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40.
Fabeltiere

Als der Abend dämmerte, machte Mäusle auf eine seltsame Erscheinung aufmerksam: in der Ferne sah man in gleichmäßigen Abständen Rückenwölbungen aus dem Wasser tauchen, als ob eine Herde riesenhafter Delphine, nach ihrer Art, im Gänsemarsch vorbeiziehe. Sie befanden sich auch in beständiger, rascher und schlängelnder Bewegung.

»Delphine können das nicht sein,« bemerkte Münkhuysen: »Denn man sieht weder Köpfe noch Schwänze auftauchen, so schnell auch die Wellenbewegung sich fortpflanzt.«

»Folglich,« sagte Kapitän Münchhausen, »müssen diese Körperteile alle ein und demselben Tiere angehören, und dann kann es kein anderes sein, als die weltberühmte Seeschlange, die ich auf meinen Fahrten mehr als einmal getroffen habe. Zwei Exemplare habe ich sogar erlegt, eines dadurch, daß ich es zwang, sich selber zu erwürgen, ein anderes in heftigem Kampfe, Mann gegen Wasserschlange.«

»Erzählen, erzählen!« riefen mehrere Stimmen.

Da es inzwischen Nacht wurde, begab man sich in das große Gesellschaftszelt, und Münchhausen ließ sich erbitten, eines seiner Abenteuer zum Besten zu geben.

»Es ist Ihnen allen bekannt,« begann er, »daß beschränkte Geister das Dasein der Seeschlange immer noch bezweifeln, ja hartnäckig leugnen, obgleich es dutzendfach von den glaubwürdigsten Persönlichkeiten bezeugt wird.«

»Zu diesen Zweiflern gehöre auch ich, als wissenschaftlich gebildeter Mann,« warf Maibold spöttisch ein.

»Das habe ich nicht anders erwartet«, entgegnete der Kapitän mit überlegener Ruhe. »Solche Unbelehrbare glaubten früher auch nicht an Riesenkraken und verspotten heute die Wünschelrute, das Fernsehen und andere Tatsachen, die kein verständiger und einsichtiger Mensch mehr zu leugnen wagt. Ich muß gestehen, ich selber war von der Wirklichkeit des Meerungeheuers nicht völlig überzeugt, bis ich meine erste Begegnung mit ihm hatte.

»Das war im malaiischen Archipel, der sowohl seiner Stürme als der Seeräuber wegen mit Recht so berüchtigt ist. Ich hatte soeben meinen weltberühmten Sieg über den gefürchteten Piraten Kakairuli erfochten, der meinen bekannten Schnellsegler, den Sturmvogel, der den Wind überflügelte, angegriffen hatte. Ich hätte ihm leicht entkommen können mit meinem unvergleichlichen Schiffe, aber Durchbrennen war nie meine Sache, und ich zog es vor, die See von ihrer schlimmsten Pest zu befreien. Es fehlte mir zwar an genügender Mannschaft und vor allem an Waffen, um die zehnfache, bis an die Zähne bewaffnete Übermacht mit Aussicht auf Erfolg zu bekämpfen. Allein, da gerade ein heftiger Orkan wütete, kam ich auf ein ungewöhnliches Auskunftsmittel: ich ließ die gerefften Segel ausspannen, aber nur das starke Sturmsegel in der üblichen senkrechten Art, die anderen alle wagrecht. So steuerte ich auf die große Seeräuberdschunke los. Der Sturm, der meine Segel von unten blähte, hob, wie ich berechnet hatte, meinen leichten Sturmvogel über Wasser und ich segelte über das Verdeck des feindlichen Schiffes weg. Ich hatte es von vorn gefaßt und mein Segler hatte einen niederen Kiel, so daß er nicht nur die Masten und Raen des Seeräubers zersplitterte, sondern sein ganzes Deck rein fegte. Die Räuber, soweit sie nicht zerquetscht worden waren, stürzten ins Wasser und ertranken bis auf den letzten Mann. Schnell ließ ich meine Segel wieder einziehen, so daß der Sturmvogel ins Meer zurücksank.

