Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Streit um den Sinn der Zahlen – Die Richardsche Antinomie – Nichtabzählbare Mengen – Größer als unendlich – Das Diagonalverfahren – »Putschisten« und Formalisten in der Mathematik – Ein Bevölkerungsproblem und seine Lösung – Auch ein Problematiker
»Vom Sinn der Zahlen« hat Oswald Spengler das erste Kapitel seines vielgelesenen Werkes über den Untergang des Abendlandes überschrieben. Hier setzt er sich mit den Begriffen und Methoden der heutigen Mathematik, die ja für die Denkungsweise der heutigen exakten Wissenschaft überhaupt in vielfacher Hinsicht maßgebend sind, auseinander und übt scharfe Kritik an ihnen. Der Erfolg dieses Bemühens war ein verblüffender, für Spengler nämlich. Eine ganze Anzahl berufener Fachleute trat für die bedrängte Mathematik auf den Plan, zerzauste die mathematischen Ideen des Untergangspropheten mit aller nur wünschenswerten Gründlichkeit und wies nach, daß diese kaum höher einzuschätzen sind als die Argumente jener Problematiker, die heute noch immer die Quadratur des Kreises möglich machen oder ähnliche Probleme lösen wollen, die von den Mathematikern schon längst erledigt sind. Die schwerste Abfuhr hat ihm wohl der bald danach leider verstorbene ausgezeichnete Mathematiker Gerhard Hessenberg erteilt. Der hat in einer kleinen, ebenso wie jenes Kapitel des Spenglerschen Buches betitelten Schrift mit gründlichster Sachkenntnis und zugleich – eine überaus große Seltenheit in der mathematischen Literatur – mit famosem Humor, überzeugend für jeden, der überhaupt etwas von der Sache versteht, dargelegt, daß die Begriffe und Ideen, die Spengler von den Dingen der Mathematik hegt, den Sinn der Zahlen – gelinde gesagt – in sein Gegenteil verkehren. Kein Zweifel, daß die mathematischen Ausführungen Spenglers der weitaus schwächste und angreifbarste Teil seines Werkes sind, und wenn seine Argumente auf anderen Gebieten nicht stichhaltiger sind, so kann man für den Bestand des Abendlandes wohl bis auf weiteres ohne Sorgen sein.
Freilich, es ist ein eigenes Ding um den Sinn der Zahlen. Um den streiten sich gegenwärtig die Mathematiker selbst so heftig, daß sie sich gegenseitig, wenn auch nicht gleich Diebe und Mörder, so doch Formalisten und – Putschisten nennen. Wie ja Vernunft überhaupt Unsinn werden kann, so auch die Zahl, was immer dann der Fall ist, wenn ein zahlenmäßig errechnetes Ergebnis bei aller äußeren formalen Richtigkeit mit der Wirklichkeit der Dinge in mehr oder weniger krassen Widerspruch gerät. Die berühmten Trugschlüsse und Paradoxien in mathematischem Gewande, wie etwa der »Achilleus«, in welchem haarscharf bewiesen wird, daß ein Schnelläufer niemals eine Schildkröte einholen kann, sofern diese einen Vorsprung vor ihm hat, sind ebenso überzeugende wie erheiternde Beweise des Gesagten, und wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die rechnende Menschheit Jahrhunderte und Jahrtausende gebraucht hat, um aus diesem selbstgeschaffenen Irrgarten der Zahlen wieder herauszufinden, so wird damit zur Genüge erhärtet, daß sich der Sinn der Zahlen auch anderwärts noch in sein Gegenteil verkehren kann.
