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33.
Die Siegfriedsage

Um die Unterhaltung möglichst abwechslungsreich und gewinnbringend zu gestalten, faßten unsere Freunde den Beschluß, daß jeder abwechselnd etwas zur Belehrung oder Erheiterung der Gesellschaft vortragen solle. Beinahe jeden Abend fand ein solcher Vortrag statt. Da bekam man interessante Abhandlungen aus den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft zu hören oder merkwürdige Erlebnisse und wertvolle Belehrungen aus eigener Erfahrung. Hie und da erzählte einer einen ganzen Roman, den er früher gelesen hatte, aus dem Gedächtnis. Eine solche Erzählung füllte oft mehrere Abende aus und ermüdete nie: in dieser kulturfernen Wildnis erschien einem eigentlich alles hochinteressant, was einem daheim vielleicht kaum beachtenswert erschienen wäre. Aber der Geschmack und die Bildung der Erzähler bürgte dafür, daß nur wirklich Gediegenes geboten wurde, und man machte die Erfahrung, daß die freie Wiedergabe aus dem Gedächtnis sich als ungleich anregender erwies, als das Vorlesen aus Büchern, das übrigens auch reichlich zu seinem Rechte kam, da nicht nur der Baron für eine reichhaltige Bücherei gesorgt hatte, sondern auch die verschiedenen Mitglieder der Gesellschaft sich mit den Werken versehen hatten, die ihnen besonders am Herzen lagen.

Als Mäusle an die Reihe kam, überraschte er die Genossen mit einem nagelneuen Drama, das er in aller Stille hier gedichtet hatte. Alle waren entzückt und hingerissen von dem Glanz der Bilder, der Tiefe der Gedanken und des Gemütes, dem poetischen Reiz seiner Verse und dem wuchtigen Fortschritt der Handlung. Vom ersten Auftritt bis zum letzten wurden die Zuhörer in atemloser Spannung gehalten.

»Das muß gedruckt werden, das muß zur Aufführung gelangen!« rief Münkhuysen begeistert aus, als Mäusle geendet hatte und die anfängliche Stille im Banne tiefster Ergriffenheit einem allgemeinen Beifallsstürme gewichen war: »Das ist doch wieder einmal ein wirkliches Trauerspiel und kein so mattes, trostloses modernes Machwerk!«

Der schwäbische Dichter lächelte wehmütig und sagte: »Wer druckt denn heutzutage noch so etwas oder welche Bühne würde es wagen, derartiges aufzuführen? Es ist eben nicht modern! Ich habe mehr als ein Dutzend solcher Schauspiele gedichtet; sie sind alle mit meinem Herzblut geschrieben: für keines konnte ich einen Verleger oder Theaterleiter finden, die sie angenommen hätten. Immer heißt es, bei aller Anerkennung: ›Es ist leider in der ganz veralteten Art eines Shakespeare, Schiller und Goethe geschrieben!‹«

»Was? Das Nieveraltende nennen diese Simpel veraltet!« tief Raimund, der Shakespeareverehrer, entrüstet.

»Die Werke dieser drei Dichterfürsten werden aber doch noch immer aufgeführt, und zwar vor vollen Häusern,« wandte Ernst ein.

»Gewiß!« bestätigte Mäusle: »Ihr großer, unerschütterlicher Ruf als Klassiker des Dramas gestattet dies. Allein wer heute dichten will, muß sich der herrschenden Richtung anbequemen und darf sich nicht an diese veraltete Weise halten, sonst kommt er nicht an. Mir ist es jedoch nicht möglich, meine Überzeugung, meinen Geschmack und meine Eigenart zum Opfer zu bringen um des Erfolges willen.«

»Sie sind ein törichter Schwärmer!« spöttelte Maibold.