»Der Taifun blies immer noch, wenn auch weniger heftig, als wir uns einer Inselgruppe näherten. Da meldete der Matrose auf dem Ausguck, er sehe eine Anzahl Walfische hintereinander durch das Meer sausen, gerade auf uns zu. Mir schien dies unglaublich, und ich setzte mein Glas ans Auge.

»Was sah ich? Einen ungeheuren Pferdekopf mit wallender weißer Mähne, sitzend an einem Schlangenleib von etwa vier Metern Durchmesser, der in zahllosen Windungen hinterherglitt. Das Ungetüm nahte mit einer solch fabelhaften Geschwindigkeit, daß ich, ob Sie es glauben oder nicht, erkennen mußte, an ein Entkommen sei selbst mit dem Sturmvogel nicht zu denken. Wollte ich ihm nicht in den Rachen rennen, so mußte ich mich in die engen Kanäle zwischen den Inseln begeben, und was das bei einem Orkan bedeutet, wird sich selbst ein Laie sagen können.

»Aber mir blieb keine Wahl: ich mußte in eine der verderbendrohenden Wasserstraßen einlaufen, denn die Seeschlange schnitt mir den Rückweg ab. Ich habe ja schon gesagt, daß mir das Durchbrennen zuwider ist; aber ich wußte aus früheren Berichten, daß so ein Ungetüm ein Schiff umringelt und in die Tiefe zieht und ich durfte meine zitternde Mannschaft einer solchen Gefahr nicht aussetzen: lieber an den Riffen zerschellen, – das ist doch wenigstens etwas, worauf ein ehrlicher Seemann gefaßt ist und das ihm daher weniger gräßlich erscheint.

»Ich lasse also mein Boot zwischen die Inseln steuern. Da sehe ich, daß sich die Meerenge in der Ferne zu schließen scheint. Ich werde doch nicht in einen Fjord, eine Sackgasse geraten sein? denke ich besorgt. Ich schaue durchs Glas und entdecke, daß der Kanal zwar nicht aufhört, aber sich zwischen zwei vorspringenden Felszungen derart verengt, daß die Durchfahrt unmöglich ist. Da blitzt mir aber auch gleich ein Rettungsgedanke durch mein unermüdliches Hirn. Ich lasse die Segel wieder als Höhensteuer ausspannen, wie vorhin. Richtig! Der Sturmvogel wird vom Taifun emporgehoben und segelt frei über die gefährliche Stelle hinweg. Dann plumpst er aber wie ein Sack ins jenseitige Wasser, denn der Orkan ließ auf einmal mit der gleichen Plötzlichkeit nach, mit der er gekommen war. Die Meerenge war hier immer noch so schmal, daß sie kaum Platz für das Schiff bot. Im Niederstürzen streifte es die Felsen zur Linken und bekam ein ordentliches Leck. Ich mußte alle Mann an die Pumpen kommandieren, wenn wir nicht sinken wollten. Weiter konnten wir sowieso nicht bei der nun eingetretenen völligen Windstille.

»Aber jetzt kam das Ungeheuer heran mit hocherhobenem Haupt. Dieses, sowie der Vorderleib überragte die Felsenge beträchtlich. Zugleich trat aber auch ein, was ich erwartet hatte: der dicke Leib keilte sich im blitzschnellen Daherschießen zwischen den Felsen fest: Da gab es kein Vorwärts- noch Rückwärtskommen mehr. Doch wiegte sich das entsetzliche Haupt gerade über mir und der grausige Rachen öffnete sich, um mich zu verschlingen.

»Was nun? Wir besaßen eine Schiffskanone, und Munition war an Deck aufgestapelt, da wir mit der Notwendigkeit hatten rechnen müssen, auf den Seeräuber zu schießen.

»Ich ergreife also rasch eine Bombe und werfe sie in den gähnenden Schlund. Die Seeschlange schluckte den Brocken ohne weiteres und schon beförderte ich eine zweite Granate in den Rachen. Hastig würgte sie dieselbe hinunter und schnappte nach mir, ehe ich eine dritte ergreifen konnte. Allein die so rasch geschluckte zweite Bombe traf auf den Zünder der ersten: es erfolgte eine heftige Explosion, Kopf und Hals der Seeschlange flogen in Fetzen umher und ich wurde durch den Luftdruck aufs Hinterdeck geschleudert. Sonst nahm ich keinen Schaden. Der Zimmermann konnte auch bald das Leck kalfatern und wir fuhren aus dem sich nun beständig erweiternden Kanal ins offene Meer, da sich eine günstige Brise erhoben hatte.«

»Wenn der Kapitän die Seeschlange derart aus eigener Erfahrung kennen lernte,« sagte Mäusle, »so dürfen wir an ihrem tatsächlichen Vorkommen nicht mehr zweifeln.« Das sagte er lachend, denn Münchhausens Bericht hatte allgemeine Heiterkeit erregt.