Aber nicht nur die Zahlenkunst der Alten, auch die heutige Mathematik hat Beispiele geschaffen dafür, daß man über den Sinn der Zahlen manchmal zum mindesten sehr verschiedener Ansicht sein kann. Auch sie hat Trugschlüsse und Antinomien nach Art des »Achilleus« ausgeheckt, die den heutigen Zahlengelehrten nicht weniger Kopfschmerzen bereitet haben wie den Sophisten zu Zenos Zeiten die ihrigen. Ein Beispiel dieser Art ist die sogenannte Richardsche Antinomie, bei der es sich um die Definierbarkeit der Zahlen handelt. Diese Antinomie wird in einfachster Form in folgender Weise dargestellt: Jede Zahl läßt sich durch eine endliche Anzahl von Worten in eindeutiger Weise definieren. Beispielsweise kann die Zahl 1 definiert werden als »die kleinste aller positiven ganzen Zahlen«, die Zahl 2 etwa als »die einzige gerade Primzahl«, die Zahl 97 als »die größte Primzahl unter Hundert«, die Zahl 1000 als »die kleinste vierstellige Zahl« usw., und jede dieser Definitionen besteht aus einer endlichen Anzahl von Worten. Wir wollen nunmehr die Gesamtheit derjenigen ganzen Zahlen ins Auge fassen, von denen keine mit nur zwölf Worten zu definieren ist. Unter diesen Zahlen muß es eine kleinste Zahl geben, sie werde x genannt. Diese Zahl x können wir dann definieren als »die kleinste ganze Zahl, die nicht mit zwölf Worten definiert werden kann«. Wenn wir uns aber diesen Satz ansehen, so finden wir, daß er gerade aus zwölf Worten besteht. Der Satz ist also einerseits eine eindeutige, aus zwölf Worten bestehende Definition der Zahl x, besagt andererseits aber zugleich, daß diese Zahl mit zwölf Worten nicht definiert werden kann. Das ist ein merkwürdiger Widerspruch, und es hat ganz den Anschein, als ob die eindeutige Definition der Zahlen eine höchst zweideutige Sache sei. Die Mengentheoretiker haben sich mit diesem Widerspruch jedenfalls eingehend beschäftigt.
Die Auflösung dieses Widerspruches ist jedoch in derselben Weise wie bei den bereits früher behandelten Paradoxien, etwa dem Krokodilsschluß, dem »Lügner«, der Russischen Antinomie von der Menge, die sich selbst enthält usw. möglich. Wie bei jenen Paradoxien finden wir auch hier den Grund in einer Verschiebung oder Verwechslung der bei der angegebenen gedanklichen Operation verwandten Begriffe. Es werden hierbei »Definition«, und »Bezeichnung« verwechselt. Der inkriminierte Satz über die Zahl x ist keine Definition, sondern nur eine Bezeichnung oder Benennung dieser Zahl. Definiert ist lediglich eine Klasse von Zahlen, nämlich diejenigen, die nicht mit höchstens zwölf Worten bezeichnet werden können; der inkriminierte Satz aber ist keine neue Definition, sondern nur eine Bezeichnung einer einzelnen Zahl aus jener Klasse. Die Bezeichnung eines Dinges aber kann niemals einen Widerspruch zur Definition jenes Dinges enthalten. Angenommen, wir haben eine Definition für den Begriff der Farbe, so ist der Ausdruck »die rote Farbe« keinesfalls eine neue Definition, sondern lediglich die Bezeichnung eines einzelnen unter den verschiedenen Dingen, die unter jenen Begriff fallen. So wenig wie die gewählte Bezeichnung »die rote Farbe« einen Widerspruch gegen den Begriff der Farbe enthalten kann, so wenig ist das bei der angeführten Bezeichnung der Zahl x der Fall. Ist auch die begriffliche Verwechslung, die in der Darstellung der Richardschen Antinomie obwaltet, eine sehr versteckte, so ist sie doch nachweisbar und löst den Widerspruch restlos auf. Die Mengentheorie selbst sucht allerdings diesen Widerspruch in derselben Weise wie die anderen mengentheoretischen Paradoxien dadurch zu lösen, daß sie die Eigenschaft, die jener Satz aussagt, als »nicht definit«, d. h., als nicht eindeutig bestimmt, erklärt, wodurch der ganze Satz sinnlos wird. Das Verfahren kommt auf dasselbe wie die Analyse nach den Methoden der alten Logik heraus.
Von ungleich größerer Tiefe und Schwierigkeit ist ein anderes und höchst eigenartiges Problem, bei dem es sich ebenfalls um den Sinn der Zahlen handelt, aber diesmal nicht in Form eines mehr oder weniger kuriosen Widerspruches oder Trugschlusses, sondern einer sehr gründlichen und tiefen Überlegung. Wir wollen versuchen, dieses Problem auch dem Nichtmathematiker verständlich zu machen.
