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So ging es unter beständigem neuen Staunen und Bewundern durch die Straßen und Gassen der schweigenden Stadt ihrem Mittelpunkte zu.
Eva war ein wenig zurückgeblieben und Ernst Frank blickte sich nach ihr um, ehe er, den anderen nach, in die nächste Straße einbog. Als das Mädchen ihn warten sah, kam es herbei, neigte das rosige Mündchen zu seinem Ohr und flüsterte leise, als könnten die anderen es sonst hören: Du! Denke nur, ich habe meine Puppe verloren! Ich bog vorhin dort in die Seitengasse ein, um die schönen Steinbilder genauer zu betrachten, die ich darin erblickte. Schon von weitem ganz in den reizenden Anblick versunken, achtete ich nicht auf den Weg. Da stolperte ich und geriet mit einem Fuß in eine Öffnung im Pflaster, die wahrscheinlich in einen Abwasserkanal führt, denn ich sah einen dunkeln Gang gähnen, der schräg hinab unter die Erde führte. Dort muß mir die Puppe entfallen sein, die ich unter meiner Bluse trug, an meinem Herzen. Eben erst habe ich den unersetzlichen Verlust bemerkt und gehe, sie holen.«
Sie sagte dies jetzt laut mit schelmischer Stimme, denn sie sah, daß niemand mehr in der Nähe war. O diese liebe, lustige Silberglockenstimme! Wie lange hallte sie noch in Ernsts Ohren nach, als er sie nicht mehr vernehmen durfte!
Natürlich wollte er Eva begleiten und ihr suchen helfen; aber sie bat ihn, rasch die übrige Gesellschaft einzuholen und die Herren zu unterhalten, damit ihr Zurückbleiben nicht bemerkt werde. »Ich bin ja gleich wieder da,« fügte sie hinzu: »Es soll niemand wissen, daß ich mein Püppchen immer so bei mir trage. Ich muß es doch sofort wieder finden, und in der ganzen Stadt ist ja kein lebendes Wesen außer uns und den Vögeln auf den Dächern: Schutz brauche ich also keinen.«
Das waren die letzten Worte, die Ernst aus Evas Mund vernahm. Er glaubte, es lasse sich nichts dagegen einwenden und tat ihr den Gefallen, vorauszueilen. Wie bitter bereute er das hernach, als es leider zu spät war!
Bald war der Hauptplatz in der Mitte der Stadt erreicht, und Münkhuysen nahm wieder das Wort: »Sehen Sie, meine Herren,« sagte er: »Wie groß ist doch dieser Platz, und trotzdem, welch traulichen, anheimelnden Eindruck erweckt er! Nach allen Seiten hin scheint er abgeschlossen, nirgends sieht man in eine Straße hinein, so viele ihrer auch hier münden. An einzelnen Stellen dringt der Blick in diese Mündungen, aber nie mehr als in eine aus einmal, und dann verliert er sich nicht in einer endlosen Zufahrt, sondern findet auch hier sogleich einen wohltuenden Abschluß, weil die Straßen nicht geradlinig verlaufen. Keine gähnende Leere lenkt das Auge von den herrlichen Bauten ab, die den Platz umkränzen. Und das ganze Geheimnis dieser anmutenden und wahrhaft künstlerischen Wirkung ist, daß die Zugänge alle in verschiedener Richtung auf den Platz münden, einander nirgends gegenüberliegen und daß die Verlängerung ihrer Linien nirgends seinen Mittelpunkt schneidet, so daß dieser vom Verkehr unberührt blieb und ein ungestörtes Sichversenken in all die Schönheit ringsum ermöglichte. Auch haben die kunstsinnigen Erbauer die Brunnen, Säulen und Denkmale nicht aus die Fläche verlegt, sondern an ihre Ränder, so daß sie selber frei blieb und unbehinderte Ausschau nach allen Seiten gestattet; darum wirkt auch die Pracht des Hintergrundes so ruhig und umso überwältigender.«
An dem einen Ende dieses großartigen Platzes ragte die bekannte hohe Säule, umgeben von einem kunstvoll gearbeiteten Gitter aus gediegenem Golde. Es stellte sich bald heraus, daß diese Säule den genauen Punkt des Südpols bezeichnete, und der Kapitän also gar nicht so unrecht hatte, sie als die Erdachse zu bezeichnen, abgesehen davon, daß sie eben nur auf dieser ruhte und nicht die Erde bis zum Nordpol durchdrang.
Mit dem erhebenden Gefühl, ein langersehntes Ziel erreicht zu haben, näherten sich unsere Freunde diesem außerordentlichen Wahrzeichen.