»Ja, ja! Wenn …!« spöttelte Doktor Maibold.

»Hören Sie,« tadelte ihn Neeltje: »Sie haben doch heute eine Tierwelt kennen gelernt, die fabelhaft und unheimlich genug ist, und die uns auf der Weiterreise noch gefährlich werden kann. Wer weiß, was für andere Fabelwesen uns fernerhin begegnen können? Vorerst halte ich es für höchst unangebracht an Unbekanntem zu zweifeln, das uns vielleicht bald unangenehm bekannt werden könnte.«

»Nun ja,« meinte Maibold: »Wir haben unerwarteterweise noch lebende Urwelttiere angetroffen, darunter sogar manche der Wissenschaft bisher unbekannte Geschöpfe. Aber wirkliche Fabeltiere haben wir keine entdeckt und werden auch nie welche entdecken.«

»Was nennen Sie Fabeltiere? fragte Eva kampflustig.

»Nun, zum Beispiel die sagenhaften Drachen,« erwiderte der Doktor.

»Glauben Sie nicht,« frug Eva, »daß so ein Pterodaktylus oder ein Plesiosaurus und ähnliche entsetzenerregende Tiergestalten den Namen »Drachen« verdienen und zum Teil auch zu den Beschreibungen passen, die uns von allerlei Lindwürmern überliefert wurden?«

»Das mag sein,« gab Maibold zu: »Da wir selber gesehen haben, daß es noch heutzutage in weltfernen Erdenwinkeln solche vorsintflutlichen Riesen gibt, liegt ja die Vermutung nahe, daß einzelne Exemplare davon sich auch in Europa, Afrika und Asien noch bis ins Mittelalter erhielten und als gefürchtete Drachen Schrecken verbreiteten, bis sie durch die drachentötenden Ritter völlig ausgerottet wurden. Immerhin berichtet uns das Altertum und das Mittelalter noch von anderen Fabelwesen, die rein als Erzeugnisse einer ausschweifenden Phantasie gelten müssen.«

Eva schien gesonnen, hierüber zu streiten und fragte weiter: »Also, was belieben Sie zu diesen Ausgeburten der Phantasie zu rechnen?«

»Da ist in erster Linie das Einhorn,« erklärte der Doktor, »das englische Wappentier. Hörner von diesem Untier kamen nach Europa; es waren dies aber wahrscheinlich Stoßzähne des Narwal. Indien, Arabien und Mohrenland galten als die Heimat des Einhorns, das übrigens sehr selten sein sollte, da es zwar gegen andere Tiere »mild, zahm und gütig« war, sonst aber als ganz »freches, wildes und unzahmes« Tier geschildert wird, das seinesgleichen nicht duldete.«

»Sollte nicht eine Verwechslung mit dem Nashorn vorliegen?« vermutete Holm.

»Unmöglich!« widersprach Maibold: »Denn einmal war das Nashorn neben dem Einhorn bekannt, und dann schildert Ludwig Roman, der das Einhorn in Mekka gesehen haben will, das Ungetüm als rauhaarig wie ein Reh, mit gespaltenen Klauen wie eine Ziege, einem Kopf wie ein Hirsch und einer dünnen einseitigen Mähne. Sein Horn trug es auf der Stirn und dieses maß anderthalb Meter. Dazu hatte es eine »grausame, erschröckliche Stimme,« die sich von allen anderen Tierstimmen unterschied. Kurzum ein richtiges Fabeltier!«

»Wer gibt Ihnen das Recht,« fragte Eva feierlich, »einen Ludwig Roman ohne weiteres für einen Schwindler zu erklären? Vielleicht werden Sie morgen dem leibhaftigen Einhorn begegnen.«

