39, die Schmalseite des Rechteckes der Strecke AC der Abbildung 39 entspricht. Die Figur gibt die Seitenverhältnisse des üblichen Buchformates wieder, das wir hier also geometrisch hergeleitet haben. Aber auch die beiden Teilstrecken AC und BC der Abbildung 39, die ja ebenfalls Proportionen des Goldenen Schnittes darstellen, sind zu einem Format verwandt worden, und zwar zu dem eingezeichneten kleineren Rechteck mit den Seiten AC und BC. Dieses kleinere Format weist in seinen Seiten dasselbe Streckenverhältnis wie das größere Rechteck auf, stellt also ebenfalls ein Format von besonderer Wohlgefälligkeit dar. Die schönheitliche Wirkung, die die geeignete Verbindung dieser beiden Formate gerade beim Buch erzeugt, finden wir deutlich in unserer Abbildung 41 wieder, die eine Seite aus einem alten englischen Kunstdruckwerk mit reichem Buchschmuck darstellt. Hier finden wir jene beiden Formate, das Format des ganzen Druckblattes und das Format des inneren Drucksatzes, miteinander in harmonische Verbindung gebracht, die einen ästhetisch hervorragend befriedigenden Eindruck erzeugt und in so ausgezeichneter Weise durch kaum eine andere Anordnung von Blatt und Druck erreicht werden könnte.

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Abb. 41
Buchformat im Goldenen Schnitt

Bemerkt sei noch, daß der Goldene Schnitt auch Gegenstand der experimentellen Psychologie geworden ist. Durch eingehende wissenschaftliche Versuche ist eine ausgesprochene Bevorzugung der Formate, die dem Teilungsverhältnis des Goldenen Schnittes entsprechen, vor anderen Formaten festgestellt worden. Man hat Versuchspersonen der verschiedensten Bildungsgrade und Altersstufen eine große Reihe verschiedener Vierecksformate vorgelegt mit der Aufforderung, diejenigen zu bezeichnen, die ihnen am meisten gefallen. In den weitaus meisten Fällen wurden immer diejenigen Formate, die dem Teilungsverhältnis des Goldenen Schnittes entsprachen, als die schönsten bezeichnet, auch schöner als die genau quadratischen Formate, die im übrigen bei solchen Versuchen immer an zweiter Stelle genannt wurden.

II

Die Antike und der Goldene Schnitt – »Apoxyomenos« und »Doryphoros« – Der Kanon – Der Goldene Schnitt im Mittelalter – Maler und Mathematiker – Albrecht Dürer – Adolf Zeising und seine Lehre


Die Bevorzugung des Teilungsverhältnisses des Goldenen Schnittes in der Formgebung und den Proportionen der Werke und Erzeugnisse können wir nahezu durch die ganze Geschichte der bildenden Künste und ebenso des Kunstgewerbes verfolgen; sie ist eine weitgehende Bestätigung jenes Gesetzes der schönheitlichen Formgebung in Kunst und Natur, das schon vor über zweitausend Jahren von den Philosophen und Mathematikern des Altertums entdeckt worden ist. Besonders in den Bild- und Malwerken der antiken Künstler, die bis auf den heutigen Tag die unübertroffenen Vorbilder der künstlerischen Harmonie und Formgebung geblieben sind, können wir die Regel vom Goldenen Schritt mit überraschender Häufigkeit und Regelmäßigkeit nachweisen. Überraschend vor allem deswegen, weil wir annehmen müssen, daß jene Künstler wohl niemals bewußt nach jener Regel arbeiteten, ja diese überhaupt noch nicht kannten, sondern sie gleichsam nur unbewußt, den unbewußten Gesetzen eines inneren Bildungstriebes folgend, zur Anwendung brachten, wie es für das intuitive Schaffen des echten Künstlers kennzeichnend ist. Gerade der Naturcharakter jenes Formengesetzes bekundet sich in dieser intuitiv–unbewußten Anwendung seitens des schaffenden Künstlers, der in der äußeren Form und den Proportionen seines Werkes gleichzeitig das Prinzip der größten Zweckmäßigkeit zum Ausdruck und Zweck und Form zu jener Paarung bringt, die sich in ihrer schönheitlichen Wirkung auf uns äußert. Unsere Abbildung 42 zeigt uns eins der berühmtesten Werke der antiken Bildhauerkunst, an dem wir das Gesagte mit besonderer Deutlichkeit veranschaulichen können. Die Abbildung stellt ein Werk des berühmten griechischen Bildhauers Lysippos aus Sikyon dar, der von 360 bis 316 v. Chr. lebte und wirkte, und eine große Zahl von Bildwerken in Metall und Stein geschaffen hat, die dem Künstler nicht nur bei seinen Zeitgenossen größten Ruhm erwarben, sondern ihn auch heute noch als einen der hervorragendsten Vertreter der plastischen Kunst aller Zeiten erweisen. Das Werk ist die Statue eines Athleten, der sich nach beendetem Ringkampf vermittels eines Gerätes gerade den Staub und Schweiß vom Körper abstreift, weswegen die Statue in der Kunstgeschichte als der »Apoxyomenos«, d. h. der Abstreifer, bezeichnet wird, ein hochberühmtes Kunstwerk, das uns in einer sehr guten Nachbildung erhalten geblieben ist, die sich jetzt im Vatikan in Rom befindet. In unserer Abbildung ist die geschaffene Gestalt in Verbindung mit dem Teilungsschema des Goldenen Schnittes dargestellt. Die Größe der ganzen Figur entspricht der ganzen Strecke AB, die in dem Punkte C nach dem Goldenen Schnitt geteilt ist. Der Major dieser ganzen Strecke, also die Teilstrecke BC, reicht von der Sohle bis zum Gürtel und teilt hier die ganze Gestalt in Unter- und Oberkörper. Die Strecke BC ist wiederum nach dem Goldenen Schnitt geteilt und bestimmt die Proportionen des Unterkörpers, deren eine der Länge der Beine von der Sohle bis zum Knie, die andere dem Körperteil vom Knie bis zur Hüfte entspricht. Die Strecke AC hingegen bestimmt in ihrer Unterteilung die Proportionen des Oberkörpers. Der Major dieser Strecke, also Cd, bestimmt den Oberkörper von der Hüfte bis zum Hals, der Minor, also die Strecke Ad, die Höhe des Kopfes.