Auf unserer Zahlenreihe 1, 2, 3, 4, 5 … usw. liegt immer eine gerade Zahl neben einer ungeraden. Wir fragen: Gibt es in der Zahlenreihe mehr gerade oder ungerade Zahlen? Die Antwort ist leicht und lautet, daß es ebensoviel gerade wie ungerade Zahlen geben muß. Denn ich kann jeder geraden Zahl immer eine danebenliegende ungerade Zahl zuordnen oder umgekehrt jeder ungeraden Zahl eine danebenliegende gerade, und da ich das mit jeder geraden oder ungeraden Zahl machen kann, so muß es eben von jeder der beiden Zahlenarten genau soviel geben wie von der anderen. Nunmehr fragen wir: Ist die Anzahl aller Zahlen vielleicht größer als die Anzahl aller derjenigen Zahlen, die durch 3 teilbar sind? Diese Frage wird vielleicht einiges Nachdenken erfordern und dann zu folgender Argumentation führen: Innerhalb eines bestimmten Bereiches der Zahlenreihe, etwa in dem Zahlenraum von 1 bis 1 000 000, ist selbstverständlich die Anzahl aller Zahlen überhaupt größer als diejenige der durch 3 teilbaren Zahlen, und Entsprechendes gilt für jeden und auch den größten Zahlenraum. Aber wir fragten nicht nach der Anzahl solcher Zahlen innerhalb eines bestimmten, wenn auch noch so groß angenommenen Bereiches, sondern innerhalb der gesamten unendlichen Zahlenreihe selbst. Wie verhält es sich also in dieser? Darauf ist zu antworten: Innerhalb der unendlichen Zahlenreihe selbst kann ich zu jeder beliebigen Zahl immer eine solche ausfindig machen oder konstruieren, die dreimal größer ist als jene, und da das, wie gesagt, bei jeder Zahl möglich ist, so kann innerhalb der unendlichen Zahlenreihe selbst die Menge aller Zahlen überhaupt nicht größer sein als die Menge der durch 3 teilbaren Zahlen. Von diesen wie von jenen gibt es eben unendlich viele und damit von jeder Art gleich viele, denn zwischen Unendlichkeiten gibt es keine Unterschiede.
Nun aber stellen wir die Kardinalfrage, um die es sich bei unserem Problem handelt: Kann es wohl in der Welt irgendeine Menge von Dingen, konkreter oder abstrakter, also greifbar wirklicher oder nur gedachter, Dinge, geben, die noch größer ist als die Menge der Zahlen in der unendlichen Zahlenreihe? Die also so groß wäre, daß es nicht genug Zahlen gäbe, um sie abzuzählen? Nach angestrengtem Nachdenken, dessen diese Frage wert ist, wird der Leser jedenfalls auch diese entschieden verneinen. Denn da die Menge der Zahlen selbst unendlich groß ist, muß sie auch zum Abzählen jeder noch so großen Menge von Dingen ausreichen. Größer als unendlich groß kann auch eine solche Menge von Dingen nicht sein, also auch nicht größer als die unendliche Menge der Zahlen, die daher auch zum Abzählen jeder anderen nur denkbaren Menge von Dingen ausreichend sein muß. Diese Folgerung erscheint auch dem kritisch geschärften Verstande als absolut sicher und einwandfrei.
Aber dieser Folgerung stimmt die moderne Mathematik nicht zu. Sie kennt Mengen oder glaubt doch solche ausfindig gemacht zu haben, die noch größer als unendlich sind und für die die unendliche Zahlenreihe, um solche Mengen abzuzählen, nicht ausreicht d. h. nicht genug Zahlen hat. Solche Mengen werden als nichtabzählbare Mengen bezeichnet. Beispielsweise ist nach dieser Auffassung die Menge aller reellen Zahlen eine solche nichtabzählbare Menge und viel größer als die Menge der ganzen Zahlen innerhalb der Zahlenreihe. Zu der Menge aller reellen Zahlen gehören außer den ganzen Zahlen selbst noch alle überhaupt möglichen periodischen und nichtperiodischen Dezimalbrüche, die wir ja in beliebiger, sogar unendlicher Anzahl immer zwischen je zwei ganze Zahlen einschalten können. Zu jeder der unendlich vielen ganzen Zahlen gehört also eine Unendlichkeit von periodischen und nichtperiodischen Dezimalbrüchen, und die Gesamtheit aller dieser Unendlichkeiten, die die Menge aller reellen Zahlen überhaupt darstellt, also soll noch größer als unendlich sein. Während wir, wie dargelegt, jeder durch 3 teilbaren Zahl eine von ihr verschiedene ganze Zahl aus der Zahlenreihe zuordnen oder auch umgekehrt jeder ganzen Zahl der Zahlenreihe eine von ihr verschiedene durch 3 teilbare Zahl zuordnen und damit beweisen können, daß die Menge dieser gleich der Menge jener, nämlich unendlich, ist, ist nach der dargelegten Auffassung zwischen der Menge der ganzen Zahlen unserer Zahlenreihe einerseits und der Menge aller reellen Zahlen überhaupt andererseits eine solche eindeutige Zuordnung nicht möglich; es gibt nicht genügend ganze Zahlen, um jeder der reellen Zahlen eine eigene ganze Zahl zuzuordnen. Die Menge der reellen Zahlen ist von einer anderen, viel mächtigeren Art der Unendlichkeit als die Menge der ganzen Zahlen. Zu dieser Folgerung führt die Mengentheorie, der jüngste Zweig der modernen Mathematik, der aber trotzdem von grundlegender Bedeutung für die gesamte mathematische Wissenschaft geworden ist. Der Beweis für jene Folgerung oder Behauptung, daß also die Menge der reellen Zahlen von einer größeren Art der Unendlichkeit ist als diejenige der nur ganzen Zahlen, wird vermittels einer eigentümlichen arithmetischen Operation geführt, die als Diagonalverfahren bezeichnet wird und in der Mengentheorie eine große Rolle spielt.