Der Arzt lächelte nur spöttisch und fuhr fort: »Ebenso fabelhaft ist der Vogel Greif, ein ganz »scheußlicher und grausamer Vogel«, der Elefanten und Drachen überwindet und so groß wird wie acht Löwen. Der Greif ist vorn rot, hinten schwarz, an den Flügeln weiß, trägt also die deutschen Reichsfarben. Er hat Fledermausflügel und Löwenklauen mit Krallen, wie eines starken Mannes Finger.«

»Vielleicht entpuppen sich die unbekannten Riesenvögel auf Madagaskar noch als Greifen,« beharrte Eva hartnäckig.

Maibold würdigte sie keiner Antwort, sondern ging zur Beschreibung des Basilisken über: »Dies ist der König der Schlangen oder die »Erzschlang«. Auf dem Kopfe trägt er ein sechszinkiges Krönlein, an der Zunge eine Pfeilspitze. Er ist so giftig, daß kein Baum noch Halm mehr wächst, wo er hinkriecht. Außerdem gab es Meermönche, Meerbischöfe, Meerfräulein und Meerteufel, die eine gräßliche Menschenähnlichkeit aufwiesen; dementsprechend auf dem Lande: Forstteufel, Baalen-Strobelkopf, wahrscheinlich der Gorilla, und die furchtbare Hydra mit sieben gekrönten Köpfen. Ich habe diese Fabeln mit Vorliebe studiert und sie bereiteten mir köstlichen Spaß!«

»Sie vergessen den Vogel Phönix,« ergänzte Mäusle.

»Nun, das ist ein Fabelwesen für euch Poeten,« lachte der Doktor, »und kein Ungeheuer. Er lebte in Arabien, und zwar gleich Hunderte oder gar Tausende von Jahren, war so groß wie ein Adler, hatte einen Pfauenkopf und ein wunderbar goldglitzerndes Gefieder mit schönen, runden Zirkeln, wie Augen anzusehen. Wenn er sich altersschwach fühlte, baute er sich über einer Quelle ein Nest aus Weihrauch, Myrrhen, Zimt und anderen kräftigen, köstlichen Gewürzen. Dieses Nest entzündete er an der Sonne durch die Augen seines Gefieders, die wie Brenngläser wirkten, und fachte das Feuer mit Flügelschlägen an. So verbrannte er mitsamt dem Neste. Aus der Asche aber wuchs ein Würmlein, das am dritten Tage sich beflügelte und aus dem der Phönix wieder erstand.«

»Das ist ein wahrhaftiges Fabeltier, das muß man zugeben!« stimmte Schulze bei.

»Nun aber noch das gräßlichste und phantastischste aller Ungeheuer, die Seeschlange,« fuhr Maibold abschließend fort: »Von dieser sollte es kleine Exemplare, zehn bis fünfzehn Meter lang, geben, die ›Wallschlange‹ aber erreichte neunzig Meter und umschlang ganze Schiffe, die sie zermalmte. Schrecklich waren die Windungen ihres Leibes anzusehen, die sich über den Wasserspiegel erhoben.

»Jeder Gebildete weiß heute, daß die Seeschlange, wie alle anderen genannten Fabeltiere, eine Ausgeburt überhitzter oder schwindelhafter Phantasie ist, so daß, wie Andrew Wilson berichtet, ein Schiffskapitän, den man an Deck rief, weil eine Seeschlange zu sehen sei, antwortete: ›Lieber beide Augen zudrücken! Denn wollte ich später erzählen, ich habe die Seeschlange gesehen, so gälte ich zeitlebens für einen entlarvten Schwindler.‹«

Nun aber ergriff Münkhuysen das Wort: »Herr Doktor,« sagte er ernst: »Ein Fabeltier haben Sie wohlweislich nicht genannt, und das ist der Riesenkrake mit seinen meterlangen Fangarmen, die ganze Boote umklammern und zum Kentern bringen, und von denen schon zu Plinius' Zeiten gefabelt wurde.«

