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5.
Neue Gäste

Die derzeitigen Bewohner des Münkhuysenschen Schlosses waren im Speisesaal versammelt. Es waren dies, außer Ernst Frank, der dicke Kapitän Münchhausen, Professor Heinrich Schulze aus Berlin, Naturwissenschaftler und Forschungsreisender, der namentlich Südamerika und Innerafrika erkundet hatte und sich auch für einen gewaltigen Jäger hielt, der sich auf seine »niefehlende Büchse« viel zugute tat. Ferner: Professor Raimund, Physiker aus Württemberg, der Arzt Doktor Maibold und der schwedische Ingenieur Holm.

Ernst berichtete soeben dem letzteren begeistert über das, was er durch das Paläoskop geschaut hatte, als der Baron mit zwei neu angekommenen Gästen eintrat, die sich ebenfalls seinem Unternehmen anschließen wollten.

Es war ein junges Ehepaar. Er trug einen blonden, kurzgeschnittenen Bart und lange Künstlerlocken. Sein Gesicht hatte einen äußerst freundlichen und dabei bescheidenen, fast schüchternen Ausdruck. Die blühende junge Frau mit dem üppigen, hochgetürmten rotgoldenen Haar war eine wirkliche Schönheit, doch nicht von kalter, hoheitsvoller Art, sondern von herzgewinnender Lieblichkeit und Anmut. Vor allem fielen ihre großen, geistvollen, sonnigen Augen auf, die wohl das Anziehendste an ihrer bezaubernden Erscheinung waren.

»Ich habe die Freude, Ihnen hier zwei liebe Freunde vorstellen zu dürfen,« sagte Münkhuysen beim Eintreten: »Professor Michael Mäusle mit seiner Gattin. Er ist ein hervorragender, vielgereister Philologe und Dichter aus Württemberg.«

»Aus Gschlachtenbretzingen,« ergänzte der Schwabe bescheiden: »Und von ›hervorragend‹ ist keine Rede.«

Kapitän Münchhausen und Professor Schulze schnellten von ihren Sitzen empor und eilten auf die Ankömmlinge zu, sie mit erstaunten und neugierigen Augen musternd. Dann bestürmten sie den jungen Gelehrten abwechselnd mit ihren Fragen, ohne ihn in ihrem Eifer zum Wort kommen zu lassen.

Schulze begann: »Sind Sie der Mann, der die Löwen mit dem Flintenkolben angreift und mit dem Donner seiner schwäbischen Anrede in feige Flucht jagt?«

Der Kapitän fiel ein: »Sind Sie der Held, der trockenen Fußes die breitesten Ströme überschreitet, indem er lebendige Krokodile als Sprungbrett benutzt?«

Schulze rief wiederum: »Sind Sie es, dem das unbändige Kudu als gefügiges Reittier dienen muß, und der den Löwen, unter dessen Pranken er liegt, mit dem Dolchmesser besiegt?«

Worauf Münchhausen fortfuhr: »Steht vor unseren staunenden Augen der Herkules, der den stärksten Büffel lebendig bei den Hörnern fängt und den Vogel Strauß bei den starken Beinen packt, so daß der Riesenvogel zu Boden stürzt und seine hilflose Beute wird?«

Gleich kam Schulze wieder an die Reihe: »Erblicken meine begnadeten Augen den gewaltigen Geist, der Mittel ersinnt, die Strauße in ganzen Herden zu fangen, und der noch todwund den Weg aus den Wirrnissen des Urwaldes findet, in dem er sich verirrte, und wo jeder andere Sterbliche zugrunde gegangen wäre?«

Und der Kapitän: »Haben wir vor uns den König aller Schützen, der das Gnu auf kilometerweite Entfernung ins Herz trifft und den unbesiegbaren Hünen, der den Rüssel des Elefanten durchschneidet, von dem er gepackt war?«

Worauf der Professor noch hinzufügte: »Sind Sie es, der im Burenkriege all die Wunder der Tapferkeit verrichtete, die der englischen Übermacht den Sieg aus den Händen zu winden drohten?«

»Aber ich bitte Sie, meine Herren!« sagte nun Mäusle, als er endlich zu Worte kam: »Ich bin nichts weiter als der Michael Mäusle aus Gschlachtenbretzingen, der allerdings in Afrika einige ungewöhnliche Erlebnisse hatte, ohne jedoch selber irgendwie Hervorragendes geleistet zu haben. Ich kann wirklich nichts dafür, daß meine harmlosen Taten so aufgebauscht wurden.«

»Es ist wirklich der sagenhafte Held, den mit leiblichen Augen zu erblicken ich mir so lange gewünscht habe!« frohlockte der Dicke. »Gestatten Sie, daß Kapitän Münchhausen Ihnen die wackere Rechte schüttelt.«

»Und auch ich bitte um diese Ehre: ich nenne mich Heinrich Schulze, Professor der Naturwissenschaften.« Und beide schüttelten nacheinander aus Leibeskräften die dargebotene Hand.