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Abb. 42
Der »Apoxyomenos«

Damit ist die vollendete Harmonie der Körpergestalten, die wir an den Schöpfungen der antiken Plastik bewundern, auf die Regel vom Goldenen Schnitt zurückgeführt, die sich am Apoxyomenos in besonders deutlicher und exakter Weise ausprägt. An zahllosen anderen Werken der antiken Kunst können wir gleichsam handgreiflich das Geltungsgesetz des Goldenen Schnittes in ebensolcher Weise feststellen. Natürlich haben die Künstler jene Regel keinesfalls immer mit absoluter geometrischer Genauigkeit, sondern immer nur mit mehr oder weniger großer Annäherung befolgt, die aber auch durchaus hinreichend ist, um den Eindruck des Schönen und Harmonischen bei der Formgebung nach jenem Teilungsverhältnis hervorzurufen. Auch ist ja ein gewisser Spielraum in der Anwendung jenes Teilungsverhältnisses bei der künstlerischen Formgebung nötig, um die geometrische Gleichförmigkeit der geschaffenen Gestalten zu vermeiden, die sich ja auch in der Natur niemals findet. Aber unter Berücksichtigung dieses notwendigen Spielraumes läßt sich die Geltung jenes Naturgesetzes der Formgebung an den Werken der bildenden Kunst und gerade an den hervorragendsten Werken aus der Geschichte der Malerei, Bildhauerkunst und Architektur aufs deutlichste nachweisen, zeigt es sich, daß die Empfindung des Schönen und Harmonischen, die das dargestellte Werk in uns auslöst, in hohem Maße durch die Anwendung der Regel vom Goldenen Schnitt bewirkt wird.

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Abb. 43
»Doryphoros«

Als Gegenstück zu dem Apoxyomenos führen wir unseren Lesern in Abbildung 43 noch eine weitere Figur der griechischen Bildhauerkunst vor, die ebenso wie jene gerade wegen ihrer idealen Proportionen berühmt ist, nämlich den »Doryphoros« oder »Speerträger« des griechischen Bildhauers Polyklet aus Sikyon, der im 5. Jahrhundert, v. Chr. lebte und Zeitgenosse und Nebenbuhler des allerdings noch größeren Phidias, des berühmtesten Meisters der antiken Plastik überhaupt, war. Auch die Gestalt des Speerträgers läßt die Proportionen des Goldenen Schnittes aufs deutlichste erkennen und ist dieser idealen Verhältnisse wegen geradezu das Vorbild für die gesamte spätere Plastik bei der Darstellung des menschlichen Körpers geworden. Ein derartiges Vorbild wird als »Kanon« bezeichnet, und der Speerträger, der in mehrfachen Nachbildungen erhalten ist und eine der bedeutendsten Gestaltungen der antiken Plastik darstellt, ist der berühmteste Kanon, der seiner idealen Formgebung wegen ungezählten Generationen von bildenden Künstlern als Vorbild gedient hat und diesem Zwecke noch heute dient. Der sehr bedeutende deutsche Bildhauer Johann Gottfried Schadow, der nicht nur eine große Reihe berühmter plastischer Werke geschaffen, sondern auch eine Anzahl literarischer Werke über die Bildhauerkunst geschrieben hat, benannte eines der letzteren, das sich speziell mit den Proportionen des menschlichen Körpers befaßt, nach dem Schöpfer des berühmtesten Kanons als »Polyklet«.