»Ja,« rechtfertigte sich Maibold: »Diese Riesentintenfische gibt es eben in der Tat: das war schon längst erwiesen, ehe wir heute ihre Fangarme leibhaftig erschauten. Sie gehören also durchaus nicht zu den Fabelwesen, an die ich nun einmal nicht glaube und nie glauben werde, so wenig wie andere vernünftige Menschen, die auf der Höhe wissenschaftlicher Bildung stehen.«

Der Baron überhörte absichtlich die Unart, die in diesen Worten lag: eitle Spötter werden leicht ungezogen. Er fuhr ruhig fort: »Wohl! Aber jahrhundertelang wurden sie genau so zu den Fabeltieren gerechnet, wie der Greif, Drache, Basilisk und die Seeschlange. Die Wissenschaft hatte nur Spott und Hohn für solche Berichte, und erklärte, man müßte doch schon irgendwie Überreste dieser Tiere gefunden und erbeutet haben: daß dies niemals der Fall gewesen sei, beweise zweifellos, daß es keine solchen Ungeheuer gebe. Als nun aber am 30. November 1861 der Avisodampfer ›Alecto‹ bei Teneriffa einen Riesenkraken von 2000 Kilogramm Gewicht harpunierte und teilweise an Bord schaffte, sah die Sache plötzlich anders aus. Nun auf einmal konnte man alle früheren und seitherigen Berichte über das Antreffen der fabelhaften Polypen nicht mehr bezweifeln, und genau so kann es mit der Seeschlange auch gehen. Ja, ich halte es einfach für ein unwissenschaftliches Verfahren, ein Ungeheuer, das so oft von glaubwürdigen Zeugen erblickt wurde, aus eigensinniger Zweifelsucht ins Reich der Fabel zu verweisen.

»Es gibt ja leider eine Sorte von Wissenschaft, die im Wahne lebt, der wissenschaftlich Gebildete müsse alles Außerordentliche bezweifeln und belächeln, und es sei ungebildet, daran zu glauben. Aber das ist doch nur beschränkte Kurzsichtigkeit, Hohlköpfigkeit und eigentlich das Gegenteil von ernster, wirklicher Wissenschaftlichkeit. Damit meine ich gewiß nicht Sie, verehrter Doktor, so wenig Sie mich mit Ihrem vorigen Trumpf gemeint haben werden. Ich hoffe nur, Sie von Ihren überlegenen Zweifeln zu bekehren.«

»Wird Ihnen schwerlich gelingen!« lachte Maibold.

»Immerhin, hören Sie einmal,« fuhr der Baron fort: »Man hat ja wohl vom Studiertisch aus allerlei scharfsinnige Bedenken vorgebracht, aus denen das Nichtvorhandensein der Seeschlange hervorgehen sollte.

»Wenn Robert Owen 1848 erklärte, die Seeschlange könne nicht existieren, weil sonst wenigstens Überreste ihres toten Körpers gelegentlich hätten gefunden werden müssen, so ist dies nicht nur durch die Riesenkraken widerlegt, deren Vorkommen erwiesen ist, obgleich man zuvor auch nie etwas von ihnen erbeutet hatte, sondern Gosse wies schon 1860 aus die ›Seekuh‹ hin, die einst massenhaft vorkam, und von der wir nur verschwindend wenige Skelettüberreste besitzen, und auf den 1825 bei Havre gestrandeten zahnlosen Wal, von dem man nie ein zweites Exemplar gefunden hat. Ich erinnere auch noch an die bekannten ›See-Elefanten‹, die Riesen unter den Robben, die ebenfalls lange Zeit für Fabelwesen galten. Derartige angeblich ›wissenschaftliche‹ Folgerungen sind dadurch in ihrer ganzen Schwäche und Haltlosigkeit entlarvt.

»Und nun hören Sie die Zeugen für die Seeschlange, von denen ich nur die neueren erwähnen will, weil diese merkwürdigerweise doch für glaubwürdiger gehalten werden, als die älteren, wozu man, genau betrachtet, gar kein Recht hat. Der berühmte Grönlandmissionar Hans Egede erblickte mit den Matrosen seines Schiffes am 6. Juli 1734 ein ungewöhnlich fürchterliches Tier, das sich so hoch über das Wasser erhob, daß sein Kopf den Mastkorb überragte. Der Leib erschien weich und runzelig und hatte breite, herunterhängende Tatzen. Dreimal kam es über Wasser, der Schwanz war mehr als eine Schiffslänge vom Körper entfernt. Missionar Bing zeichnete die Schlange.

