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29.
Ein Trugschluß

Eines Tages kam ein merkwürdiger Streitfall zwischen zweien der italienischen Matrosen vor.

Münkhuysen hatte im Laufe eines wissenschaftlichen Gesprächs die Behauptung ausgestellt, einen wissenschaftlichen Beweis gebe es überhaupt nicht.

»Das meinen Sie doch nicht im Ernst!« wandte Doktor Maibold mit seinem spöttischen Lächeln ein.

»Wieso nicht im Ernst?« entgegnete der Baron: »Was kann denn die Wissenschaft mehr, als Gründe anführen, die eine ihrer Aufstellungen wahrscheinlich machen? Diese Gründe sind meist sehr zweifelhafter Natur; sie genügen aber vielleicht, um anderen einzuleuchten, namentlich solchen, die das Pulver nicht erfunden haben; dann wird gleich geschrieen: ›Dies ist ein feststehendes, bewiesenes wissenschaftliches Ergebnis!‹ Später kommt einer mit noch besseren Gründen und stößt das gesicherte Ergebnis um, bis man nach einiger Zeit wieder erkennt, daß auch seine ›Beweise‹ nicht stichhaltig waren. Dann kommt man auf etwas Neues oder greift wieder auf das Alte, angeblich Widerlegte, zurück. Jedesmal aber sehen die überzeugten Anhänger einer solch wackligen wissenschaftlichen Behauptung mit spöttischer Verachtung auf alle herab, die es noch wagen, an dem ›allgemein anerkannten Ergebnis‹ zu zweifeln, und das sind eben die Klügeren.«

»Aber einen mathematischen Beweis gibt es doch!« wandte Holm ein: »Und dieser hat den unbestreitbaren Vorzug, durchaus zuverlässig zu sein.«

»Schöner Beweis das!« lachte der Baron: »Sie sagen: eins und eins wollen wir der Kürze und Bequemlichkeit halber ›zwei‹ nennen, also ist eins und eins – zwei! Zwei und zwei nennen wir vier, also ist zwei und zwei oder zweimal zwei gleich vier. Ist das ein Beweis? Das ist lediglich eine Übereinkunft. Nie wird es jemand einfallen, zu behaupten, der Satz ›Äpfel und Birnen sind Obst‹, sei ein wissenschaftlicher Beweis. Es ist doch nur ein Übereinkommen, daß wir verschiedenartige Baumfrüchte unter dem Namen ›Obst‹ zusammenfassen. Die gesamte Mathematik beruht auf nichts anderem, als auf dieser Übereinkunft, die für jede Summe von Einheiten besondere Namen ausgemacht hat, um durch dieses vereinfachte Verfahren eine mühsame, bis ins Unendliche gehende Aufzählung von Einheiten zu ersparen. Sehen Sie, das sind die einzig sicheren Beweise, die wir haben, Übereinkünfte, weiter nichts. Von einem mathematischen Beweis kann im Ernste nur der reden, der nicht die geringste Ahnung vom eigentlichen Wesen der Mathematik hat. Es ist im Grunde durchaus falsch, zu sagen ›zweimal zwei ist vier‹ und gar zu wähnen, es handle sich hierbei um eine erwiesene wissenschaftliche Tatsache. Richtig hieße es: ›Man ist übereingekommen, zweimal zwei, oder besser eins und eins mal eins und eins Vier zu nennen‹. Können Sie etwa beweisen, daß das bekannte langohrige Grautier ein Esel ist? Nein! Sie können lediglich feststellen, daß man ihm diesen Namen beigelegt hat, und damit fertig!«

»Das ist richtig!« mischte sich Mäusle in die Erörterung: »Niemand kann beweisen, daß ein Gaul ein Pferd ist, sondern nur feststellen, daß er auch Pferd genannt wird. So ist der fälschlich als Beweis bezeichnete sogenannte mathematische Beweis nur deshalb unanfechtbar, weil seine Voraussetzungen durch allgemeine Abmachung anerkannt werden.«

»Was ist dann aber überhaupt gewiß?« fragte Neeltje.

