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Als man nach der Abendmahlzeit gemütlich im großen Speisesaal versammelt saß, äußerte sich unser junger Freund ganz begeistert über Münkhuysens Erfindung des Paläoskops.
»Ist eine höchst mangelhafte und völlig zwecklose Erfindung!« bemerkte Kapitän Münchhausen trocken.
»Wieso?« rief Ernst erstaunt und entrüstet, während Baron Münkhuysen herzlich lachte, da er seinen Vetter als Schalk kannte. Diesmal jedoch war es diesem anscheinend ernst.
»Verstehen Sie etwas von der Optik, junger Mann?« fragte er zurück.
»Besondere Fachkenntnisse besitze ich auf diesem Gebiet allerdings nicht; aber ich weiß doch immerhin so viel davon, als zur allgemeinen Bildung nötig ist.«
»Genügt vollkommen! Sie werden mir also erklären können, warum uns die Gegenstände, die wir durch ein Vergrößerungsglas betrachten, größer und dementsprechend näher gerückt erscheinen?«
»Gewiß! Die Lichtstrahlen, die von dem Gegenstand ausgehen und unser Auge treffen, werden durch das gewölbte Glas der Linse stark gebrochen, so daß sie uns als aus einer ganz anderen Richtung kommend erscheinen, und zwar von viel weiter auseinanderliegenden Punkten. Dadurch erscheint die durch das Glas betrachtete Sache nach allen Richtungen weit ausgedehnter, folglich viel größer, als sie in Wirklichkeit ist.«
»Gut gebrüllt, Löwe!« lachte der Kapitän. »Demnach ist die Vergrößerung nur Schein und keine Wirklichkeit, da die Strahlen nicht tatsächlich aus der Richtung kommen, aus der sie uns infolge der Brechung zu kommen scheinen?«
»Selbstverständlich!«
»Verstehen wir uns recht! Das Bild des Gegenstandes scheint uns bloß größer, der Gegenstand selber ist aber nicht etwa tatsächlich größer geworden oder wirklich vergrößert?«
»In der Tat!«
»Demnach handelt es sich also nur um eine Einbildung, eine sogenannte optische Täuschung. Wir bilden uns lediglich, durch die Brechung getäuscht, ein, die Strahlen kämen aus einer Richtung, aus der sie in Wahrheit gar nicht kommen, und infolgedessen bilden wir uns ebenso irrtümlich ein, den Gegenstand größer zu sehen, als er tatsächlich ist.«
»Man wird das wohl zugeben müssen«
»Nun also, Herr Frank: durch eine armselige Glaslinse lassen wir uns so foppen und nehmen eine grobe Täuschung wie Wirklichkeit hin. Wozu brauchen wir eine Linse? Weg mit ihr! Sollten wir es nicht fertig bringen, auch ohne das überflüssige Glas uns genau das gleiche einzubilden? Dann sind wir nicht mehr abhängig von dem äußerst beschränkten Brechungsvermögen der Linse, sondern wir können uns einbilden, die Strahlen kämen aus einer tausendmal, millionenmal, milliardenmal seitwärts entfernteren Richtung, und sofort werden wir den Gegenstand auch um ebensoviel vergrößert und nähergerückt sehen. Mittels der einfachen Einbildungskraft, die ja auch allein die optische Vergrößerung bedingt, könnten wir uns die entferntesten Sterne in greifbare Nähe rücken, so daß wir die kleinste Mücke daraus zu erkennen vermöchten. Sie werden zugeben müssen, daß diese Erkenntnis all die mangelhaften Hilfsmittel, wie Mikroskop, Teleskop und Paläoskop völlig entbehrlich machen und die Welt keine Schranken noch Grenzen mehr für unser Auge haben könnte, sobald wir nur lernten, uns unserer Einbildungskraft zweckmäßig zu bedienen, unabhängig von jenen plumpen optischen Täuschungsmitteln.«
Ernst war ganz verblüfft, wagte jedoch nur einzuwenden: »Das mag ja theoretisch richtig sein, aber praktisch …«