Das sind nun freilich Folgerungen und Begriffe, die mit keiner menschlichen Vorstellung vereinbar scheinen. Der Normalmensch wird vielleicht geneigt sein anzunehmen, daß Mengen, die noch größer als unendlich sein sollen, wiederum einen der Fälle darstellen, wo sich der Sinn der Zahlen in sein Gegenteil verkehrt. So wenig die Menge aller ganzen Zahlen größer sein kann als die Menge aller durch drei teilbaren Zahlen, so wenig kann irgendeine Menge, also auch die Menge aller reellen Zahlen, mehr Elemente enthalten als die Menge der unendlich vielen ganzen Zahlen, – das scheint eine unabweisliche Forderung selbst des kritisch geschärften Verstandes zu sein. Aber gegen diese Forderung operiert die Mengentheorie zur Begründung und Stützung ihrer gegenteiligen Auffassung mit bestimmten Tatsachen und Folgerungen, die nicht weniger unabweisbar zu sein scheinen. So liegt hier denn ein Problem vor, das zu den tiefsten und schwierigsten, allerdings auch zu den umstrittensten Fragen der heutigen Mathematik gehört. Denn auch viele Mathematiker lehnen den Begriff von Mengen, die von noch größerer Mächtigkeit als die Unendlichkeit selbst sein sollen, ab, weil mit solchen Mengen ein Sinn überhaupt nicht mehr verbunden werden kann, ebenso wie sie auch das Diagonalverfahren als nicht genügend beweiskräftig ablehnen. Heute herrscht gerade über diese Fragen ein großer Streit unter den Mathematikern, und die Opposition gegen die Mengentheorie war es, die vor einiger Zeit bei Gelegenheit eines Mathematikerkongresses Professor David Hilbert, den gegenwärtig wohl bedeutendsten Mathematiker der Welt, den »Neuen Euklid«, wie man ihn ehrend bezeichnet hat, veranlaßte, jene schnöden Oppositionsgeister temperamentvoll als »Putschisten« zu stigmatisieren, als Umstürzler, die gegen alles Bestehende in der Mathematik Sturm laufen. So ist auch hier der Streit über Sinn oder Unsinn der Zahlen in vollem Gange, und der Temperamentsausbruch des genannten berühmten Gelehrten ist dafür ein ebenso drastisches wie bezeichnendes Beispiel, das bereits mit Betonung und Behagen in die Geschichte der Mathematik eingetragen wurde.