Aber Holm nahm den Schwaben in Schutz: »Nein! Sie tun recht daran. Ich weiß wohl, wie der Hase läuft: wir haben heule keine großen Dichter, keine Genies, die irgend ein gewaltiges Schauspiel zustande brächten, das sich neben den Werken jener Klassiker bescheiden blicken lassen dürfte. Sie nehme ich aus, Herr Mäusle, nachdem ich eine Probe Ihrer Kunst vernehmen durfte. Die Dichterlinge von heutzutage mußten, um die Schwäche ihrer Erzeugnisse zu verschleiern und mit ihnen anzukommen, alles wahrhaft Große herunterreißen und eine neue Richtung verkündigen. In Wahrheit ist die Richtung nichts weniger als neu, es ist weiter nichts als Unfähigkeit und Poesielosigkeit. Aber die Poesie, die ihnen versagt ist, verlästern sie als ›hohles Pathos‹, und die Kritik, die ebenfalls immer nach neuem ausschaut, gibt ihnen recht und hebt ihre jämmerlichen Werke zum Himmel empor. Das Publikum langweilt sich bei diesen Schaustücken oder es wird gar von ihnen angewidert und angeödet; allein es glaubt, Beifall klatschen zu müssen und stimmt heuchelnd in das Lob der Kritik ein, aus Furcht, für ungebildet und verständnislos zu gelten. So seid ihr Deutsche: ihr habt nicht den Mut der eigenen Meinung. Gestern habt ihr ein Schauspiel begeistert beklatscht, das euch ergriff und zu Herzen ging; heute lest ihr in der Zeitung, es sei Kitsch. Und nun glaubt ihr, auch nicht anders über das wirklich hervorragende Werk urteilen zu dürfen, denn der Sachverständige hat euch belehrt, und seiner angebeteten Autorität gegenüber wagt ihr nicht mit der eigensten Meinung herauszurücken. Der unmoderne und daher wirkliche Dichter ist ein für allemal abgetan. Aus dem gleichen Grunde heuchelt ihr Entzücken über das Erbärmliche, und freut euch nur, daß ihr wenigstens die alten anerkannten Klassiker ehrlich bewundern dürft, ohne befürchten zu müssen, euch zu blamieren.«

»Ja!« bestätigte Neeltje: »Der ewige Schwindel mit alleingültigen modernen Richtungen hindert, daß uns geboten wird, was uns wahrhaft unterhalten, begeistern und erheben könnte; dafür müssen wir das Kleine bewundern, weil eine abscheuliche Mode alles tyrannisiert.«

Bald daraus hielt Kapitän Münchhausen einen Vortrag und jedermann glaubte wieder einige seiner fabelhaften Abenteuer vernehmen zu dürfen. Er aber verblüffte die Gesellschaft durch die Erklärung, er habe einen wissenschaftlichen Stoff gewählt, nämlich eine philologisch-kritische Erklärung der Siegfriedsage. Bald jedoch merkte man, daß auch hier der alte Schalk zutage trat, und daß fein angeblich wissenschaftlicher Vortrag nichts anderes war als eine blutige Satire, eine derbe Verhöhnung der Manie gewisser Jünger der Wissenschaft, aus den alten Sagen den angeblichen dürftigen Wahrheitsgehalt herauszuschälen, unter Anwendung einiger billiger Kunstgriffe und vermeintlich scharfsinniger Erwägungen. Dieser lehrreiche Vortrag lautete:

»Meine Herren und Damen!

»Entschuldigen Sie zunächst diese Anrede. Der Deutsche liebt es, dem Franzosen alles nachzumachen, und so hat er sich neuerdings angewöhnt, gleich ihnen bei seiner Anrede sowie in Verlobungsanzeigen und dergleichen die Dame voranzustellen aus französelnd windiger Galanterie. Ich kann mich dieser verächtlichen Fremdtümelei nicht anschließen, schon weil sie undeutsch, dann aber auch widernatürlich und läppisch ist. Ich bin überzeugt, daß kein echtes deutsches Weib mir dies verübeln wird.«

»Nein, nein! Gewiß nicht!« riefen Neeltje und Eva gleichzeitig.