»Ach was, praktisch!« unterbrach ihn der Kapitän. »Sagen Sie mir einmal, was sehen Sie, wenn Sie in der Dunkelheit mit der Stirne an einen Kasten stoßen?«
»Ich sehe Funken.«
»Wirkliche oder eingebildete?«
»Eingebildete, natürlich.«
»Und doch so deutlich, wie wirkliche?«
»In der Tat!«
»Und nun, lieber Freund, ist es Ihnen noch nie vorgekommen, daß Sie in der Dunkelheit durch den Flur gingen und plötzlich zurückprallten, weil Ihnen auf einmal einfiel: ›Halt! Da steht ja ein Kasten! Beinahe wäre ich mit dem Kopf daran gestoßen!‹ Und, siehe da! im Augenblick, da Sie in diesem Gedanken zurückweichen, sehen Sie deutlich jene gleichen eingebildeten Funken, obwohl Sie sich gar nicht stießen, sondern bloß dachten, Sie hätten sich stoßen können?«
»Allerdings ist mir auch dies schon öfters begegnet.«
»Also, was wollen Sie?« schloß Münchhausen: »Sie sehen, daß die Einbildung auch ohne den mechanischen Reiz, nämlich den Stoß, genau das gleiche Bild hervorzubringen vermag, wie der Stoß selber. Das ist ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß die Einbildung auch ohne Linse das vergrößerte Bild erzeugen könnte, wenn wir nur unsere Einbildungskraft in dieser Richtung üben und ausbilden wollten.«
Diese Behauptungen hatten etwas so Einleuchtendes, daß sich ein lebhafter Meinungsaustausch darüber entspann, wobei mehrere der Herren des Kapitäns Aufstellung als durchaus wahrscheinlich verteidigten, während die Zweifler keine triftigen Gründe vorzubringen wußten, um sie wirksam zu widerlegen.
Münchhausen selber machte dem Streit ein Ende, indem er sagte: »Beruhigen Sie sich, meine Herren, in der Überzeugung, daß ein Mann wie ich unbedingt recht haben muß. Übrigens ist diese Frage für uns nicht so wichtig. Viel wertvoller ist es, angesichts unserer Pläne, das praktischste Mittel zu erörtern, zum Südpol zu gelangen. Ich als alter Polarforscher könnte Ihnen auch da die Wege zeigen; ich habe einmal einen Vortrag über die Entdeckung des Nordpols und die Lösung der sozialen Frage ausgearbeitet, und da der Südpol genau auf die gleiche Art am leichtesten zu erreichen ist, möchten Sie Vorteil daraus ziehen können.«
Alsbald erscholl der Saal von den Rufen: »Aufs Podium, Kapitän! Hinauf an das Rednerpult! Halten Sie Ihren Vortrag! Wir sind ganz Ohr!«
Am einen Ende des Speisesaals stand auf einer kleinen Bühne ein Rednerpult, und Münchhausen, durch die lebhaften Zurufe anscheinend geschmeichelt, bewegte gemessenen Schrittes und stolz zurückgeworfenen Hauptes seine Körperfülle nach der Empore, verschanzte sich hinter dem Pult und begann ohne weitere Vorbereitung folgendermaßen:
Weiter kam er für diesmal nicht, denn er wurde jäh unterbrochen durch zwei Schüsse, die im Park hinter dem Hause fielen, unmittelbar unter den Fenstern des Speisesaales. Dann hörte man staunend Michael Mäusles Stimme eine schwäbische Donnerrede halten.
Als die Gesellschaft sich von ihrer Verwunderung etwas erholt hatte, stürmten alle hinaus, den verdächtigen Vorgängen auf den Grund zu kommen.
Michael Mäusle hatte sich vor etwa einer Stunde in den nächtlichen Garten begeben. Ihn beschäftigte der Entwurf zu einem großartigen Drama, dem er in der Einsamkeit nachhängen wollte.
Immer greifbarer gestaltete sich der Plan in seinem Dichtergeist, als er plötzlich vier verdächtige Gestalten daherschleichen sah. Er saß auf einer im dichten Gebüsch verborgenen Bank, von der aus man durch die Zweige blicken konnte, ohne von außen her bemerkt werden zu können, zumal jetzt bei Nacht, wo es im Gebüsch noch weit dunkler war als im lichteren Gehölz.