»Im August 1746 sah der Lotsengeneral und Kommandant der Stadt Bergen, Lorenz von Ferry, bei Molde die Seeschlange. Zwei Matrosen bestätigten den beeidigten Bericht, den er darüber dem Staatsrat erstattete. Die Schlange hatte einen Kopf wie ein Pferd mit weißer Mähne, war etwa fünfunddreißig Meter lang, und schwamm in acht Windungen schneller als das Schiff dahin. Der General verwundete sie durch einen Schuß und sie sank blutend unter.

»Im August 1817 wurde bei Gloucester und Kap Ann in der Nähe von Boston eine Seeschlange zu verschiedenen Malen gesehen, und dank dem Interesse der Gelehrten wurden genaue Beobachtungen und Beschreibungen erzielt. Zwei Jahre später erschien das Tier in derselben Gegend bei Nasant und wurde von Hunderten von Zuschauern beobachtet, während es die Bucht durchschwamm.

»Am 6. August 1848 erblickte das englische Schiff ›Dädalus‹, Kapitän M' Quhoe, die Seeschlange zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und St. Helena. Sie wurde von der ganzen Besatzung betrachtet und mehrfach gezeichnet; dunkelbraun am Leib, mit weißer Kehle, wies das Tier ebenfalls eine helle Mähne auf.

»Ferner begegneten die › Imogen‹ am 30. März 1856, die Yacht › Osborne‹ am 2. Juli 1877 bei Sizilien, der Dampfer »City of Baltimore* am 28. Januar 1879 im Golf von Aden, die ›Pauline‹ im Juli 1875 je einer Seeschlange. Letzteres Schiff sah das Ungeheuer im Kampfe mit einem Walfisch, dessen Leib es umringelte.

»Ähnliche Berichte sind überaus zahlreich, und ich hebe nur einige wenige hervor, die ich mir aufgeschrieben habe, und deren Einzelheiten ich, wie Sie sehen, dem kleinen Büchlein entnehme, in das ich allerlei Merkwürdigkeiten einzutragen oder in Zeitungsausschnitten einzukleben pflege, und das ich aus diesem Grunde stets mit mir führe, um es vorkommendenfalls zur Hand zu haben. Hören Sie also noch folgendes aus meinen Einträgen: Die deutsche Korvette ›Elisabeth‹ traf am 26. Juli 1883 um 5 Uhr auf die Seeschlange. Kapitänleutnant Wislicenus erblickte sie zuerst und beobachtete sie zwanzig Minuten lang. Das Tier hatte einen schwarzen, lanzettförmigen Kopf und einen schwarzen und weißen Doppelschwanz von etwa sieben Meter Länge; das ganze Tier mußte eine Länge von zwanzig bis vierundzwanzig Metern haben. Kapitän Hollmann, der jetzt Admiral ist, beobachtete die Seeschlange mit dem Fernrohr und fügt noch hinzu, daß der Kopf sich bis zu sechs Meter über die Wasserfläche erhob, während der Leib in mehrfachen Windungen das Wasser aufwühlte. Nachdem das Tier untergetaucht war, sprudelte das Wasser plötzlich garbenförmig auf, als sei eine Seemine gesprengt worden. Natürlich beobachtete auch die Mannschaft des Schiffes das seltene Schauspiel.

»In Indochina, in der Bai von Alang, wurde die Seeschlange in neuester Zeit zweimal gesichtet; das erstemal von Leutnant Lagreville, Kommandant der ›Avalanche‹, im Juli 1897; das zweitemal am 25. Februar 1904 von Leutnant Cost, dem Kommandanten der ›Décidée‹. Den Bericht des letzteren hat die ganze Schiffsmannschaft unterzeichnet. Demnach maß das Ungetüm etwa fünfunddreißig Meter; sein Leib hatte den ungeheuren Durchmesser von drei bis vier Metern und wand sich in wellenförmigen Ringeln mit großer Geschwindigkeit vorwärts. Die schwarze Haut war gelb gefleckt, der Kopf grau und schuppig und spritzte eine große Wasserdampfsäule aus. Das Tier schwamm unter dem Schiff durch.«