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Abb. 44
Luca Pacioli, dem Maler Barbari den Goldenen Schnitt demonstrierend

Auch im Mittelalter befaßten sich Maler, Mathematiker und Philosophen mit dem Problem des Goldenen Schnittes, der sectio aurea, wie sie es gelehrt nannten, oder auch der sectio divina, des Göttlichen Schnittes. Bekannt geworden ist ein Werk des Minoritenfraters und Mathematikers Luca Pacioli mit dem Titel » De divina proportione«, d. h. »über das göttliche Teilungsverhältnis«, aus dem Jahre 1509, in welchem der Verfasser eingehende Betrachtungen über den Goldenen Schnitt als Schönheitsprinzip anstellt, das seiner Meinung nach sowohl Gott bei der Erschaffung der Welt angewandt habe, wie es auch von allen bildenden Künstlern infolge göttlicher Eingebung bei ihren Schöpfungen befolgt werde. Auch gibt er eine eingehende Darstellung der Lehre und Konstruktion vom Goldenen Schnitt, der nach seiner Meinung die mathematische Grundlage aller Künste sein soll. Luca Pacioli trat auch mit vielen der berühmtesten Maler und Künstler seinerzeit in Verbindung, so mit dem berühmten Maler und Ingenieur Leonardo da Vinci, dessen Studien für Kunst und Technik hierdurch wesentlichen Einfluß erfuhren. Dem Maler Jacopo de Barbari erteilte Pacioli Unterricht in der Lehre vom Goldenen Schnitt, und aus Dankbarkeit malte Barbari ein Bild, auf dem er sich selbst und seinen Lehrmeister darstellte. Unsere Abbildung 44 gibt dieses Bild wieder. Wir sehen hier Pacioli damit beschäftigt, dem hinter ihm stehenden Barbari die Lehre vom Goldenen Schnitt auf einer Tafel zu demonstrieren; neben dem Maler steht rechts ein eigentümlicher geometrischer Körper, ein Dodekaeder, einer der sogenannten platonischen Körper, der aus zwölf Seiten, deren jede ein regelmäßiges Fünfeck ist, besteht, und an dem das Teilungsverhältnis des Goldenen Schnittes körperlich zur Erscheinung kommt. In der linken oberen Ecke hat der Maler einen weiteren seltsamen Körper dargestellt, einen riesigen Kristall, der in seiner Gestaltung und Abmessung ebenfalls die Proportionen des Goldenen Schnittes erkennen läßt. Das ganze Bild ist erfüllt mit jenem mystischen Nimbus, der charakteristisch für so viele künstlerische Schöpfungen des Mittelalters ist und der natürlich auch niemals fehlte, wo es sich um angeblich so geheimnisvolle Dinge wie den Goldenen oder Göttlichen Schnitt handelte.

Auch der berühmteste Vertreter der Geschichte der deutschen Malerei, Albrecht Dürer (1471-1528), der als Sohn eines Goldschmiedes aus dem Kunstgewerbe hervorgegangen ist und dessen Studien grundlegend waren für die weitere Entwicklung des Kunstgewerbes der gesamten nachfolgenden Zeit, hat sich viel und eingehend mit den Formenverhältnissen des menschlichen Körpers befaßt und – ein Vorgänger Schadows auch nach dieser Hinsicht – ein großes Werk über diesen Gegenstand verfaßt. Die Lehre vom Goldenen Schnitt selbst scheint Dürer jedoch nicht gekannt zu haben, wenigstens erwähnt er diese nicht. Dennoch aber zeigen sich seine Ideen und Vorschriften und ebenso auch die von ihm geschaffenen Bildwerke so erfüllt von dem Prinzip des Goldenen Schnittes, daß wir auch hier ein Beispiel sehen für die Tatsache, daß der wahre Künstler auch ohne bewußte Kenntnis der inneren Gesetze der Formgebung diese dennoch unbewußt in sich trägt und in seinen Werken zur Anwendung bringt.