»Also denn, meine Herren und Damen, ich beginne!« fuhr der Kapitän befriedigt fort: »Alle alten Überlieferungen müssen als sagenhaft angesehen werden, weit keine Augenzeugen mehr leben, noch Nachkommen von Leuten, die solche Augenzeugen persönlich gekannt haben. Man nennt daher Berichte aus alter Zeit, namentlich solche, die einem nicht in den Kram passen und sich nicht mit der Voreingenommenheit vereinigen lassen, auf die man seine eigenen neuesten unfehlbaren wissenschaftlichen Ergebnisse aufzubauen beliebt, kurzweg: Sagen. Auch kann man solche Überlieferungen, an denen man hoffen kann, der Mitwelt seinen glänzenden Scharfsinn beweisen zu können, getrost in das Reich der Sage verweisen. Es kostet nichts, irgend ein älteres Ereignis als wissenschaftlich unhaltbar und sagenhaft zu erklären, im Gegenteil klingt dies immer besonders wissenschaftlich und macht auf wissenschaftliche Kreise sowie auf die Laien den besten Eindruck.

»Sagen brauchen natürlich schon wegen ihres mehr oder weniger hohen Alters von keinem Menschen mehr geglaubt zu werden, im Gegenteil macht es einen ungemein gebildeten Eindruck und verleiht einem einen blendenden wissenschaftlichen Anstrich haltbarsten Glanzlackes, wenn man möglichst viel bezweifelt und sich als Ungläubigen, zu deutsch ›Skeptiker‹, brüstet. Man gewinnt durch diese Anzweiflung wertvolle und hochwillkommene Übungsstoffe, zu deutsch ›Objekte‹ um sich durch ihre mehr oder weniger geistreiche Deutung einen geachteten Namen in der Wissenschaft zu verschaffen. Für stoffarme und geistesschwache, aber strebsame junge Leute, die sich als Gelehrte aufzuspielen wünschen, gibt es kaum ein aussichtsreicheres und einfacheres Hilfsmittel.

»Dieser Stoff hat zugleich den Vorzug der größten Reichhaltigkeit, ja der Unerschöpflichkeit; denn alles, was aus alter Zeit überliefert ist, darf unbesorgt angezweifelt werden und ist damit ohne weiteres der wissenschaftlichen Untersuchung, zu deutsch ›Kritik‹, verfallen. Diese ist imstande, alles mit unfehlbarer Bestimmtheit und allgemeingültiger Sicherheit nachzuweisen.

»Diese wissenschaftliche Kritik ist berufen und befähigt, Tatsachen aus grauester Vorzeit festzustellen, die selbst von den Zeitgenossen nicht geahnt wurden, und Fäden zu entwirren, die sie mit schlagenden Gründen, inneren und äußeren, in die prächtigste Verwirrung gebracht hat. So schafft sie Fragen und Rätsel, zu deutsch ›Probleme‹, wo dem blöden Laien alles ganz einfach und klar zu liegen schien, und vermag dann mit der Lösung dieser so scharfsinnig geschaffenen Schwierigkeiten zu glänzen. Wer Anspruch auf Bildung macht und von den Zeitgenossen für voll genommen werden will, hat sich an die Behauptungen der Kritik bedingungslos zu halten und ihnen so lange kindlichen Glauben zu schenken, bis sie selber nachweist, daß ihre bisherigen, für ewige Zeiten feststehenden Ergebnisse unhaltbar sind, und andere, ebenso unumstößliche an ihre Stelle setzt, die nun jedermann bis auf weiteres anerkennen muß, falls er zu den Gebildeten gerechnet sein will.