Weniger vom Geiste hoher Wissenschaftlichkeit und Gedankentiefe durchtränkt, sondern mehr ein scherzhaftes Beispiel dafür, daß Sinn und Unsinn der Zahlen manchmal dicht beieinander wohnen können, ist ein Trugschluß neueren Datums, dessen geistiger Vater unbekannt ist. Auch läßt er sich ohne Schwierigkeiten restlos lösen, mag aber dennoch manchem Kopfzerbrechen bereiten. Es handelt sich um ein Bevölkerungsproblem in arithmetischem Gewande. Die Anzahl der heute lebenden Menschen wird mit rund 1,8 Milliarden angegeben. Stellt man die Frage, ob heute mehr Menschen leben als zur Zeit der Geburt Christi oder umgekehrt, so wird jeder wohl ohne weiteres das numerische Übergewicht unserer Zeit über jene betonen. Denn aus allen geschichtlichen Mitteilungen können wir entnehmen, daß früher die Menschheit viel dünner gesät gewesen sein muß als heute, und um so dünner, je weiter wir in der Geschichte zurückgehen. Berlin, heute eine Viermillionenstadt, hat zur Zeit Friedrichs des Großen noch keine hunderttausend Einwohner gezählt und ganz Preußen damals nur etwa so viel Köpfe wie seine Hauptstadt heute. Wie mag es da also erst bei Beginn unserer Zeitrechnung mit der Anzahl der Menschen ausgesehen haben! Außerdem weist die Statistik nach, daß innerhalb einer Generation immer mehr Menschen geboren werden als sterben, und der generationsweise Zuwachs läßt sichere Schlüsse auf die viel geringere Bevölkerungsdichte auf unserem Erdball in früheren Jahrtausenden zu, selbst wenn wir Krieg und Pestilenz, ja den Untergang ganzer Völker in Rechnung stellen. Also zur Zeit Christi hat es zweifellos weniger, sogar viel weniger Menschen als heute auf dem Erdenrund gegeben.
Aber gegen diese Behauptung kann der Mathematiker die folgende Gegenrechnung aufmachen: Irgendein Zeitgenosse, sagen wir Herr X., hat, wie jeder normale Mensch, zwei Eltern; von diesen hatte jeder auch zwei Eltern, also hatte Herr X vier Großeltern oder, wie wir es ausdrücken wollen, in der zweiten Generation vor ihm 2 2 Ahnen. Da auch jeder der Großeltern mit einem Elternpaar gesegnet sein muß, hat Herr X. in der dritten Generation vor ihm 2 3 = 8 Ahnen, in der nächstfrüheren Generation kann er bereits 2 4, dann 2 5 usw. Ahnen zählen. Mit jeder Generation weiter zurück verdoppelt sich die Zahl seiner Ahnen. Rechnen wir nun, daß seit Christi Geburt rund zweiunddreißig Generationen verflossen sind, so beträgt die Zahl der Ahnen unseres Herrn X. aus jener Zeit 2 32. Das aber gibt die stattliche Anzahl von 4 1/ 3 Milliarden, also weit über das Doppelte der heutigen Menschheitsziffer. Wenn also schon der einzelne Herr X. weit mehr als das Doppelte der heutigen Bevölkerungsziffer an Ahnen zur Zeit Christi zählen kann, dann muß es damals doch wohl auf alle Fälle viel, viel mehr Menschen als heute gegeben haben. Quod erat demonstrandum! Da staunt der Laie, und selbst der Fachmann stutzt, und mit dieser Rechnung soll einst ein Kandidat der Mathematik, der sich in Volkswirtschaft als Nebenfach prüfen ließ und über das besagte Bevölkerungsproblem Auskunft geben sollte, den Examinator so schachmatt gesetzt haben, daß der den Examinanden auf der Stelle mit glänzender Note entließ, nur um den unheimlichen Rechner, der alle Volkswirtschafts- und Bevölkerungstheorien über den Haufen schmiß, schleunigst loszuwerden.
Aber selbstverständlich hat der Bevölkerungstheoretiker recht und jene mathematische Potenzrechnung ein Loch, durch das sie in einen leicht zu durchschauenden Widerspruch mit der Wirklichkeit der Abstammungsverhältnisse gerät. Sie macht nämlich implizite die Annahme, daß die männlichen und weiblichen Vorfahren des Herrn X. in jeder Generation vollständig blutsfremd gewesen seien. Diese Annahme aber ist falsch und mit der Wirklichkeit sogar unverträglich. Schon die Eltern unseres Herrn X. könnten Cousin und Cousine gewesen sein, die von einem gemeinsamen Großelternpaare abstammten, so daß unser Herr X., von dem wir ausgingen, in der betreffenden Generation nicht acht Urgroßeltern gehabt hätte, wie es nach jener Potenzrechnung der Fall hätte sein müssen, sondern nur sechs. Wenn nun auch Heiraten unter Enkelkindern noch verhältnismäßig selten sind, so nehmen sie doch