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Am folgenden Abend wurde Kapitän Münchhausen bestürmt, den Vortrag zu halten, den er gestern infolge der jähen Unterbrechung nicht hatte zum besten geben können. Feierlich bestieg er die Rednertribüne, warf sich selbstbewußt in die Brust und begann:
»Meine Herren!
Ihr Interesse verbürgt mir, daß ich mit meinem Thema zwei Lebensfragen der Gegenwart berühre. In der Tat, was beschäftigt am meisten die fühlenden Herzen unserer Zeit? Ohne Zweifel die soziale Frage, die da lautet: ›Wie kann der Menschheit aus dem Sumpf geholfen werden, in welchen sie geraten ist?‹
Und was erhitzt die denkenden Gehirnmassen aller Forscher und Gelehrten? Nichts anderes als die Nordpolfrage, welche sich also formulieren läßt: ›Wo steckt der Nordpol, und wie sieht es daselbst aus?‹
Es ist nicht zu glauben noch aufzuzählen, wieviel Scharfsinn, Vorträge, Broschüren, Kongresse, Konferenzen, Reichstagsbeschlüsse, Gesetze, Wohlfahrtseinrichtungen, Vorschläge, Utopien, Phantasien, Expeditionen, Geldmittel, Begeisterung verschwendet werden, diese beiden Fragen zu lösen – und alles ohne nennenswerten Erfolg.
Und doch ist eine schleunigste Lösung beider Fragen aufs dringendste zu wünschen. Oder ist es angebracht, noch mehr große Geister und kühne Unternehmer in Nacht und Eis den größten Gefahren, ja vielleicht einem unwiederbringlichen Verluste auszusetzen? Können wir die Unsummen, die für solche Expeditionen ausgegeben werden, zu gar nichts Besserem verwenden?
Und erst die soziale Frage. Wird sie nicht bald auf vernünftige Weise gelöst, dann adieu, meine Herren! Die Umsturzparteien – äußerst ungemütliche Parteien, meine Herren! brennen darauf, unsere Kultur mittels Dynamits in die Luft zu sprengen, um ihre Zukunftsideale ungestört verwirklichen zu können.
Unsere Zeit hascht nach Unterhaltung; viele von Ihnen haben vielleicht auch in meinem Vortrag nur Unterhaltung gesucht. Uns ist es aber um Erhaltung der Menschheit und unserer Kultur zu tun, und ohne Erhaltung ist alle Unterhaltung wertlos.
Meine Herren! Ohne unbescheiden zu sein, lassen Sie mich's gleich verkündigen: ich stehe heute vor Ihnen als der Retter der Kultur, der Zivilisation und des Humors, als der Beglücker der Menschheit und der Wissenschaft. Denn ich habe die Lösung der sozialen Frage gefunden und der Nordpol ist so gut wie entdeckt, und damit auch der Südpol!
Glauben Sie nicht, ich wolle Sie mit abgedroschenen Schlagwörtern und utopischen Phantasien unterhalten: nein! ich zeige Ihnen den einzigen Weg, auf dem der Menschheit wirklich, und zwar in kurzer Zeit, ohne besondere Mühen und Kosten aus der Patsche geholfen werden kann; wenn auf diesem Wege nebenbei, gleichsam spielend, der Nordpol entdeckt wird, so mag dies zwar verblüffend erscheinen, ist aber nur ein neuer Beweis für das Geniale meiner Idee, welche als ungesuchten Nebenerfolg eine solch wichtige Entdeckung ermöglicht.
Meine Gedanken sind übrigens so einfach und selbstverständlich, daß sie dem gesunden Menschenverstand ohne weiteres einleuchten müssen, und dies ist auch der Grund, warum kein Sozialpolitiker noch Nationalökonom, kein Gelehrter noch Forscher je darauf gekommen ist.
Nun, meine Herren! Ich zweifle durchaus nicht daran, daß es der bloßen Anregung bedarf, um Sie und die ganze gebildete Welt für meinen genialen Plan zu begeistern und durch Ausführung meiner Idee ein goldenes Zeitalter heraufzubeschwören.
Zunächst lassen Sie uns einen Blick werfen auf die
Ursachen der sozialen Notlage.