»Die Wissenschaft kennt zwei Wege oder Art und Weisen, zu deutsch ›Methoden‹, eine Sage zu erklären: die sinnbildliche, zu deutsch ›symbolische‹, und die geschichtliche, zu deutsch ›historische‹. Erstere weist nach, daß die geschichtliche Einkleidung Naturvorgänge versinnbildlicht, während die geschichtliche Deutung klarlegt, daß zwar ein geschichtlicher Kern der Sage, zu deutsch dem ›Mythus‹, zugrunde liegt, aber nur ein magerer, mißverstandener, durch Übertreibungen und phantastische Erfindungen ausgeschmückter und verdunkelter, den allein die Wissenschaft, zu deutsch ›Omniszienz‹, einwandfrei klarzustellen vermag.

»Die sinnbildliche Erklärung ist die ungleich leichtere. Sie läßt sich ohne weiteres auf alle Sagen und geschichtlichen Tatsachen anwenden und erfordert nur einige kunstgriffliche Kenntnisse und Übung in der Mache. In der Weltgeschichte herrscht ja bekanntlich der Zug nach dem Westen vor. Da nun zufällig auch die Sonne von Osten nach Westen läuft, so läßt sich die ganze Weltgeschichte mit größter Leichtigkeit als Sonnenmythus deuten und wissenschaftlich nachweisen. Dabei kann man die einzelnen Tatsachen, die man umzudeuten wünscht, nach Belieben entweder auf den Tageslauf oder auf den Jahreslauf der Sonne beziehen. Die Tageszeiten entsprechen ja den Jahreszeiten: Morgen oder Frühling, Mittag oder Sommer, Abend oder Herbst, Nacht oder Winter. Sehr leicht ließe es sich wissenschaftlich einwandfrei nachweisen, daß es in Wirklichkeit überhaupt keine vier Jahreszeiten gibt, sondern daß diese bloß als eine Versinnbildlichung der vier Tageszeiten anzusprechen sind, oder auch umgekehrt. Die vier Lebensalter, Jugend, Mannheit, Alter und Greisenhaftigkeit können genau so als Versinnbildlichung der vier Jahres- oder Tageszeiten gefaßt werden oder diese als ein Sinnbild für jene.

»Die Weltgeschichte ist aber auch eine Geschichte des Kampfes und des Krieges, des Ringens verschiedener Völker oder verschiedener Mächte in ein und demselben Volke miteinander. Das bedeutet dann ausnahmslos entweder den Kampf des Tageslichts mit der nächtlichen Finsternis oder das Ringen des Frühlings mit den eisigen Heerscharen des Winters.

»Diese so äußerst bequeme Deutungsmethode läßt sich auch unbedenklich aus die Überlieferungen südlicher Länder anwenden, in denen Tag und Nacht kampflos, nämlich ohne Dämmerung, in einander übergehen und ebensowenig ein Kampf zwischen kalter und warmer Jahreszeit bekannt ist, weil sie keinen eigentlichen Winter haben. Dies läßt sich deshalb gut machen, weil die Ergebnisse, zu deutsch ›Resultate‹, der wissenschaftlichen Kritik fast ausschließlich für die demütig gläubigen Jünger der Wissenschaft in den nordischen Ländern bestimmt sind, die nicht so weit denken, daß ihnen ein solcher Bock zum Bewußtsein käme.

»In Geschichte oder Sage pflegen auch Liebes- und Heiratsgeschichten eine Rolle zu spielen. Diese werden auf das gedeihliche Verhältnis der Sonne zur Erde gedeutet.

»Dies sind die allgemeinen Grundsätze, zu deutsch ›Prinzipien‹, für die sinnbildliche Deutung einer Sage; die Einzelheiten vermag auch ein mittelmäßiger Kopf in das System einzupassen. Überhaupt ist alles so klar gegeben, daß von irgendwelcher Schwierigkeit nicht die Rede sein kann.