unter den Nachkommen früherer Ahnenstufen immer mehr zu; wenn auch die Blutsverwandtschaft dabei immer dünner wird, verschwindet sie natürlich doch niemals ganz. Unter den vielen Tausenden von Nachkommen eines Ehepaares in der zehnten Ahnenstufe würden schon zahlreiche Heiraten stattfinden, ohne daß die Verheirateten von der gemeinsamen Abkunft und ihrer Blutsverwandtschaft überhaupt noch etwas wüßten. Während also jene Potenzrechnung infolge ihrer falschen Annahme zu der Folgerung führt, daß mit jeder früheren Generation die Zahl der Ahnen unseres Herrn X. wächst, wird diese gerade umgekehrt von einer bestimmten Ahnenstufe an immer geringer und führt schließlich auf ein einziges Ahnenpaar in der letzten Generationsstufe. Verfolgen wir die Rechnung in umgekehrter Reihenfolge, so könnten von einem Ehepaar X. senior, das zur Zeit der Geburt Christi lebte, heute Millionen Nachkommen vorhanden sein; unser Herr X. junior und seine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und die Ahnen noch vieler weiterer Generationsstufen gehörten zu diesen Nachkommen, ohne daß bei allen diesen noch die geringste Kenntnis der gemeinsamen Abstammung vorhanden gewesen sein müßte, zumal sie über alle Länder und Erdteile zerstreut gewesen sein könnten und das zum großen Teil auch sein würden. Tatsächlich führt so der Baum der Abstammung nach anfänglicher Verbreiterung der Baumkrone zu einer sich immer mehr verengenden Spitze und schließlich zu einem letzten Ahnenpaar als Gipfelpunkt. Die Potenzrechnung der dauernd blutsfremden Ahnen steht also mit der Wirklichkeit in klaffendem Widerspruch, und aus ihr folgt mit Gewißheit nur das eine, daß wir Menschen hier auf Erden, so fremd wir uns auch nach Familie, Ursprung und Rasse gegenüberstehen mögen, doch alle miteinander irgendwie blutsverwandt sind. Denn wäre es anders, so hätte jene Potenzrechnung recht, und dann hätten zu Christi Zeit viel mehr Menschen als heute vorhanden gewesen sein müssen. Ob allerdings die ganze Menschheit letzten Endes nur von einem einzigen Ahnenpaare oder mehreren oder vielen abstammt, darüber sind sich die Gelehrten noch nicht ganz einig.
Noch zahlreiche andere Beispiele und Fälle ließen sich anführen, wo, bald scherzhaft, bald ernstgemeint, sich Sinn und Unsinn der Zahlen begegnen. Auch die große Zahl rechnerischer oder mathematischer Scherzaufgaben, bei denen sich die Wirklichkeit der Verhältnisse immer als wesentlich anders herausstellt, als es nach dem rein rechnerischen Ergebnis der Aufgabe sein dürfte, gehört hierher, und an anderer Stelle dieses Buches werden wir dem Leser eine Anzahl solcher Scherzaufgaben unterbreiten, in denen die Zwiespältigkeit von Sinn und Unsinn zum Humor der Zahlen wird. Als Beitrag zu diesem Kapitel sei noch der folgende Fall angeführt. Mich ersuchte schriftlich einmal ein Herr, der sich als Bauingenieur bezeichnete, mir ein mathematisches Problem unterbreiten zu dürfen, mit dem er sich seit über fünfzig Jahren beschäftigt habe und dessen Lösung ihm jetzt endlich geglückt sei. Er bat um eine gutachtliche Äußerung über Wert und Richtigkeit der Lösung, um diese gegebenenfalls einer mathematischen Zeitschrift zur Veröffentlichung zu übergeben. Und um was handelte es sich bei dem Problem? Um die Frage – man höre und staune – warum eine 6 umgekehrt eine 9 ergebe! Das war das Problem, das den Ärmsten seit fünfzig Jahren nicht schlafen ließ. Das Schreiben war keinesfalls scherzhaft gemeint, sondern verriet vollen Ernst des Absenders, der nach seinem Beruf ja auch ein Mann von wissenschaftlicher Bildung sein mußte. Ich muß gestehen, daß ich zunächst längere Zeit verblüfft war, ehe ich mich entschloß, den Fall in jenes Kapitel einzureihen, in dem sich Sinn und Unsinn der Zahlen friedlich mischen. Ich schrieb dem Fragesteller zurück, daß die Lösung des Problems über meine Kraft gehe, und verwies ihn an die Adresse eines Universitätslehrers der Mathematik an seinem Wohnort. Ob der die Sache anders beurteilt hat, weiß ich nicht. Der Fall lehrt, daß die Zahlen manchen Köpfen auch dort Rätsel aufgeben, wo wirklich keine vorhanden sind, daß aber selbst in solchen Fällen der Sinn der Zahlen sich in sein Gegenteil verwandeln kann.