Meine Herren! Was nennen wir Notlage? Wenn der Mensch nicht hat, was er braucht. Was braucht aber ein Mensch? 1. Bier, Brot, Rettich oder Wurst und dergleichen, wissenschaftlich ›Nahrung‹ genannt; 2. zwei Paar Stiefel, ein Hemd, Strumpfbänder, Krawatte, beziehungsweise Korsett, einen Zylinderhut, Manschettenknöpfe und so weiter, nämlich alles, was man wissenschaftlich unter dem Namen ›Kleidung‹ zusammenfaßt; 3. eine Kammer mit einer Pritsche und einem Spiritusschnellkocher, das heißt wissenschaftlich ›die Wohnung‹ und poetisch ›der häusliche Herd‹; und schließlich 4. Koks und Gas, Petroleum oder Elektrizität zur Beleuchtung und Heizung (in kaltem Klima) eventuell auch zum Kochen, wenn kein Spiritusschnellkocher vorhanden sein sollte, oder der Betreffende nicht kalte Küche mit Schnaps vorzieht.
Wo die Fruchtbarkeit des Landes alle diese Bedürfnisse deckt, kann keine Notlage herrschen, überdies bleibt das Geld im Lande, da man nicht auf ausländische Einfuhr angewiesen ist.
Fatal ist es aber, wenn man so weit nördlich wohnt wie wir; denn einmal bringt unter solchen Breitegraden der Boden weniger hervor, und sodann werden die Bedürfnisse gesteigert, wie Sie sich durch einen einzigen Blick auf diese Tafel überzeugen können.«
Hierbei wies der Kapitän auf ein Bild, das an der Wand hing und eine Gruppe von Eingeborenen aus Zululand darstellte. Dann fuhr er folgendermaßen in seinem Vortrage fort: »Sie sehen da, wie ungeheuer viel die Tropenbewohner an Schneiderrechnungen ersparen; dem Manne genügt ein Papierstehkragen, der Frau und Jungfrau eine Tournüre, um die luxuriösesten Ansprüche zu befriedigen. Überdies gestattet das Klima die größten Ersparnisse an Baumaterial, Maurer- und Schreinerarbeit, so daß jeder in der Lage ist, sich eine bequeme Wohnung selber kostenlos herzustellen. Endlich braucht man kein Heizungsmaterial, während wir neun bis zehn Monate im Winter, und oft noch zwei bis drei Monate im Sommer auf künstliche Wärme angewiesen sind. Wie oft erschallte und erschallt nicht noch der Schreckensruf: ›Mutter der Mann mit dem Koks ist da!‹ und die verzweifelte Antwort: ›Ich hab' kein Geld!‹ Das ist die soziale Notlage im Norden!
In früheren Jahrhunderten half man dieser Notlage auf die einfachste Weise der Welt ab, indem man eine sogenannte Völkerwanderung veranstaltete und in ein besseres Klima auswanderte. Dadurch wurden aber nach und nach die glücklicheren Gegenden derart übervölkert, daß auch dort die soziale Not ausbrach, weshalb denn heutzutage eine Völkerwanderung nichts mehr nützen könnte.
Und nun, meine Herren, erheben wir die Frage:
Wie kann der Notlage abgeholfen werden?
Platz für alle hat die Erde! – aber welch' ungeheure Landstrecken erfreuen sich gegenwärtig noch einer völligen Unbewohnbarkeit, so daß der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual; andere haben eine sehr dünn gesäte Bevölkerung, weil sie wegen allzuviel Grad Celsius oder allzuwenig Fahrenheit wüste und unfruchtbar sind.
Dem muß abgeholfen werden. Das Klima unseres Erdballs muß reguliert und gleichmäßiger über die Oberfläche verteilt werden. Warum wurde in dieser Hinsicht noch nie etwas getan? Sie lächeln, meine Herren? Doch die Sache ist viel einfacher, als Sie zu denken belieben!
Werfen Sie gefälligst einen Blick auf die Karte der unentdeckten Polarregionen. Drängt sich Ihnen nicht unwillkürlich der Gedanke auf: ›Hier liegt der Hase im Pfeffer!‹ obgleich der Pfeffer nur in gemäßigteren Zonen wächst und Füchse und Hasen sich bereits in milderen Gegenden ›gute Nacht!‹ sagen?