Dann blieb die Lehre vom Goldenen Schnitt lange Zeit hindurch unbeachtet; bei den meisten Künstlern nach Dürer war sie sogar nahezu völlig in Vergessenheit geraten, und auch die Mathematiker bekümmerten sich nicht viel darum. Erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts erfuhr die Theorie des Goldenen Schnittes und ihre Anwendung für die Formgebung in Kunst und Kunstgewerbe eine Neubelebung, und zwar durch die Arbeiten des Professors Adolf Zeising in München, der in einer Reihe von Schriften seine gründlichen theoretischen und praktischen Studien auf diesem eigenartigen Forschungsgebiete veröffentlichte und dadurch von neuem die Aufmerksamkeit sowohl der Wissenschaftler, insbesondere der Philosophen und der Mathematiker, wie auch der Künstler und Kunstgewerbler auf die Bedeutung des Goldenen Schnittes als Prinzip der Formgebung lenkte. Zeisings Arbeiten und Schriften, insbesondere sein Hauptwerk, das den Titel führt »Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers aus einem bisher unbekannt gebliebenen, die ganze Natur und Kunst durchdringenden morphologischen Gesetz«, machte beträchtliches Aufsehen und führte dazu, daß sich nunmehr wieder weitere Kreise mit der Lehre von den Proportionen nach der Regel vom Goldenen Schnitt und vor allem ihrer Anwendung für Kunst und Kunstgewerbe zuwandten. Zeising selbst nahm die Gültigkeit des Goldenen Schnittes, wie es Jahrhunderte vor ihm schon Luca Pacioli getan hatte, als ein Gesetz für die ganze Welt an und suchte dessen Gültigkeit nicht nur für die menschliche Gestalt, sondern auch für das Tier- und Pflanzenreich, ja sogar auch für das Mineralreich zu erweisen, indem er hier wie dort die Formen der Naturerzeugnisse und Naturgestalten aus dem Goldenen Schnitt abzuleiten versuchte, der nach seiner Auffassung überall nachzuweisen ist, wo sich in den natürlichen Formen und Gestalten Zweckmäßigkeit und Schönheit miteinander gepaart finden. Selbst für den Himmel und den Lauf der Gestirne nahm Zeising die Gültigkeit dieses Gesetzes an, indem er die Bahnen und Abstände der Gestirne auf die Proportionen des Goldenen Schnittes zurückzuführen suchte, womit er sich übrigens der Auffassung der alten griechischen Naturphilosophen näherte, die das ganze Weltall als nach bestimmten Ordnungs- und Schönheitsprinzipien gebaut erklärt und es deswegen »Kosmos«, d. h. Schönheit im Sinne geordneter Harmonie, genannt hatten. Seit Zeisings Arbeiten ist die Lehre vom Goldenen Schnitt noch weiter ausgebaut und ein überaus wichtiger Bestandteil der praktischen Ästhetik, der angewandten Schönheitslehre für die Formgebung in Kunst und Kunstgewerbe, geworden.

III

Das Gesetz der Formgebung in der Natur – Ernst Kapp – Der Goldene Schnitt in der Technik – Philosophie des Goldenen Schnittes – Tier und Pflanze im Goldenen Schnitt – Zweck und Stil – Haus und Möbel – Form und Schönheit


Zeisings Forschungen und Schriften über den Goldenen Schnitt wurden die Veranlassung, das Walten dieses Gesetzes in der Formgebung der Natur, das schon die Alten festgestellt und studiert hatten, von neuem zu untersuchen. Können wir doch gerade an denjenigen Naturerzeugnissen, deren Form und Gestaltung wir als besonders wohlgefällig oder schön empfinden, sei es die menschliche Gestalt selbst, seien es Gestaltungen aus dem Tier- und Pflanzenreiche, ja sogar an solchen aus dem Mineralreiche, die Proportionen des Goldenen Schnittes mit besonderer Häufigkeit feststellen, und gerade hier tritt uns der eigentliche Naturcharakter dieses Formengesetzes entgegen. Während der Künstler in den von ihm geschaffenen idealisierten Menschengestaltungen, wie wir es besonders an den Plastiken der antiken Bildhauer verfolgen konnten, gleichsam unbewußt zum Interpreten der Natur und ihres Formengesetzes wird, spricht hier die Natur in der Formgebung ihrer Schöpfungen selbst.

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Abb. 45.
Die weibliche Normalfigur in den Proportionen des Goldenen Schnittes

Nicht nur an der von Künstlerhand geschaffenen idealisierten Menschengestalt, sondern auch am normalen menschlichen Körper selbst wie an den Formen der lebenden Natur überhaupt, suchte man jenes Gesetz der Formgebung wiederzufinden. Ein Schüler Zeisings, Johannes Bocheneck, ist auf diesem Gebiete erfolgreich tätig gewesen und hat die Gültigkeit des Naturgesetzes des Goldenen Schnittes an einer großen Anzahl von Normalgestalten aus dem Menschen-, Tier- und Pflanzenreiche nachzuweisen versucht. Unsere Abbildung 45 zeigt Bochenecks Darstellung der weiblichen Normalfigur nach den Maßverhältnissen des Goldenen Schnittes. Die Figur ist, wie sich aus dem beigegebenen Schema ergibt, zunächst durch eine das Becken schneidende Mittellinie in zwei Hälften geteilt. Die Unterteilung beider Körperhälften läßt die Proportionen des Goldenen Schnittes ohne weiteres erkennen und bestimmt die Größenverhältnisse der einzelnen Körperteile.