»Hier, meine Herren, ist die Erdachse,« erklärte Kapitän Münchhausen feierlich: »Aber ich warne Sie, daß keiner aus Vorwitz das goldene Gitter überklettere. Bei meiner ersten Südpolexpedition, bei welcher ich als erster den Südpol erreichte, was mir hernach die wissenschaftliche Welt nicht glauben wollte, war einer meiner Matrosen so unvorsichtig und eitel, daß er den Ruhm in Anspruch nehmen wollte, als Erster die Erdachse erklettert zu haben. Glücklicherweise kletterte ihm noch ein zweiter in die Umfriedigung nach; denn kaum hatte der erste die Erdachse erreicht und rief aus: ›Ich als erster …‹ so stand ihm auch schon die Sprache und der Verstand still und sein Herzschlag stockte. Ich hatte die Geistesgegenwart, seinem Kameraden sofort zuzurufen, er möge den Unglücklichen schleunigst aus der Nähe des toten Punkts wegreißen. Dies geschah, und so kam der naseweise Bursche von der Stätte des völligen Stillstandes noch mit dem Leben davon, und beide kletterten schleunigst über das Schutzgitter zurück.«
»Ja was soll denn da lebensgefährlich sein?« fragte Maibold spöttisch.
Der Kapitän aber erwiderte dumpf: »Die Erdachse ist der Punkt des Todes! Da gibt es keine Bewegung, folglich auch kein Denken, keinen Pulsschlag, kein Leben mehr: sie ist die einzige bewegungslose Linie der Erde; hingegen muß die Lebensdauer in der Nähe des Pols eine ungeheuer lange sein, weil sich hier die Erde am langsamsten dreht; findet man doch umgekehrt die frühreifsten und raschlebigsten Völker in den Breiten, wo sich die Erdoberfläche am schnellsten bewegt, weil sie von der Achse am weitesten entfernt ist.«
Allgemeine Heiterkeit belohnte diesen neuen Scherz des Schalks, Maibold aber meinte: »Ich denke, die Erde dreht sich hier mit rasender Geschwindigkeit!«
»Ein Trugschluß, mein lieber Doktor,« sagte Münkhuysen lächelnd: »Mein Vetter hat recht. Bekanntlich dreht sich die Erde in etwa vierundzwanzig Stunden um sich selbst, oder um ihre Achse, wie man sich auszudrücken pflegt. Jeder Stab dieses Gitters, das etwa dreißig Meter im Umfang hat, braucht also vierundzwanzig Stunden, um die Achse zu umkreisen, das heißt um die kurze Strecke von dreißig Metern zu durchmessen. Die Säule dreht sich natürlich mit und braucht die gleiche Zeit zu einer völligen Wendung. Die Mittellinie der Säule jedoch, die freilich nur eine gedachte Linie ist und die der verlängerten Erdachse entspricht, haben wir uns als völlig unbeweglich zu denken. Je näher ein Punkt dieser Mittellinie steht, desto geringer ist der Kreis, den er innerhalb vierundzwanzig Stunden zu beschreiben hat, desto langsamer verläuft demnach seine tägliche Umdrehungsbewegung. Umgekehrt, schlagen Sie etwa einen Pfahl in die Äquatorlinie ein, so braucht er zwar ebenfalls vierundzwanzig Stunden, um eine völlige Umdrehung der Erdkugel mitzumachen; da jedoch die Erde hier vierzigtausend Kilometer Umfang hat, so legt er in dieser Zeit die ungeheure Strecke von vierzigtausend Kilometern zurück. Dort ist die Geschwindigkeit der drehenden Fortbewegung der Erdoberfläche mit allem, was darauf ist, eine geradezu rasende, nämlich mehr als sechzehnhundertsechsundsechzig Kilometer in der Stunde und gegen achtundzwanzig Kilometer in der Minute.«
»Aber natürlich!« rief jetzt der Doktor: »Nein! wie konnte ich nur so dumm sein! Die Sache ist ja ganz klar, das ist ja selbstverständlich!«
»Trösten Sie sich,« sagte Mäusle: »Genau so dumm, wie Sie sich schelten, sind auch noch andere, die unüberlegte Behauptungen aufstellen oder wirrköpfig sind. So las ich im ›Simplizissimus‹ sowohl wie auch im ›Kladderadatsch‹ von der rasend schnellen Bewegung der Erde an den Polen, die nichts deutlich erkennen lasse, und das war unfreiwillige Komik in beiden Blättern: die Verfasser dieser lächerlichen Scherze stellten sich tatsächlich vor, die Drehung der Erdachse sei eine überaus geschwinde und die Ruhepunkte befänden sich am Äquator. Und die Schriftleiter der beiden ätzenden Witzblätter, die jeden kleinen Irrtum und jede wissenschaftliche Entgleisung, die unter Umständen wissenschaftlicher ist als die herrschende wissenschaftliche Meinung, mit Spott und Hohn zu übergießen pflegen, zeigten sich auch nicht befähigt, den groben Bock zu erkennen, sonst hätten sie sich gehütet, sich durch Veröffentlichung eines derartigen Blödsinns bloßzustellen. Eigentlich ist es ja unbegreiflich, wie man auf einen solchen Irrtum verfallen kann, aber solche unklare Begriffe über die einfachsten Verhältnisse unseres Planeten sind weiter verbreitet, als man denkt, auch unter denen, die sich für gebildet halten.«
So! Da konnte sich der windige Doktor wieder dran halten! Der Schwabe, den Maibolds Spott über den Schöpferglauben im Heiligsten gekränkt hatte und der mit seinem scharfen Geiste die ganze Beschränktheit der Gottesleugnung klar erkannte, verschonte den Spötter nicht mehr mit bissigen Bemerkungen, so gutmütig er sonst war.