Unser einziger Feind ist der Nordwind; er ruiniert das Klima. Wo ihm etwa durch hohe Berge der Zutritt abgeschnitten wird, da ist das Klima milder als in weit südlicheren Lagen, die nach Norden oder Westen hin offen stehen. Haben Sie das begriffen?
Den Nordwind also gilt es zu bekämpfen, zu vernichten! Sollte die Menschheit mit diesem einzigen Feinde des sozialen Wohlstandes nicht fertig werden können?
Merken Sie etwas? Die nördlichen Luftströmungen verdanken bekanntlich ihre Kälte den Eismassen, die am Nordpol lagern.
Meine Herren! Wo spürt nicht die Nase unserer weisen Politiker und Nationalökonomen herum? Einmal heißt es: die Gefahr droht von Osten! ein andermal: im Westen sitzt der Erbfeind! oder aber: von Süden aus werden wir mit ausländischen Arbeitern überflutet. Aber in die nördlichen Regionen, in das Polareis stecken sie ihre Nasen nicht, und doch liegt dort einzig und allein die Quelle aller Not, die Gefahr der Vernichtung!
Unser Klima wird immer kälter und infolgedessen die soziale Not immer größer: natürlich! schreitet doch die Vergletscherung des Poles immer weiter vor.
Vor Zeiten war zum Beispiel Grönland, wie sein Name ausweist, ein grünes Mattenland mit anständigem Klima und christlicher Bevölkerung. Als aber im Jahre 1408 der neuerwählte Bischof Andreas seinen Stuhl daselbst einnehmen wollte, fand er ihn samt dem ganzen Land vergletschert: die Eismassen verschlangen die christliche Kultur, Wohlstand und Klima.
Was Wunder, wenn in den Polargegenden das Eis sich immer höher auftürmt, sich immer weiter ausdehnt, friert doch in der entsetzlich langen Polarnacht Stein und Bein zusammen, während der kurze Polarsommer bei der Schwäche seiner schräg auffallenden Sonnenstrahlen lange nicht soviel wieder auftauen kann, als im Winter hinzufror.
Meine Herren! Gegen die Fluten baut man Dämme, gegen den Regen spannt man ein Parapluie auf, aber der wachsenden Vergletscherung des Poles sieht die gebildete Menschheit untätig, ja gedankenlos zu! Unglaubliche Verblendung, unverantwortlicher Leichtsinn!
Das kann und muß anders werden! Weg mit den Eismassen am Nordpol!
Wie aber soll das ausgeführt werden? Machen wir uns das an einem Beispiele klar. An einem Bergabhang liegen zwanzig große Felsblöcke, die aus Zweckmäßigkeitsgründen entfernt werden sollen. Eine Abteilung von zwanzig Soldaten wird unter dem Kommando eines Unteroffiziers zu diesem Zwecke ausgesandt. Mit lustigem Gesang ziehen sie aus, in der Meinung, die Arbeit werde in kurzer Zeit vollbracht sein. An Ort und Stelle angekommen, hält der Unteroffizier folgende patriotische Ansprache: ›Jungens, seht ihr die Felsblöcke? Das ist der Feind! Den sollt ihr ins Tal befördern: das ist eine Kleinigkeit für euch; zwanzig gegen zwanzig – der Sieg ist uns gewiß!
›Nun nimmt sich jeder einen Felsblock aufs Korn und dann los! Marsch, marsch! Hurra!‹ Voll Siegesgewißheit stürzen die Soldaten, ein jeder auf einen der Felsblöcke, stemmen sich dagegen und schieben, stoßen, heben, was hast du, was kannst du? Der Schweiß fließt in Strömen, aber keiner der Felsblöcke tut einen Ruck! Ich sage Ihnen, meine Herren, wenn die Kerls sich ihr Leben lang abrackerten, sie würden keinen der Blöcke auch nur um ein Haar breit bewegen!
Als intelligenter Unteroffizier sieht dies der Befehlshabende alsbald ein und sinnt auf Abhilfe. Plötzlich durchblitzt ein genialer Gedanke sein Hirn. ›Aufgepaßt! Angetreten! – Nun macht ihr euch einmal alle zusammen hinter einen Block!‹ Gesagt, getan! Mit vereinten Kräften wird der Koloß in Angriff genommen, und siehe da! er bewegt sich, schwebt, und in weniger als zwei Minuten rollt er den Abhang hinab, über die bereitgelegten Walzen. Ich sage Ihnen, in einer knappen Stunde ist die ganze Arbeit getan!