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Abb. 46
Der Goldene Schnitt am Kopf

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Abb. 47.
Der Goldene Schnitt am Arm

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Abb. 48
Die Hand im Goldenen Schnitt

Noch ein anderer deutscher Gelehrter, der Professor Ernst Kapp aus Düsseldorf, hat gegen Ende des vorigen Jahrhunderts auf die Wirksamkeit des Goldenen Schnittes an den Naturformen, insbesondere der menschlichen Gestalt, hingewiesen und hierüber überaus interessante Studien gemacht. Unsere Abbildung 46 zeigt die besonderen Proportionen des menschlichen Kopfes nach Maßgabe des Goldenen Schnittes in der Darstellung Kapps. Die ganze Kopfhöhe ist hier durch die Strecke ab angegeben, die im Punkte c nach dem Goldenen Schnitt geteilt ist. Der Major umfaßt die Kopfhöhe bis zur Stirn, der Minor die Gesamthöhe von Stirn und Schädeldecke. Major und Minor sind ihrerseits wieder geteilt und bestimmen die Proportionen der einzelnen Teile und Organe des Kopfes, wie aus dem beigegebenen Konstruktionsschema deutlich ersichtlich ist. So entspricht die Nase dem Minor ce der Strecke ac; die Höhe der Oberlippe, von der Lippenlinie bis zur Nasenwurzel reichend, ist wiederum dem Minor der Strecke ce entsprechend, und in ähnlicher Weise bestimmt die Unterteilung die weiteren Proportionen in der Formgebung des menschlichen Hauptes. Die Maßverhältnisse des menschlichen Armes hingegen zeigt die Abbildung 47. Die Länge des ganzen Armes, von der Spitze des ausgestreckten Fingers bis zur Schulterhöhe reichend, ist im Punkte c nach dem Goldenen Schnitt geteilt. Der Major der Strecke ab bestimmt den Unterarm, der Minor den Oberarm, und der Teilungspunkt c fällt genau mit dem natürlichen Teilungspunkte des Armes, dem Ellbogengelenk, zusammen. Die Länge der Hand, von der Handwurzel bis zum ausgestreckten Finger reichend, entspricht wiederum dem Minor der Strecke ac. Die Normalgestalt der menschlichen Hand nach den Proportionen des Goldenen Schnittes veranschaulicht noch einmal Abbildung 48. Im Punkt d ist hier die natürliche Hauptteilung der Hand in Mittelhand und Vorderhand gekennzeichnet, und die Unterteilung bestimmt die Maßverhältnisse der einzelnen Fingerglieder.

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Abb. 49
Arm und Werkzeug im Goldenen Schnitt

Eine überaus interessante Beziehung nach der Regel des Goldenen Schnittes zeigt Abbildung 49. Sie zeigt den männlichen Arm in Verbindung mit der Axt, dem nächst dem Hammer ursprünglichsten und wichtigsten Werkzeug, beide in den Maßverhältnissen des Goldenen Schnittes dargestellt. An dem Arm sind durch die Proportion des Goldenen Schnittes zunächst in derselben Weise wie in unserer Abbildung 47 Oberarm, Unterarm und Hand bestimmt, und diesen Maßverhältnissen entspricht die Form der Axt, deren Stil in der doppelten Biegung ebenfalls das Teilungsprinzip des Goldenen Schnittes befolgt. So passen sich Arm und Werkzeug harmonisch aneinander an, und es hat sich herausgestellt, daß diese Form des Axtstieles die weitaus zweckmäßigste ist und die größte Arbeitsleistung bewirkt, beispielsweise eine größere, als es bei einer Axt mit geradem Stiel der Fall ist. Hier bekundet sich also die Wirksamkeit des Goldenen Schnittes in der Form der größten technischen Zweckmäßigkeit eines Werkzeuges. Gerade auf diesen Zusammenhang zwischen Goldenem Schnitt und Technik, auf die Wirksamkeit dieses Formengesetzes auch in der technischen Formgebung, hat Kapp mit besonderer Betonung hingewiesen, und er hat diesen Zusammenhang sogar zu einer eigenen »Philosophie der Technik« erweitert und in einem so betitelten Werke genauer dargelegt. An einer großen Anzahl von Beispielen sucht Kapp dort die Wirksamkeit des Goldenen Schnittes auch an anderen technischen Hilfsmitteln, Werkzeugen, Apparaten, Maschinen usw. nachzuweisen und so die Ansicht zu erhärten, daß wie am natürlichen menschlichen Körper so auch an den von dem Menschen geschaffenen künstlichen Hilfsmitteln und Vorrichtungen die technisch zweckmäßigste Form sich oftmals in den Proportionen des Goldenen Schnittes manifestiert, so oft, daß vielleicht auch der Techniker Veranlassung hätte, bei seinen Konstruktionen und Gestaltungen jenes Gesetz der Formgebung zu Rate zu ziehen. Gerade an den technischen Maßverhältnissen suchte Kapp den Beweis zu erbringen, daß die Maßverhältnisse des Goldenen Schnittes, die unserem Empfinden von Wohlgefälligkeit und Harmonie am meisten entsprechen, zugleich auch diejenigen sind, die die größte Zweckhaftigkeit der Körper, Gegenstände und Hilfsmittel gewähren, und daß dieses Gesetz wie für das Reich der organischen Lebewesen so auch für das Reich und die Schöpfungen der Technik gilt.