»Eigentlich gar nichts,« erklärte Münkhuysen: »Glauben allein bringt Gewißheit, das heißt persönliche Überzeugung, die an und für sich keinerlei Gewähr der Wahrheit bietet. Vor allem gilt es für den angeblichen wissenschaftlichen Beweis, daß er Beweiskraft nur für den hat, der ihm Glauben schenkt. Immerhin, Tatsachen bieten die größte Sicherheit. Das, was wir sehen und hören, mit den Sinnen wahrnehmen, sind Erfahrungstatsachen. Sie bieten uns die größtmögliche Sicherheit, ohne jedoch völlige Gewißheit gewähren zu können, weil Irrtum nie ausgeschlossen ist, auch Massenirrtum nicht. Einesteils sind wir häufig Sinnestäuschungen unterworfen, andernteils bilden wir uns oft schon nach ganz kurzer Zeit ein, etwas völlig anderes wahrgenommen zu haben, als tatsächlich der Fall war. Endlich ziehen wir vielfach ganz verkehrte Schlüsse aus unseren Wahrnehmungen und halten dann diese falschen Schlußfolgerungen für die Tatsache selbst. Auch Suggestion spielt eine ausschlaggebende Rolle bei den meisten Überzeugungen. So kommt es denn häufig vor, daß auch die wahrheitsliebendsten Zeugen übereinstimmend mit bestem Gewissen beschwören, was dem wirklichen Tatbestand in keiner Weise entspricht.«

So weit war das Gespräch gediehen, als ein heftiger Wortwechsel im Hintergrund des Raumes die Aufmerksamkeit ablenkte. Zwei der italienischen Matrosen waren in lebhaften Streit geraten, und der Baron erkundigte sich sofort nach der Ursache des Zwistes.

»Mir ist vorhin ein Goldstück zu Boden gefallen,« berichtete der eine der Streitenden, namens Luigi: »Carlo hob es auf und behauptet nun, es gehöre ihm.«

Der Matrose Carlo erklärte seinerseits: »Das Goldstück ist mir aus der Westentasche entglitten. Ich hatte es darinnen aufbewahrt, und finde nun, daß es nicht mehr drin ist, wohl aber ein Loch, das ich bisher nicht bemerkt hatte.«

»Sind Zeugen vorhanden?« fragte Münkhuysen ruhig.

»Gewiß!« sagte Professor Raimund: »Ich sah deutlich, wie dies Goldstück aus Luigis Hosentasche fiel, als er sein Taschentuch zog; es rollte dann am Boden hin, wurde aber gleich von Carlo gefunden.«

»Wir können das bestätigen,« versicherten die Steuermänner Geloso und Cavini übereinstimmend: »Denn wir sahen es auch.«

»Somit ist der Streit entschieden,« urteilte der Baron: »Ich hoffe, Carlo, daß du dich nicht etwa aus niederer Gewinnsucht zu einer häßlichen Lüge hast verleiten lassen, sondern daß du dich nur getäuscht hast und dein Goldstück in einer andern Tasche finden wirst. Dieses jedoch gehört auf Grund des Zeugnisses dreier zuverlässiger Augenzeugen dem Luigi.«

»Und es ist doch das meinige!« trotzte Carlo.

»Du wirst doch nicht die Aussage dieser ehrenwerten und unparteiischen Zeugen Lügen strafen wollen?« entgegnete Münkhuysen ernstlich aufgebracht über diese vermeintliche Frechheit.

»Sie irren,« behauptete der Matrose: »Ich habe alle meine Geldstücke mit einem Kreuz bezeichnet: sehen Sie nach, ob das Goldstück, das Luigi mir nahm, nicht ein solches eingekratztes Kreuz aufweist!« Dabei zog er eine Handvoll Münzen aus der Tasche, die tatsächlich so gezeichnet waren, und das gleiche Zeichen fand sich auf dem Stück, das Luigi in Händen hielt.

Jetzt wurde der Fall rätselhaft, denn die Zeugen erklärten, alles habe sich so rasch unter ihren Augen abgespielt, daß Carlo nicht etwa in der Lage gewesen sei, heimlich sein Messer zu ziehen und dem gefundenen Geldstück ein Kreuz einzuritzen. Auch Luigi mußte dies zugeben.

In diesem Augenblick kam Eva aus einer dunkeln Ecke, in der sie heimlich mit ihrer Puppe gespielt hatte: »Da habe ich ein Goldstück entdeckt!« sagte sie.