Genau so am Nordpol; was den zerstreuten Sonnenstrahlen nicht möglich ist, nämlich die Eismassen aufzutauen, das würde in kürzester Frist gelingen, wenn wir mehrere Sonnenstrahlen mittelst einer Linse auf einen Punkt vereinigten. Schritt für Schritt könnten wir das Eis schmelzen, und jedenfalls im Polarsommer soviel davon zu Wasser machen, daß der Winter nicht annähernd soviel wieder zum Gefrieren brächte.
Nun, meine Herren! Wie werden doch so viele Linsen in der Welt zu optischen Zwecken konstruiert; in neuerer Zeit stellt man Teleskope her, deren Riesenobjektive, als Brenngläser benutzt, von geradezu haarsträubender Wirkung sein müßten. Und diese wichtigen Hilfsmittel zur Enteisung des Poles dienen bislang bloß einer wertlosen Spielerei; denn es mag ja für Leute, die sonst nichts zu tun haben, ganz unterhaltend sein, den Gang der Gestirne und ihre Eigentümlichkeiten zu beobachten, aber einen praktischen Wert hat es doch nicht! Sollte schließlich auch so ein Sterngucker entdecken, daß unsere Erde in so und so viel Jahren mit dem Kometen Modell 70 auf 71 oder sonst einem zusammenstoßen werde, so könnte das nur unnötigen Schrecken Hervorrufen, ohne daß die Katastrophe sich vermeiden ließe.
Darum sage ich: Fort mit den Linsen! Fort damit an den Nordpol! Dort werden sie der Menschheit unschätzbare Dienste leisten!
Bald wird das geschmolzene Eis in Bächen und Strömen ins Meer sich ergießen, neue Polarströme werden entstehen und eilen, die Äquatorküsten abzukühlen, während neue Gegenströmungen aus den tropischen Gewässern dem Pole zustürzen werden, die Arbeit der Menschen zu unterstützen.
Aber noch mehr, meine Herren! Welche ungeheure Menge von Kriegsschiffen aller Nationen durchqueren, nur um zu fahren, die Gewässer aller Breitengrade? Schicken wir sie an die Grenzen des Polareises, dort werden sie der gesamten Menschheit zum Nutzen werden, statt ihr wie bisher zu schaden! Befördern wir das Heer der Arbeitslosen und Nörgler auf diesen Schiffen dorthin; da gibt es Arbeit in Hülle und Fülle; da können sich die Hitzköpfe abkühlen; mit allen Werkzeugen und Maschinen moderner Technik ausgerüstet, mögen sie den Kampf mit dem Polareise aufnehmen.
Schon dadurch können wir die soziale Frage auf Jahre hinaus als gelöst betrachten. Mangel an Arbeit gibt es nicht mehr, und allen Klassen der Unzufriedenen und Umstürzler wird eine angemessene und willkommene Beschäftigung geboten. Man denke einmal, die Lust für die Spartakisten, ihrer Vorliebe, mit Dynamit usw. zu knallen, ungestraft frönen zu dürfen. Den ganzen Tag können sie dort oben Bomben werfen, Minen anlegen, Eisberge in die Luft sprengen! So werden die verderblichen Elemente und Kräfte in den Dienst der Menschheit gestellt.
Die losgelösten Blöcke werden aus den Schiffen nach dem Süden geführt, größere Eisberge und schwimmende Eisfelder ins Schlepptau genommen. Sowie sie in die wärmeren Zonen gelangen, schmilzen sie von selbst und führen der Luft der Tropen die so hochnötige Abkühlung und Feuchtigkeit zu. Auch die Sahara und andere Wüsten können als Ablagerungsstätten für die Eismassen dienen, bis sie durch andauernde Befeuchtung und Abkühlung in fruchtbare Landstrecken verwandelt, neue Kolonisationsgebiete abgeben.