Man braucht Kapp in dieser weitgehenden Verallgemeinerung der Wirksamkeit des Goldenen Schnittes nicht vollkommen zu folgen und kann dennoch diesem Prinzip auch eine gewisse technische Bedeutung zuschreiben. Die Paarung von zweckmäßigster Form und äußerem befriedigenden Eindruck des Werkes kann auch technisch betätigt werden. Das eben ist ja allgemein die tiefere Bedeutung des Goldenen Schnittes als Prinzip der Formgebung, daß er dort, wo er in Erscheinung tritt, sei es an den Erzeugnissen der Natur, sei es an den Werken und Einrichtungen von Menschenhand, ein Ausdruck für die zweckmäßigste und vorteilhafteste Form des Werkes wird. In unserem Wohlgefallen an der äußeren Form der Dinge, in unserem Empfinden von Schönheit und Harmonie, das diese in uns erwecken, bekundet sich nur unser Erkennen der inneren Zweckmäßigkeit der Dinge und ihrer Gestaltungen, die viel höher steht und auch für uns viel wichtiger einzuschätzen ist als das rein ästhetische Wohlgefallen. Der menschliche Körper ist in den Teilungsverhältnissen des Goldenen Schnittes zugleich am zweckmäßigsten gebaut, und wir empfinden die idealisierten Menschengestalten von Künstlerhand, wie den Apoxyomenos, den Doryphoros und die zahllosen anderen künstlerischen Schöpfungen, an denen wir das Formenprinzip des Goldenen Schnittes nachweisen können, deswegen als besonders schöne Menschengestaltungen, weil sie uns die Formen größter Zweckmäßigkeit, größter Kraft und Leistungsfähigkeit im Bau der Menschengestalt veranschaulichen. Zweckmäßigkeit ist Schönheit, und diese Paarung ist Grund und Sinn des Goldenen Schnittes, den wir schön finden, weil er zugleich die Form der größten Zweckmäßigkeit zum Ausdruck bringt.

Aber auch wenn wir unter den Dingen, Formen und Gestaltungen unserer selbstgeschaffenen Umwelt Umschau halten, tritt uns das Gesetz der Formgebung des Goldenen Schnittes in den mannigfachsten Erscheinungsweisen entgegen, und zwar überall dort, wo die Dinge und Werke außer ihrem reinen Nützlichkeitscharakter noch den Zweck eines gefälligen Aussehens oder einer bestimmten schönheitlichen Gestaltung zu erfüllen haben, durch den sie dazu beitragen sollen, uns Wohlgefallen und Freude an unserer Umgebung empfinden zu lassen. Hier äußert sich die Paarung von Zweck und Form nach der Regel des Goldenen Schnittes oftmals als der »gute Stil« in der Gestaltung unserer Umgebung.

Vor allem ist es das Haus, das bedeutsamste Werk zur Einrichtung unserer Umwelt und Umgebung, dann in erweitertem Sinne das Bauwerk überhaupt, das im guten Stil das Bildungsprinzip des Goldenen Schnittes erkennen läßt. Für die Baukunst ist die Lehre vom Goldenen Schnitt kaum minder bedeutungsvoll geworden wie für die reine Kunst selbst. Bewußt oder unbewußt befolgt der Baukünstler das Teilungsverhältnis des Goldenen Schnittes und erreicht damit die harmonische und ästhetische Wirkung, die wir als »Baustil« bezeichnen. Von ebensolcher Bedeutung ist jene Regel auch für die Formgebung und die Maßverhältnisse der wichtigsten Gegenstände unserer Wohnungseinrichtung, der Möbel. Gleichviel ob wir die Möbel der Antike, des Mittelalters oder der heutigen Zeit betrachten, immer finden wir als vorherrschendes Prinzip der Teilung und Formengebung die Proportionen des Goldenen Schnittes vorhanden, auch hier, ohne daß die Möbelbauer jemals eine bewußte Kenntnis jener Proportionen und ihrer ästhetischen und stilistischen Bedeutung gehabt hätten. Die Tischplatte, das Stuhlformat, Schrank und Truhe sind Beispiele für das Gesagte. Das Möbel befolgt diese Proportionen, weil es in diesen am besten den Gebrauchszweck erfüllt. Der Stuhl paßt sich in jenen Proportionen am meisten der Gestalt des Sitzenden an, Schrank, Truhe, Büfett und Tisch entsprechen in diesen Proportionen am meisten der Gestalt des an ihnen hantierenden Menschen, bieten ihm so die größte Bequemlichkeit und erfüllen damit ihren Gebrauchszweck in vollkommenster Weise. Ihrer Zweckmäßigkeit wegen finden wir die Proportionen des Goldenen Schnittes am Möbelstück schön, und so äußert sich auch hier wiederum nur die Paarung von Zweck und Form, die das eigentliche Wesen des Goldenen Schnittes ausmacht.