Die Männer hielten hart an der Hecke an, ehe sie vollends unter den Bäumen vortraten auf den freien Platz, der das Haus umgab. Mäusle besaß ein außerordentlich scharfes Gehör. Er hätte dessen kaum bedurft, um aus solcher Nähe jedes Wort zu verstehen, das die Eindringlinge miteinander flüsterten, ohne natürlich zu ahnen, daß ein Lauscher in der Nähe sei.
Der Schwabe mußte die Fremden für Spitzbuben halten, da sie offenbar über die Parkmauer gestiegen waren, und Spitzbuben darf man mit gutem Gewissen belauschen, ja es ist sogar Pflicht, wenn man Gelegenheit dazu hat, denn es kann einem ermöglichen, einen Schurkenstreich zu verhindern.
Das leise Gespräch der Kerls ließ keinen Zweifel über ihre Absichten übrig.
»Der Saal ist hell erleuchtet,« sagte der eine.
»Tut nichts!« erwiderte ein anderer: »Wir können unmöglich warten, bis sich die Herren zu Bett begeben, denn wir müssen das Schiff vor seiner Abfahrt erreichen, um sofort unsere Beute in Sicherheit zu bringen. Übrigens kenne ich als früherer Diener des Barons die Gelegenheit genau und habe vor meinem Abgang die Gitterstäbe soweit durchfeilt, daß wir sie geräuschlos ausbrechen können, die Einschnitte füllte ich mit geknetetem Weißbrot aus und rieb sie mit Eisenrost ein, so daß auch das schärfste Auge keine Spur meiner Tätigkeit entdecken kann.«
»Also, du führst uns,« entschied der Dritte, offenbar das Haupt der sauberen Gesellschaft. »Der Peter bleibt hier als Wache zurück. In einer Viertelstunde ist der Geldschrank durchgeschmelzt und einige Millionen sind unser, denn der Baron hat das bare Geld bereit, um die hohen Rechnungen für seine Einkäufe bar zu bezahlen, ehe er abfährt.«
»Das wissen wir alles schon lange,« brummte der Vierte: »Verlieren wir keine kostbare Zeit mit unnützen Reden. Und das Anstecken der Bude würde ich unterlassen, es nützt uns nichts.«
»Es kann uns aber auch nichts schaden,« zischte der frühere Diener eifrig: »Ich habe auch hierfür sorgfältige Vorbereitungen getroffen und will dem Baron einen Denkzettel dafür geben, daß er mich so schmählich fortgejagt hat.«
»Womit er sehr recht und weise handelte,« kicherte der Anführer.
Mäusle hätte sich unter den Bäumen unbemerkt auf die andere Seite des Schlosses schleichen können, um den Einbruch zu verraten und noch beizeiten durch die Dienerschaft des Barons vereiteln zu lassen. Aber dieser Gedanke kam dem Dichter gar nicht, während es ihm feststand, es sei seine Pflicht, die Gauner an der Ausführung ihres Vorhabens zu verhindern.
Weitsprung und Hochsprung waren seine ganz besondere Fertigkeit: mit einem Satz sprang er über das nicht allzuhohe Buschwerk und stand wie vom Himmel gefallen vor den Verbrechern. Trotz ihrer grenzenlosen Überraschung waren zwei derselben geistesgegenwärtig genug, sofort ihre Revolver aus dem Gürtel zu ziehen. Allein zwei blitzschnelle Faustschläge schmetterten auf ihre Handgelenke nieder, so daß ihnen die Waffen entfielen und sie vor Schmerz laut aufstöhnten.
Inzwischen hatten sich auch die beiden anderen rasch von ihrer anfänglichen Erstarrung erholt und drückten fast gleichzeitig ihre Drehpistolen auf Mäusle ab. Das waren die beiden Schüsse, die man im Speisesaal gehört hatte.
Aber Mäusle war im Augenblick, da die Schüsse aufblitzten, wie vom Erdboden verschwunden. Die Räuber starrten geradeaus und wußten nicht, wo er geblieben war, bis einer um den andern rücklings zu Boden stürzte.