Ich verhehle mir nicht, meine Herren, daß viel, sehr viel Eis in den Polargegenden ist; aber bedenken Sie, daß bisher gar nichts, auch rein gar nichts dagegen unternommen wurde. Wir aber setzen soviel Hilfsmittel und Arbeitskräfte in Bewegung, daß es sonderbar zugehen müßte, wenn der Nordpol nicht binnen weniger Jahre vom Eise gesäubert sein würde.
Und dann, meine Herren, ist der Nordpol entdeckt! Die Reise dorthin wird eine Vergnügungstour sein; ja die arktischen Regionen werden aufblühen, wir werden eine Sommerfrische am Nordpol haben, ein Hotel zur Erdachse, und die Gefahren und Entbehrungen in Nacht und Eis sind ein für allemal zu Ende.
Ist die Arbeit am Nordpol vollbracht, so werden durch klimatischen Ausgleich so viele neue Kulturländer der Menschheit erschlossen sein, in soviel öden Gefilden wird der Wohlstand aufblühen, so viele neue Existenzmittel werden geschaffen sein, daß die Arbeiter entlassen werden könnten, ohne daß man neue Notlagen befürchten müßte. Jedenfalls wird aber der großartige Erfolg es nahe legen, sofort das gleiche weltverbessernde Werk auch am Südpol zu beginnen.
Auch zweifeln wir nicht, daß im Laufe dieser segensreichen Arbeiten ein solch begeistertes Friedensband die Nationen umschlingen wird, daß bald alle stehenden Heere, alle Vorräte an Schießpulver und anderen Sprengstoffen, die man bisher nur hielt, um einander bange zu machen, in den Dienst der Entgletscherung der Pole gestellt werden, um das menschheitsbeglückende Werk so rasch als möglich zu fördern.
Meine Herren, ich eile zum Schluß und erhebe nun noch die Frage:
Wie wird es dann aussehen?
Es ist schwer, auch nur annähernd ein Bild davon zu entwerfen, welche Segnungen die Säuberung der Polargegenden vom Eise unserer Erde bringen werden.
Durch die Ausgleichung der klimatischen Gegensätze wird einmal den so überaus verheerenden Stürmen, Orkanen und Zyklonen ein dauerndes Ziel gesteckt; in Amerika wird keine Stadt mehr vom Erdboden weggeblasen werden, die Schiffahrt auf allen Meeren wird vollkommen gefahrlos sein, zumal auch die Meeresströmungen an Gewalt verlieren; ein Ausflug eines Ruderklubs nach Amerika oder Australien wird bald in Sportkreisen nichts Auffallendes mehr haben.
Auch schadenbringende Gewitter und Hagelschlag werden kaum mehr vorkommen. Die Temperaturunterschiede auf der Erde werden gerade noch genügen, um sanfte, reinigende und befeuchtende Luftströmungen zu erzeugen. Dann steht auch zu erwarten, daß Regen und Sonnenschein sich gleichmäßiger über die Erdoberfläche verteilen und regelmäßiger abwechseln, so daß nirgends und nie verderbliche Trockenheit oder Nässe eintritt, von Überschwemmungen gar nicht zu reden. Schon dadurch werden wesentliche Verlust- oder Notstandsquellen abgeschnitten und sichere Wohlstandsquellen eröffnet; aber auch den schrecklichsten Krankheiten und Seuchen wird jede Existenzbedingung genommen.
Vor allem aber wird der bitterböse Nordwind seine Schärfe und Rauheit einbüßen; wie ein mildes Frühlingswehen wird er vom Pol herübersäuseln, wo die neuen Ansiedler auch in der Polarnacht keine größeren Eismassen mehr aufkommen lassen. Da natürlich die Gletscher der Alpen verschwinden und auch im nördlichsten Europa die Temperatur nie mehr den Nullpunkt erreicht, muß der Pol sämtlichen Eiskellern der Welt ihren Bedarf liefern.
Schon im Beginne des großen Werks wird unser Klima von Jahr zu Jahr wärmer. Die Bedürfnisse verringern sich, während sich die Wohlstandsquellen vermehren. An Nahrungsmitteln ist Überfluß, Heizungsmaterial wird nur noch zu technischen Zwecken gebraucht; der Mensch muß nicht mehr mühevoll um ein entbehrungsreiches Dasein kämpfen, sieht sich auch nicht mehr durch schreckliche Naturereignisse der Früchte seiner Mühen beraubt; mit leichter Arbeit kann sich auch der Ärmste ein behagliches Leben schaffen, Wohlstand und Zufriedenheit blühen überall empor, die Schutzzölle fallen mit großem Gepolter, und ein brüderliches Band umschlingt die beseligten Nationen.