Ernst geriet unterdessen in immer größere Unruhe, weil Eva so lange ausblieb. Immer wieder schaute er in der Richtung aus, von der man gekommen war, ob sie noch nicht erscheine, aber vergeblich. Sollte sie sich verirrt haben in der großen Stadt, die sich vom Hauptplatze aus nach allen Richtungen fünf Kilometer, also eine Stunde weit ausdehnte? Aber sie wußte ja, daß man die Säule aufsuchte, und die mußte ihr den Weg weisen, weil man sie immer wieder über die Häuser ragen sah.
Auch dem Baron fiel jetzt die Abwesenheit seines Töchterleins auf: »Wo ist denn Eva geblieben?« fragte er verwundert und mit einem Anflug von Besorgnis.
»Sie blieb zurück, um etwas zu suchen, das sie unterwegs verlor,« antwortete Ernst Frank: »Ich wollte sie begleiten, aber sie bat mich dringend, kein Aufsehen zu erregen.«
Es wurde noch eine halbe Stunde gewartet; denn das Mädchen mußte doch den Weg zum Hauptplatz finden, auf den alle Hauptstraßen mündeten.
Als jedoch die Vermißte immer und immer nicht kommen wollte, machten sich alle auf, nach ihr zu suchen.
Ernst konnte genau angeben, wohin sich Eva gewendet hatte. Allein in der von ihr bezeichneten Gasse war nirgends eine Öffnung im Pflaster zu finden. Dieses Pflaster war mit einer durchsichtigen Masse überzogen, die ihm unbegrenzte Haltbarkeit verlieh, es wies daher überhaupt keine Lücken oder auch nur Unebenheiten auf. Da war also keinerlei Loch, in das die Puppe hätte fallen können; denn Ernst hatte es für das beste befunden, den Sachverhalt ehrlich zu berichten, um die Suche zu erleichtern.
Weder in den Häusern, welche die Gasse einfaßten, noch in den benachbarten Straßen war eine Spur von dem Mädchen zu entdecken, auch alles Rufen blieb unerwidert.
Nun geriet Münkhuysen in ernstliche Sorge, wie es wohl begreiflich ist. Er wies jedem der Gefährten ein bestimmtes Revier zu, das er vorerst in aller Eile spähend und rufend durchziehen sollte. Man war der Speise und Ruhe zu sehr bedürftig, als daß für heute ein gründliches Durchforschen aller Seitengassen und Gebäude noch möglich gewesen wäre. Doch durfte man hoffen, wenn alle Hauptstraßen mit lautem Rufen nach der Verschwundenen durcheilt würden, müsse sie die Rufe hören und beantworten, wo sie auch stecken mochte.
Daß Eva sich verirrt haben müsse, stand jetzt allen fest, dann aber war es nicht denkbar, daß sie in einem Hause verborgen sei: das hätte ja gar keinen Sinn gehabt. Tiere waren überhaupt hier nicht vorhanden, auch keinerlei Spuren von solchen, und das war selbstverständlich, da es ihnen in den gepflasterten Straßen an jeglicher Nahrung oder Beute fehlte. Hätte sich ein Riesenraubvogel herniedergelassen und das Mädchen geraubt, so hätte man ihn unbedingt beim Daherfliegen durch die Luft bemerken, auch das Rauschen seines Flügelschlags vernehmen müssen.
Nach drei Stunden fanden sich alle verabredetermaßen im Lager vor den Vulkanen zusammen. Wunderdinge hatte jeder entdeckt, nirgends aber eine Spur von irgend einem lebenden Wesen, am wenigsten irgend etwas, das über Evas Verbleib hätte Auskunft geben können. Auch keinerlei Öffnung im Pflaster der Straßen und Gassen war zu finden gewesen, wie man sie nach Evas letzten Äußerungen hätte annehmen müssen. Ebenso war auf alles Rufen keine Antwort erfolgt. Auch die schwache Hoffnung, die Verlorene könnte sich ins Lager zurückbegeben haben und würde dort angetroffen, erwies sich als trügerisch.
Münkhuysen war in Verzweiflung und Raimund suchte ihn zu trösten: »Verlieren Sie den Mut nicht, Baron,« sagte er: »Es ist doch ganz undenkbar, daß Fräulein Eva spurlos verschwunden sein sollte! Irgendwo müssen wir sie noch auffinden. Sicher hat sie sich aus Neugier in eines der Häuser begeben. Wir kennen die Anlage dieser Bauten noch nicht: vielleicht gibt es da so labyrinthartige Räume, daß es schwer wird, sich wieder herauszufinden. Jedenfalls müssen wir unsere Nachforschungen auch auf das Innere der Häuser ausdehnen, und dann dürfen wir sicher sein, daß sie von Erfolg gekrönt werden.«
Der gute Professor war wohl selber nicht so zuversichtlich wie er sich den Anschein gab; denn irgend ein Rätsel mußte hinter diesem geheimnisvollen Verschwinden verborgen sein. Aber schließlich mußte es sich doch wohl lösen!