So bekundet sich in dem Goldenen Schnitt ein Naturgesetz der Formgebung, das wir in weitem Umfange an den Schöpfungen und Gestaltungen der Natur selbst nachweisen können und das durch seine Naturbedeutung zugleich auch das waltende Schönheitsgesetz für die Werke von Menschenhand ist, das aus dem Gestaltungstrieb des Künstlers wie des Kunstgewerblers, ohne ihm bewußt zu werden, gleichsam von innen als ein immanentes Gesetz des Schaffens herausfließt und wirksam wird. Es ist die Paarung von Zweck und Form, die durch die Regel vom Goldenen Schnitt verkörpert wird, und unser Schönheitsgefühl bevorzugt die Formen und Proportionen des Goldenen Schnittes, weil diese jene Paarung am vollkommensten verbürgen. Es dürfte ohne Zweifel sein, daß Kunst und Kunstgewerbe nur gewinnen können, wenn sie jenem Naturgesetz der Formgebung wieder mehr Aufmerksamkeit zuwenden und sich ihm als einem bewußt erkannten Richtsatz anvertrauen. Damit soll keinesfalls einer absoluten, mechanischen oder gar ausschließlichen Befolgung der Regel vom Goldenen Schnitt in allen Fällen und unter allen Umständen das Wort geredet werden. Künstler und Kunstgewerbler sollen frei schaffen und sich nicht abhängig machen von irgendwelchen Prinzipien oder Gesetzen, die leicht zur Erstarrung und damit zur Unterbindung der kraftvollen Lebensentwicklung der Kunst führen können. Aber sicher ist, daß die Regel vom Goldenen Schnitt bei kluger Beschränkung als ein wertvoller Wegweiser zu dienen bestimmt und geeignet ist, den schaffenden Künstler oder Kunstgewerbler vor Mißgriffen und Verirrungen zu bewahren, wie wir sie seit Jahrzehnten wieder und immer wieder erlebt haben. In der Regel vom Goldenen Schnitt erhebt die Natur selbst ihre Stimme, die die große Lehrmeisterin der Kunst ist und immer bleiben wird, so viele und merkwürdige Strömungen und Richtungen sich auch immer wieder breitmachen, die Kunst vom Wege der Natur abzudrängen und sie zum Spielball von Stil- und Modelaunen, oftmals aber auch von Stil- und Modenarrheiten zu machen.

Im Goldenen Schnitt spricht die Natur im Rhythmus der Zahl, wird die Zahl im Sinne der alten Philosophen und vielleicht in stärkerer Weise, als wir heute zu glauben geneigt sind, zum Wesen der Dinge, soweit sie die Gesetze des Schaffens und der Formgebung anbelangen.

Postskriptum

Kritik und Zustimmung – Kunst von einst und heute – Ein sonderbarer Besuch – Goldener Schnitt und Schicksalsdeutung


Das Erscheinen des vorstehenden Aufsatzes in einer Reihe von Zeitschriften hatte das Thema des Goldenen Schnittes, über das wohl seit Jahren kaum viel gesprochen worden war, doch wieder weiteren Kreisen in Erinnerung gebracht, und eine große Anzahl von Zuschriften, besonders aus Künstlerkreisen, ist dem Verfasser in der weiteren Folge zugegangen. Alte und neue Richtung der Kunst und der verschiedenen künstlerischen Gebiete kamen darin deutlich zum Ausdruck. Ein Teil der Einsender lehnte den Goldenen Schnitt als Formgesetz der bildenden Kunst ab, weil der Künstler frei schaffen müsse und keiner Bindung in der Formgebung unterliegen dürfe; nach diesen Äußerungen gehört der Goldene Schnitt der Vergangenheit an, denn »heute schafft sich der Künstler das Gesetz der Formgebung selber«, schrieb mir ein junger Maler. Ganz gegenteilig äußerten sich andere Einsender, die ihrer Befriedigung darüber Ausdruck gaben, daß wieder einmal die Aufmerksamkeit auf den Goldenen Schnitt als Gesetz der Formgebung gelenkt worden sei, denn der sei das Mittel, um weite Kreise, bei denen heute heillose Verwirrung und Willkür in Form und Stil herrsche, wieder zum Ausgang alles künstlerischen Schaffens, zur Natur und ihrem Formenschatz zurückzuführen.