In den deutschen Palmenhainen reichen Affen und Papageien dem biederen Staatsbürger die Bruderhand. Kokosbutter wächst im Land, ebenso Samt und Baumwolle, Südfrüchte und Kolonialwaren; die Seidenzucht wird großartig betrieben, der Vogel Strauß wird mit anderem Federvieh gezüchtet, keine Ohnmachten, keine Tränenströme mehr, um dem Gatten eine neue Toilette oder einen teuren Hut abzuringen!
In den sumpfigen Niederungen reift der Reis dem köstlichen Risotto entgegen; dem früher so geplagten Arbeiter nimmt sein Haustier, der Elefant, die schwere Arbeit ab; und da der Kampf ums Dasein aufhört, können die meisten Arbeitskräfte in den Dienst des Luxus und der Behaglichkeit gestellt werden.
Ja, meine Herren! Die soziale Frage ist gelöst! Neid, Eifersucht und Parteihader weichen der Zufriedenheit und Eintracht, die Nationen leben im ewigen Frieden nebeneinander, wer wird sich und anderen das Leben zwecklos verbittern wollen, wer wird noch den Weg des Verbrechens betreten?
Auch der Geringste wird von den Genüssen des Lebens nicht mehr ausgeschlossen sein, in seinem geschmückten Heim ergibt er sich der sorglosen Behaglichkeit, dem sonnigen Humor. Die holde Poesie findet eine Stätte bei ihren früheren Verächtern.
Meine Herren! Die Rührung übermannt mich, und, wie ich sehe, auch Sie! Schämen wir uns nicht dieser Tränen: es sind Tränen edelster Freude! Sind es doch nicht utopische Träume oder Zukunftsbilder fernster Jahrhunderte, die ich vor Ihnen entrollt habe: in wenigen Jahren kann das alles Wirklichkeit sein!
Ja, meine Herren! Ich zweifle nicht daran, daß von heute ab, da ich meine ausgereifte Idee der Öffentlichkeit übergeben habe, der unfruchtbare Streit der Sozialpolitiker und Nationalökonomen ein für allemal einer fruchtbaren Arbeit am Nordpole Platz machen wird.
Das Land dort soll bald eine blühende deutsche Kolonie sein; denn ich, als Urheber des völkerbeglückenden Gedankens, nehme es schon heute für mein Vaterland in Besitz.
Laut aber wollen wir es hinausrufen in die staunende Welt: ›Alles, was Bildung hat, alles, was ein Herz hat für die Not der Zeit, alle unzufriedenen und hadernden Parteien, alle Männer der Wissenschaft, die für den Nordpol sich so sehr erwärmen, alle eifersüchtigen Großmächte Europas, Asiens und Amerikas, ja selbst du, Jungafrika, findet euch zusammen zu dem größten Friedenswerk!‹
Und wenn die letzte Eisscholle des Nordpols am Äquator schmilzt, und wenn der letzte kalte Hauch des Nordens sich in mildem Frühlingswehen auflöst, dann mögen sich die jubelnden Nationen am entdeckten Pole die Hand reichen zum ewigen Völkerfrieden!
Ein Eisblock aber bleibt stehen, als nordpolisches Nationalheiligtum, und an diesem wird zur dauernden Erinnerung und zum Schutze gegen das Publikum ein Plakat angebracht mit folgendem Wortlaut:
›Der letzte Eisberg des Nordpols. – Notabene! so sah es früher hier überall und durch die Bank aus. Es ist strengstens verboten, sich Eisstücke zum Andenken abzusplittern oder den Eisberg zu berühren, da er unter der Wärme der Hand schmilzen würde und dann nicht mehr da wäre.‹«
Unter dem jubelnden Beifall der Zuhörer verließ Kapitän Münchhausen stolz die Rednertribüne, um sich durch einen guten Trunk zu stärken, den Eva ihm lachend kredenzte.