Der Schwabe hatte einen japanischen Kunstgriff angewendet, den er in seiner Jugend gelernt und oft geübt hatte: er hatte sich mit solcher Behendigkeit zu Boden geduckt, daß seine Gegner in der Dunkelheit die Bewegung gar nicht hatten erkennen können. Einen um den anderen hinter den Knien umfassen, diese mit scharfem Ruck an sich reißen, mit einem Kopfstoß in den Bauch nachhelfend, war das Werk weniger Sekunden. Aus diese Art wird der stärkste Mann hilflos zu Boden geschmettert, wenn ihm diese Kampfweise nicht bekannt ist und er sich nicht rechtzeitig am Kopfe des Angreifers festklammert.
Die vier Schurken schlugen mit dem Kopf hart auf den Boden und wurden dadurch zunächst etwas betäubt, so daß Mäusle den beiden Schützen ihre Revolver entreißen konnte. Nun hielt er in jeder Hand eine Waffe, die er den Gestürzten drohend entgegenblinken ließ, indem er sie andonnerte: »So! Hent ihr denkt, ihr könnet de Michel Mäusle aus Gschlachtebretzinge nur so mir nex dir nex abmurkse? So ebbes laßt der se net g'falle! Ihr seid mer e saubere Bande! Einbreche, Geld raube, wo für bessere Zweck b'schtimmt isch, wie ihr se heget, und z'letschte no dees Schlößle a'brenne! Daderfür sott mer euch glei an'n Galge hänge. Oho! ufschtehe möchtet ihr? Dees tät euch passe! Aber mir paßt's net. Wer se regt, kriegt e blaue Bohn, dees merket euch: da gibt's keine Würschtle!«
Jetzt stürzte Neeltje heran mit Eva und ihnen folgten die Herren und die gesamte Dienerschaft des Schlosses mit Lichtern und Laternen.
»So ischs recht!« rief ihnen der Schwabe entgegen. »Do hau i so e paar elende Schpitzbube unschädlich g'macht. Ich wollte sagen: hier liegen vier Schurken, die einbrechen, rauben und das Schloß in Brand stecken wollten. Es wird am besten sein, sie sofort der Polizei zu übergeben.«
»Was!« rief der Baron. »Vier Kerle haben Sie überwältigt, und noch dazu so stämmige Bursche? Wie konnten Sie das nur fertig bringen? Sind Sie verwundet?«
»Das glaube ich nicht, wenigstens spüre ich nichts dergleichen. Ich bin den Kugeln wohl noch rechtzeitig ausgewichen. Im übrigen war die Sache ganz einfach: ich konnte die Kerls zufällig belauschen und da ich natürlich ihre schwarzen Pläne vereiteln mußte, habe ich sie so plötzlich als möglich zu Boden geworfen. Es ist dies eine ganz leichte Sache, ein kleiner Kunstgriff, der gar keine besondere Kraft erfordert.«
»Nanu, hören Sie mal!« rief Professor Schulze. »Da hört sich doch alle Wissenschaft auf! Dem Manne da ist die Überwältigung von vier baumstarken Burschen nur ein kleiner Kunstgriff!«
»So ist mein Mann,« sagte Neeltje strahlend, da sie sah, wie glücklich die Sache wieder für ihren Gatten abgelaufen war: »Er verübt geradezu tollkühne Heldentaten, ohne der Gefahr die geringste Beachtung zu schenken, und hernach behauptet er, da sei überhaupt nichts dahinter.«
»Und dabei waren die vier mit Revolvern bewaffnet und Professor Mäusle war waffenlos!« bemerkte der Kapitän bewundernd.
»Solche ganz einfache Kunstgriffe macht Ihnen kein anderer nach!« meinte Raimund, und Doktor Maibold fügte hinzu: »Sie lehren einen die echten Schwabenstreiche kennen und zeigen uns, daß Sie in den Niederlanden der gleiche Held sind, als der Sie uns aus Ihren sagenhaften afrikanischen Taten bekannt wurden.«
»Das ist mein leidiges Schicksal,« seufzte Mäusle, »daß man meine einfachsten Erlebnisse zu fabelhaften Heldentaten stempelt, weil Umstände, für die ich rein nichts kann, ihnen etwas Ungewöhnliches zu verleihen pflegen. Aber ich bitte Sie, mich mit weiteren Redensarten zu verschonen.«
Inzwischen trafen die Schutzleute ein, die der Baron sofort hatte herbeirufen lassen, legten den Spitzbuben Handschellen an, nahmen den Sachverhalt zu Protokoll und zogen dann mit den Gefangenen ab.