»Richtig! Das ist das meinige,« erklärte nun Luigi: »Ich erinnere mich wieder, daß es die Jahreszahl 1900 trug; auf dem anderen steht aber, wie ich eben erst bemerke, 1897.«

»Meine Herren!« triumphierte der Baron: »Hier sehen Sie ein klassisches Beispiel dafür, wie sehr der Augenschein täuschen kann, und wie leicht wir falsche Schlußfolgerungen ziehen können, indem wir eine Wahrscheinlichkeit, an deren Wahrheit wir nicht zweifeln, für eine erwiesene Tatsache halten. Gerade das Unwahrscheinlichste ist hier die Wahrheit, und die übereinstimmende Aussage durchaus gläubiger und streng wahrhaftiger Augenzeugen erweist sich als ein ganz unerwarteter Irrtum. Luigi verlor ein Goldstück: das haben mehrere Zeugen beobachtet. Carlo hob ein Goldstück auf, das haben auch alle gesehen. Nun nahm Luigi ohne weiteres an, daß dies sein Goldstück sein müsse, und auch die Zeugen zögerten in keiner Weise, zu bezeugen, daß Carlo Luigis Goldstück aufgehoben habe. Es kam ihnen gar nicht zum Bewußtsein, daß sie nur gesehen hatten und demnach bezeugen konnten, Carlo habe ein Goldstück gefunden, und daß sie nicht wissen konnten, ob es dasselbe war, das der andere verloren hatte. An den seltsamen Zufall, daß beiden fast gleichzeitig eine Münze entfallen sein könnte, dachte keiner: das lag zu ferne. Die Zeugen waren so fest überzeugt, daß es Luigis Goldstück sein müsse, das Carlo fand, daß sie dies wohl unbedenklich auch unter Eid vor Gericht bestätigt hätten, ohne auf den Gedanken zu kommen, ihre Überzeugung könne auf einem Trugschluß beruhen, der daher rührte, daß sie eine fernliegende Kleinigkeit außer acht ließen, nämlich, daß das unter ihren Augen aufgelesene Geld ein anderes Stück sein könnte als das unter ihren Augen zu Boden gerollte. Carlos Behauptung hätte, angesichts des anscheinend so klaren Tatbestandes und der bestimmten Zeugenaussagen, vor keinem Gerichte Glauben gefunden, so wenig ich ihm Glauben schenken konnte. Und nun denken Sie sich, der Vorfall hätte sich an anderem Ort ereignet, Carlo hätte seine Münzen nicht gekennzeichnet und Luigis Münze wäre spurlos verschwunden, etwa in einem Mausloch, so wäre ihm Carlos Eigentum unbedenklich zugesprochen worden und der ehrliche Finder wäre im Verdacht der Lüge und des Diebstahls geblieben. Ähnliches geschieht unzähligemal im Leben; darum sollten wir uns hüten, auch die bestbezeugten Vorkommnisse für zweifelsfrei feststehend und unerschütterlich zu halten.«

»Da hört sich allerdings alle Wissenschaft auf!« meinte Schulze, »und alles wird unsicher und zweifelhaft. Allein die Sache stimmt leider! Meist macht man ja die Erfahrung, daß selbst die neuesten Zeitereignisse von durchaus glaubwürdigen Augenzeugen ganz verschieden dargestellt werden. Es sieht eben jeder mit seinen Augen und dazu mit seiner Phantasie, jeder urteilt von seinem Standpunkt und zieht seine Art von Schlußfolgerungen, an deren Richtigkeit er nicht zweifelt. Der eine übersieht, was gerade dem anderen auffällt, und leugnet es hernach im besten Glauben. Einer steigert und übertreibt ganz unbewußt, was ihm besonders ins Auge fiel, und ein anderer, dem das Gleiche nebensächlich erschien, verkleinert es, ebenfalls ohne schwindeln zu wollen: so ist es eben ihm erschienen. Wenn nun schon auf die Richtigkeit dessen kein Verlaß ist, was alle Zeugen übereinstimmend bekunden, wie soll die Wahrheit mit irgendwelcher Zuverlässigkeit ermittelt werden, wo sich die Zeugnisse widersprechen, wie es meist der Fall ist? Da neigt man sich immer der größten Wahrscheinlichkeit zu, während die Wahrheit häufig, ja man kann sagen meist, auf seiten der größten Unwahrscheinlichkeit liegt. Und nun, welch lächerlicher Wahn, sich einzubilden, die Wissenschaft sei imstande, die Wahrheit über Jahrtausende zurückliegende Tatsachen herauszuklügeln, verschiedene Quellen in den Urkunden richtig zu unterscheiden und sie nach ihrer Glaubwürdigkeit werten zu können. Diese ganze Spielerei steht ja doch nur im Dienst der Voreingenommenheit. Ja, wer an unanfechtbare Ergebnisse der Wissenschaft glaubt, der steckt noch in der Weisheit Kinderschuhen. Das habe ich übrigens an mir selber erlebt.«


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