Maibold war von seiner geistigen Überlegenheit viel zu sehr eingenommen, als daß er sich durch die Wucht und Menge solcher unanfechtbarer Zeugnisse hätte belehren lassen, vielmehr brachte er jetzt den schwächsten aller Einwände vor, die von verbohrten Zweiflern den erwiesenen Tatsachen entgegengehalten wurden, indem er sagte: »Man hat alle diese Beobachtungen für Täuschungen erklärt: es wurden im Meere schon schlangenförmige Gewirre von Algen gesehen, die aus der Ferne und mit einiger Phantasie wohl für ein fabelhaftes Schlangenungeheuer angesehen werden konnten und, von den Wellen bewegt, dem oberflächlichen Beobachter selbsttätige Bewegungen vorgetäuscht haben mögen.«

Der Baron lächelte und wandte sich an die Allgemeinheit, sprechend: »Ich überlasse es Ihnen, meine Herren, ob Sie wirklich geneigt sind, zu glauben, bei den soeben gehörten genauen Berichten und eingehenden Schilderungen könne es sich um ein Gewirr harmlos dahintreibender Seepflanzen handeln, Algen, die einen pferdeähnlichen, weißmähnigen Kopf hoch über die Schiffsmasten erheben und mit Walfischen kämpfen! Nicht einmal soviel traue ich dem Seetang zu, daß er sich dahinschlängelnde Rückenwölbungen vorzutäuschen vermag. Im übrigen bin ich der Meinung, der Stubengelehrte, so unfehlbar er sich dünkt, täte wohl daran, sich nicht der Einbildung hinzugeben, er habe das Recht und den Beruf, über all diese Berichte nüchterner, scharfsichtiger, vernünftiger und glaubwürdiger Männer der Wirklichkeit mit einem Achselzucken hinwegzugehen, nur weil ihn in seinem engbegrenzten Studierzimmer noch nie eine Seeschlange besuchte und weil er sie mit dem schärfsten Mikroskop noch in keinem Wassertropfen zu entdecken vermochte!«

»Verzeihen Sie, Herr Baron,« sagte Mäusle, der belustigt des Doktors Kopfschütteln und überlegenes Lächeln beobachtete: »Verzichten Sie darauf, durch Tatsachen Vorurteile erschüttern zu wollen. Ich weiß es leider aus eigener schmerzlicher Erfahrung, daß Götter selbst vergeblich kämpfen würden gegen die Hartnäckigkeit eines voreingenommenen Gelehrten, der an nichts glaubt als an das, was er selber ausgeheckt oder auf der Hochschule und aus seinen wissenschaftlichen Büchern und Zeitschriften gelernt hat, während er allem anderen gegenüber spricht: ›Es sei denn, daß ich es zuvor gesehen und mit Händen betastet habe, so will ich es nicht glauben‹. Solcher ungläubiger Thomasse gibt es leider noch manche in der Gelehrtenwelt.«

»Und mit ihnen halte ich's,« erklärte der Doktor bestimmt und selbstbewußt: »Zeigen Sie mir die Seeschlange, dann glaube ich vielleicht an sie, bis dahin ist sie einfach nie und nirgends vorhanden.«

Kapitän Münchhausen bemerkte noch: »Ich habe geschwiegen, obgleich Maibolds Zweifel, nach dem, was ich vorhin über meinen Kampf mit der Seeschlange berichtete, geradezu beleidigend für mich sind, als schnöde und durch nichts gerechtfertigte Anzweiflung meiner Wahrheitsliebe und Glaubwürdigkeit. Wenn jedoch Herr Mäusle meinte, der Doktor werde nicht überzeugt werden, ehe er die Seeschlange gesehen und mit Händen betastet habe, so mache ich die größte Wette, daß ihm der bloße Anblick genügen wird, und er sich wohl hüten wird, sie zu betasten oder auch nur sich ihr zu nähern.«

Eva wollte das letzte Wort behalten und fügte hinzu: »Wir haben sie doch heute abend schon gesehen: das war kein Gewirr von Algen! Hüten Sie sich, Herr Doktor, die Schrecken des Urweltmeers herauszufordern: ich weiß, was ich weiß!«


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