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1.
Ein Notschrei aus der Eiswüste

Ich hab's!« rief Professor Frank befriedigt aus und überlas noch einmal die Zeilen, die er niedergeschrieben hatte.

Welche Mühe hatte es ihn gekostet, das rätselhafte Schriftstück zu entziffern und hernach die fremdartigen Worte einer völlig unbekannten Sprache zu deuten! Es waren nur wenige Zeilen, und doch hatte ihre Enträtselung mehrere Wochen in Anspruch genommen. Ja, eben die Kürze der Botschaft hatte die Schwierigkeit ihrer Übersetzung gesteigert, weil sie umso weniger Vergleichspunkte bot.

Daß es sich um eine Buchstabenschrift handelte, hatte Professor Frank bald erkannt, und da er in den ältesten Sprachen wohlbewandert war, fiel ihm auch sofort auf, daß die Zeichen einige Ähnlichkeit mit dem Sanskritalphabet aufwiesen. Je älter die Sprache, desto vollkommener ist sie, sowohl in der Reichhaltigkeit der Formen, als in der Fülle der schriftlichen Unterscheidung verschiedener Laute. Das Sanskritalphabet enthält nicht weniger als neunundvierzig Buchstaben, also mehr als das Doppelte unserer heutigen Alphabete. In dem vorliegenden Schriftsatz waren fünfzig verschiedene Zeichen erkennbar, und da er keinesfalls alle Buchstaben der unbekannten Sprache enthielt, war auf eine noch größere Fülle zu schließen. Der Professor schloß daraus, daß es sich um eine Sprache handeln müsse, die noch älter sei als die heilige Sprache Indiens, und höchst wahrscheinlich deren Urform darstellte. Diese Erkenntnis half ihm nach und nach, die Bedeutung der einzelnen Zeichen mit ziemlicher Sicherheit festzustellen.

Es ergaben sich hieraus Worte, die vielfach in Form und Laut an Wortstämme des Sanskrit, zum Teil auch an ägyptische und chaldäische erinnerten. Durch angestrengtes Nachsinnen und scharfsinnige Schlußfolgerungen brachte Frank allmählich die Bedeutung einzelner Worte mit großer Wahrscheinlichkeit heraus. Dabei kam es ihm zustatten, daß er die meisten toten Sprachen beherrschte und zum Vergleich heranziehen konnte. Die Bedeutung völlig fremdartiger Wörter erriet er schließlich nach vielem Tasten aus dem Zusammenhang. So kam allmählich Sinn in die geheimnisvollen Sätze und es blieben nur noch wenige Unklarheiten übrig, die jedoch die Deutung des Ganzen nicht mehr wesentlich beeinträchtigen konnten.

Jetzt war er endlich so weit und besah sich noch einmal kopfschüttelnd die Urschrift: was für eine seltsame Urkunde war das! Schon das Blatt, auf dem die Schrift stand, war etwas völlig Fremdartiges – kein Papier, kein Pergament, kein Papyrus oder sonst ein pflanzlicher Stoff! – Glatt und hart war es, wie Stein oder Metall, und doch so biegsam, daß es sich rollen und falzen ließ und beim Entfalten keine Spur eines Knicks zeigte. Dabei war es zäh, geradezu unzerreißbar und unzerbrechlich.

Ebenso merkwürdig war die Art und Weise, wie der Professor zu diesem Schriftstück gelangt war: ein Freund in Kapstadt hatte es ihm zugesandt und dazu geschrieben, er habe es in den Schwanzfedern einer Kaptaube entdeckt, die er in Südgeorgien erlegt habe.

Aber woher und von wem stammte dieses rätselhafte Blatt? Nun, darüber schien der Inhalt des Schreibens alle wünschenswerte Auskunft zu geben, doch eben diese erschien noch das Allerseltsamste von allem.

»Es sind Verse,« sprach Professor Frank vor sich hin: »Ich will versuchen, meine Übersetzung in deutsche Verse zu bringen, um der Vorlage völlig gerecht zu werden.«

Damit machte er sich wieder an die Arbeit, wenn man das Dichten, das er oft übte, eine Arbeit nennen darf.

Er kam rasch damit zustande und hatte soeben die letzte Zeile niedergeschrieben, als sein Sohn eintrat.