Auch dieser Aufsatz führte zu einem sonderbaren Erlebnis, das allerdings mit Kunst und Ästhetik nichts zu tun hat. Besuchte mich einstmals ein Herr, der mir sagte, daß er in einem Café meinen Aufsatz über den Goldenen Schnitt gelesen habe. Der habe ihn im höchsten Maße gefesselt und ihn Tag und Nacht beschäftigt, habe ihn zu langen Versuchen und Untersuchungen veranlaßt und schließlich zu einer neuen Erkenntnis gebracht. Der Goldene Schnitt – diese Wahrheit habe sich ihm durch seine Forschungen als endliches Ergebnis aufgedrängt – habe noch eine andere und viel höhere Bedeutung als nur die des zahlenmäßig ausdrückbaren Formengesetzes für die Kunst; er sei vielmehr der eigentlichste und natürlichste Ausdruck für das innerste Wesen des Menschen selbst, und durch ihn seien Charakter und Zukunft jedes Menschen aufs genaueste zu erkennen. Das begründete mein Besucher, der Typus des unklaren Grüblers, in folgender Weise: Vollkommen sei der Goldene Schnitt nur an der menschlichen Idealgestalt. Solche Idealgestalten gibt es nicht, sondern die Proportionen des Menschen weichen immer mehr oder weniger vom Goldenen Schnitt ab. Diese Abweichungen seien das Wichtigste, denn aus ihnen und ihrer Art lasse sich der ganze Charakter des Menschen, seine Veranlagung und seine Fähigkeiten, auch die ihm selbst unbekannten, vor allem aber auch seine Zukunft feststellen, und das mit viel größerer Sicherheit als etwa durch Lesen von Karten und Handlinien oder durch die Astrologie, über welche Disziplinen sich mein Besucher höchst abfällig äußerte. Dadurch erst erweise sich der Goldene Schnitt als die sectio divina, der Göttliche Schnitt, wie ihn die Gelehrten des Mittelalters nannten, denn durch die Deutung, die der Goldene Schnitt für Leben und Schicksal der Menschen zulasse, bringe Gott selbst seinen Willen zum Ausdruck. Zulangen Ausführungen suchte mich der neue Prophet von der Wahrheit seiner Auffassung zu überzeugen, tat alle Einwände mit kraftvoller Handbewegung ab, und teilte mir auch mit, daß er schon bei allen seinen Familienmitgliedern, Freunden und Verwandten die Richtigkeit seiner Methode mit unfehlbarer Sicherheit festgestellt habe. Es habe immer gestimmt! Er bat mich um seine Unterstützung, um die neue Lehre der Welt bekanntzumachen, was am besten durch eine Reihe von Zeitungsaufsätzen geschehen könnte. Diese Zusage konnte ich meinem Besucher nun allerdings nicht geben, und als ich gewisse Zweifel an der Richtigkeit seiner Deduktionen und seiner Lehre äußerte, bat er, zum Beweis des Gegenteils seine Kunst an mir selbst demonstrieren zu dürfen. Was blieb mir übrig, als ihm seinen Willen zu tun! Hände und Kopf stellte ich ihm für seine mystische Kunst gutwillig zur Verfügung, und mit Meßstab und Tabelle – er hatte die Sache schon in eine komplette und vielgegliederte Methode gebracht – ging er an die Deutung meines inneren und zukünftigen Menschen. Manches, was er mir über mich selbst berichtete, war sehr richtig, anderes war mir neu und interessant, – man freut sich schließlich immer, sich auch einmal näher kennenzulernen. Über mein ferneres Schicksal, das er mir prophetischen Blickes ziemlich detailliert ankündigte, erlaubte ich mir allerdings andere Vermutungen zu haben. Als er schließlich, um seine Untersuchungen noch weiter und genauer ausdehnen zu können, um Entkleidung ersuchte, als ob er ein Oberstabsarzt wäre, da lehnte ich das denn doch ab, und gab auch meiner Skepsis über den Wert seiner Methode ziemlich deutlichen Ausdruck. Darauf verließ er mich, zwar merkbar herabgestimmt über meinen inneren Menschen, aber doch nicht, ohne mir einen wortreichen Dank abzustatten, daß ich ihm durch meine Aufsätze über den Goldenen Schnitt den Weg zur tieferen Erkennung und Wertung dieses göttlichen Gesetzes gewiesen habe. – Ich bin fest überzeugt, daß der gute Mann es zu einer Gemeinde bringen wird, was allerdings nicht die Absicht meines Aufsatzes gewesen war. Aber als Zeichen, wie heute neue Propheten entstehen, sei auch dieses Erlebnis mitgeteilt.


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