Der Schwabe aber fragte: »Sagen Sie mir doch nur, meine verehrten Herren, wie Sie dazu gekommen sind, so viel von meinen bescheidenen Abenteuern zu erfahren.«

»An den Lagerfeuern Afrikas vernahm ich Ihren Ruhm,« erwiderte Münchhausen feierlich: »Hendrik Rijn, Sannah, Mietje und Frans plauderten am liebsten von ihrem heldenmütigen Lehrer.«

Mäusles Gattin stieß einen Schrei der Überraschung aus, während Schulze seinerseits Antwort gab: »Und ich habe schon zuvor in Oranjehof von Ihnen gehört: der alte biedere Piet van Rijn hat mir so manches von Ihren Wunderwerken mitgeteilt.«

»In Oranjehof waren Sie?« rief nun die junge Frau erregt. »Zog mein Vater zurück nach Transvaal und hat unser altes Heim wieder bezogen?«

»Nein! Piet Rijn lebt mit den Seinigen in Ostafrika, zu Füßen des Runsoro aus seiner neuen Pflanzung, die er, wie die alte, ›Oranjehof‹ taufte. Aber Ihr Vater kann er unmöglich sein.«

»Wieso?« entgegnete die Angeredete auf diese Bemerkung des Professors: »Ich bin doch Neeltje, geborene Van Rijn.«

»Da irren Sie sich,« widersprach Schulze hartnäckig: »Neeltje, von der wir freilich auch viel Gutes vernahmen, war allerdings die Braut des berühmten Michael Mäusle, dieses echten deutschen Michels. Allein sie ist mit ihrer Mutter und ihren Schwestern im Hungerlager gestorben. Noch heute wird sie in Oranjehof betrauert.«

»Ich bin's, ich bin's! O welche Freude! Nun haben wir doch gewisse Kunde vom Aufenthalt unserer Lieben, nach dem wir so lange vergeblich forschten!«

Der Professor schüttelte den Kopf: »Ich wiederhole es, Sie befinden sich im Irrtum, denn Neeltje starb leider, daran ist gar kein Zweifel, ich habe es aus sicherster Quelle, von ihrem Vater und ihren Geschwistern selber.«

»Mann der Wissenschaft!« mahnte der Kapitän: »Blamiere dich doch nicht schon wieder. Die junge Dame muß doch schließlich am besten wissen, wer sie ist!«

»In der Tat,« ergriff Mäusle nun wieder das Wort: »Meine liebe Gattin wäre wohl auch im Konzentrationslager zugrunde gegangen, doch gelang es mir noch rechtzeitig, sie heimlich daraus zu befreien und vor dem gräßlichen Schicksal zu bewahren.«

»Dann seien Sie mir aufs Herzlichste willkommen!« rief Schulze, endlich überzeugt, und ergriff die zarte Hand, die er lebhaft schüttelte.

»Und mir desgleichen!« sagte Münchhausen und folgte des Freundes Beispiel.

»Und Frans lebt?« fragte Neeltje: »Wir hörten, er sei einer Verwundung erlegen. Und auch Mietje ist noch am Leben?«

»Sie leben beide,« bestätigte der Professor: »Wir waren so glücklich, sie aus schlimmen Lagen zu befreien und sie zu den Ihrigen zurückzuführen, mit Hilfe des edlen Lords Flitmore, dessen Gattin Mietje jetzt ist.«

»Lord Flitmore!« rief Frau Mäusle: »O welche Freudenbotschaften wir Ihnen verdanken! Nun können wir die Unsrigen gleich aufsuchen, sobald wir von dieser Reise zurückkehren!«

Alle Anwesenden hatten mit größtem Erstaunen und lebhafter Teilnahme diesem seltsamen Gespräche gelauscht und begrüßten nun ihrerseits die neuen Gäste herzlichst.

Münchhausen und Schulze mußten nun vor allem ihre Erlebnisse aus Oranjehof berichten und erzählen, wie sie Lord Flitmore im Lande der Zwerge getroffen hatten, wobei Hendrik und Sannah, Neeltjes Geschwister, eine so hervorragende Rolle gespielt hatten. Ferner, wie sie mit diesen beiden und dem Lord, Doktor Leusohn und seiner Schwester Helene, sowie der kühnen Zwergprinzessin Tipekitanga, Mietje van Rijn in den Mondbergen fanden und schließlich Frans in Ophir befreiten.

Diesen merkwürdigen Abenteuern lauschten alle mit gespanntestem Interesse, vor allem natürlich Mäusle und seine Gattin, die dadurch so vieles Neue und Gute von ihren nächsten Angehörigen erfuhren, und daß sie in Doktor Leusohn, Sannahs Gatten, einen so trefflichen Schwager, in Helene eine so liebe Schwägerin gewonnen hatten, nach deren Hochzeit mit Hendrik.

Noch während des Mittagsmahls und lange darüber hinaus wurden die Berichte fortgesetzt. Zuletzt mußte Mäusle erzählen, wie ihm Neeltjes Befreiung gelang, und wie sich der beiden fernere Schicksale gestaltet hatten.


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