Dieser war ein schlanker Jüngling von zweiundzwanzig Jahren. Er hatte vor kurzem seine naturwissenschaftlichen Studien auf der Hochschule beendet und schickte sich nach glänzend bestandener Prüfung an, sich an einer Forschungsreise zu beteiligen.

»Ich bin am Ziel, Ernst!« rief ihm der Vater zu: »Endlich, endlich ist Licht in die Sache gebracht: das heißt, das Schriftstück konnte ich entziffern, der Inhalt jedoch bleibt mir völlig unerklärlich.«

»Wie lautet er denn?« fragte Ernst in höchster Spannung.

Der Professor nahm seine Übersetzung zur Hand und las:

»Im Lande umgürtet vom ewigen Eis,
Wo die Sonne sechs Monden den goldenen Kreis
Am Himmel hinführt, – welch ein trauriges Los
Erduldet Atlanta im Erdenschoß!
Sind Menschen noch sonst auf der Erde Rund,
O Taube, so tue doch du ihnen kund.
Daß hier im Gefängnis von ewigen Eis
Nach Menschen sich sehnt eine Seele so heiß!
Wohl blühen die Fluren dort oben im Licht,
Doch trösten die Blüten die Einsame nicht;
Wohl wimmeln die Wälder von grausem Getier,
Doch grüßet kein Mensch, keine Jugend mich hier.
Rings starret von ragenden Gletschern die Wand:
Wagt Keiner die Fahrt ins verschlossene Land?
O! leben noch Menschen auf Erden so weit.
Ich rufe euch, daß ihr Atlanta befreit!

Atlanta, im fünften Jahre vor der Rückkehr des fünfundsiebzigjährigen Schweifsterns.«

»Ein Notschrei aus dem ewigen Eis!« rief Ernst, aufs höchste erstaunt: »Vom Südpol natürlich, da die Kaptaube in dessen Nähe erlegt wurde. Sollte es eine Schiffbrüchige sein?«

»Das ist undenkbar,« entgegnete der Professor: »Es handelt sich, wie wir hören, um ein weibliches Wesen, das sich ganz vereinsamt fühlt. Es scheint ein junges Mädchen zu sein, dem es völlig unbekannt ist, ob überhaupt noch sonstwo Menschen auf Erden leben. Der Südpol muß also wohl ihre Heimat sein, wo sie ausgewachsen ist und die Bewohner am Aussterben oder eher schon ausgestorben sind bis auf diese Eine.«

»Nein! Wie schrecklich!« sagte der Jüngling teilnahmsvoll. Sein Vater aber fuhr fort: »Auch die bisher völlig unbekannte Schrift und Sprache beweisen, daß es sich um ein noch nicht entdecktes, in unzugänglichen Gegenden abgeschieden lebendes Volk handeln muß. Darauf weist auch der Stoff hin, aus den die Schriftzüge mit unverwüstlicher Farbe gemalt sind, und der von allen uns bekannten Stoffen wesentlich verschieden ist.«

»Höre, Papa!« rief nun Ernst lebhaft: »Ist das nicht eine ganz merkwürdige Fügung, daß uns diese Botschaft in die Hände gelangt gerade in dem Augenblick, da ich im Begriffe bin, die Südpolargegenden aufzusuchen? Vielleicht entdecken wir die Schreiberin und können sie aus ihren Nöten befreien. Ist wohl die Handschrift schon alt?«

»Durchaus nicht! Sie stammt aus diesem Jahre, wie die Zeitbestimmung beweist. Denn mit dem fünfundsiebzigjährigen Schweifstern, der in fünf Jahren wiederkehren soll, kann nur der Halleykomet gemeint sein, der im Jahre 1910 der Erde wieder erscheinen muß. Wir ersehen daraus, daß die Schreiberin einem Volke angehört, das auf einer hohen Bildungsstufe steht, denn seine astronomischen Kenntnisse befähigen es, die Kometenbahnen genau zu berechnen. So weit sind wir selber erst seit zweihundert Jahren gekommen. Zugleich erkennen wir, daß die Schreiberin scharfen Verstand und klare Überlegung besitzt: sie bestimmt nämlich das Jahr nicht nach einer Zeitrechnung, die vielleicht ihrem Volke eigen ist, von der sie jedoch denken muß, sie könne anderen Völkern unbekannt sein, sie wählt vielmehr eine Zeitrechnung, die allgemein gültig ist, und von der sie vermuten durfte, sie müsse von gebildeten Menschen auf der ganzen Erde verstanden werden.«

»Hurra!« jubelte Ernst: »Diesem klugen Geschöpfe müssen wir Hilfe bringen! Du gibst mir doch das Schreiben mit, Papa?«

»Unter keinen Umständen! Es ist eine so ungewöhnliche und ganz einzigartige Urkunde, daß ihr Verlust unersetzlich wäre. Doch habe ich sie bereits photographiert, um sie anderen Gelehrten zugänglich zu machen, und du kannst Abzüge von meiner Aufnahme haben, soviel du willst. Auch die Übersetzung kannst du hektographisch vervielfältigen.«

Der Jüngling ließ sich das nicht zweimal sagen: er bat sich drei Abzüge aus und ging dann an die Vervielfältigung der deutschen Verse.

Sowie er mit dieser Arbeit fertig war, begab er sich zu seinem besten Freunde, Georg Werner, der sich lebhaft für die geheimnisvolle Schrift interessierte, und teilte ihm mit, daß die Entzifferung geglückt sei.

Georg war um vier Jahre jünger als Ernst; er zählte achtzehn Jahre und hatte soeben die Reifeprüfung des Gymnasiums bestanden. Er war eine elternlose Waise und lebte im Hause eines Onkels, wo er sich gar nicht wohl fühlte und eine trübe Jugendzeit verbracht hatte. Sein Oheim selber war zwar ein edler, gutherziger Mann, der ihn stets väterlich behandelt hatte; allein die übrigen Hausgenossen ließen es ihn jederzeit empfinden, daß er ein Fremdling in der Familie sei.

Da hatte ihm Ernsts Freundschaft ganz besonders wohlgetan. Die beiden waren trotz des Altersunterschieds ein Herz und eine Seele. Georg war, vielleicht eben wegen seiner Heimatlosigkeit und seiner bitteren Erfahrungen, frühe gereift, und Ernst Frank konnte mit ihm verkehren wie mit einem Altersgenossen.

Nun vernahm der Freund die Deutung des rätselhaften Schriftstücks mit großer Freude und höchstem Staunen.

Die Freunde malten sich die Lage der Schreiberin aus: eine Prinzessin mußte es sein; tief unter der Erde in einem mittelalterlichen Burgverließ schmachtend, in einem einsamen Turme mitten im Gletschereis des Südpols. Um den Turm her blühten Gärten und grünten Wälder, durch geheimnisvolle Künste eines weit fortgeschrittenen Volks in den Eiswüsten hervorgezaubert. Vom Gitterfenster ihres Gefängnisses konnte die Königstochter die Pracht schauen und empfand es doppelt schwer, daß ihr das freie Streifen durch Wald und Flur versagt blieb.

Georg ließ sich einen Abzug des Originals und der Übersetzung geben und sagte: »So! Nun will ich die Sprache der verzauberten Prinzessin lernen: ich habe alles, was ich dazu brauche.«

Ernst lachte: »Du bist kühn! Das Alphabet wirst du dir ja so ziemlich einprägen können, da die meisten Buchstaben in dem Schriftstück vorkommen werden, so daß du die fremde Sprache lesen und schreiben lernen magst. Auch eine Reihe von Wörtern und Formen kannst du dir aneignen. Aber weiter in das Verständnis der geheimnisvollen Sprache eindringen zu wollen, wäre ein aussichtsloses Unternehmen: dazu ist der Wortschatz des Zettels denn doch zu gering.«

»Gewiß! Aber einen guten Anfang werde ich gemacht haben, eine ganze Reihe von Ausdrücken inne haben und vieles vom Satzbau und der Formenlehre kennen. Vielleicht finde ich dann späterhin Gelegenheit, meine Kenntnisse zu erweitern und werde dann nur noch auf geringe Schwierigkeiten stoßen. Aber wie beneide ich dich! Du darfst nach dem Südpol reisen und wirst hundert merkwürdige Abenteuer bestehen, vielleicht gar unsere Prinzessin erlösen. Und ich muß daheim bleiben! Nun, ich gönne dir dein Glück von Herzen; aber wenn ich mit könnte! Nicht rasten und ruhen wollte ich, bis ich das Rätsel des Südpols und seiner Bewohner gelöst hätte, und müßte ich tausend Gefahren und Schrecknisse überwinden!«

Allein für Georg Werner bestand keine Aussicht, daß seine Sehnsucht Befriedigung fände.


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