»Umständlicher und weniger leicht ist die geschichtliche Deutung. Da muß man zuerst beschließen, wie viel man als einen Kern geschichtlicher Wahrheit gelten lassen will, von dem dann alle Züge künstlich abgelöst werden, die man als sagenhaft auszuscheiden gewillt ist. Es erfordert dies schon einen gewissen Aufwand von Scharfsinn, zu deutsch ›Intelligenz‹, wenn man recht einleuchtend, zu deutsch ›plausibel‹, machen will, warum das, was einem nicht paßt, sagenhafte Ausschmückung sei, das, was man gelten lassen möchte, dagegen geschichtliche Wahrheit.

»Eigennamen muß man immer deuten, und so tun, als ob es in alter Zeit überhaupt keine Namen gegeben hätte. Hier ist ängstlich zu vermeiden, eine naheliegende Erklärung zu wählen, da dies in den Verdacht bringen könnte, man leide an Mangel an Scharfsinn und Originalität. Überhaupt bestreite man möglichst alles, was auf der Hand zu liegen scheint oder was frühere Erklärer behauptet haben, und greife zum Fernliegendsten, auf das nicht so leicht ein anderer gekommen wäre; denn da kann man mit seinem hervorragenden Spürsinn erstaunlich glänzen. Dagegen erwähne man mit hoher Anerkennung die Arbeiten neuerer Forscher, an deren günstigem Urteil einem gelegen ist. Dadurch erst wird die ganze Arbeit wissenschaftlich beachtenswert, weil man bedeutende Gönner unter den anerkannten Größen der Wissenschaft gewinnt.

»Was nun unsere Siegfriedsage betrifft, so ist sie schon des öfteren sinnbildlich gedeutet worden, und so ziemlich alle verschiedenen Möglichkeiten solcher Auslegung wurden erschöpft. Eine solche allzu leichte Erklärung verschmähe ich selbstverständlich und wähle mir dagegen die ungleich schwerere geschichtliche Deutung, da mir dies infolge meines außergewöhnlichen Scharfsinns besonderen Spaß macht.

»Aus dem Wust der sagenhaften Ausschmückungen, die in dieser Sage alles Geschichtliche überwuchert und möglichst entstellt haben, ist es eine szientisische Herkulesarbeit, die nackten Tatsachen herauszuschälen.

»Mit Absicht sage ich ›szientistisch‹, denn ich halte es für eine Schande, daß die deutsche Wissenschaft immer noch einen so unwissenschaftlichen Ausdruck wie ›wissenschaftlich‹ benutzt, für den sie viel schöner und gebildeter ›szientisisch‹ sagen kann, wie sie ja auch ›historisch, symbolisch, hypothetisch, absolute und dergleichen gebraucht, an Stelle der laienhaft ungebildeten Ausdrücke ›geschichtlich, sinnbildlich, vermutlich und unbedingt oder durchaus‹.

»Unter den vielen Entstellungen, welche die Siegfriedgeschichte, zu deutsch ›Historik, erlitten hat, ist vor allem das sogenannte Nibelungenlied zu brandmarken, dessen Name schon die ›umnebelnde‹ Absicht, zu deutsch ›Tendenz‹, verrät. Mir ist es vollkommen gelungen, den sicheren Sachverhalt herauszuklügeln, und jedermann, der Anspruch auf wissenschaftliche Bildung erhebt, hat fortan folgende unumstößliche Ergebnisse als wissenschaftlich feststehend hinzunehmen, die ich durch stundenlanges angestrengtestes Nachdenken gewann. Alle anderen Erklärungsversuche, zu deutsch ›Explikationsessays‹, haben selbstverständlich von nun an als hinfällig und als überwundener Standpunkt zu gelten.

»Der Name Siegfried ließe sich aus Sieg und Frieden ableiten, wenn dies nicht gar zu nahe läge, um wissenschaftliche Beachtung zu verdienen. Vielmehr besaß Siegfrieds Vater zweifellos einen umfriedeten Hof an der Sieg, heute Siegburg bei Köln. Daher nannte sich schon sein Vater Siegbert, eigentlich Siegbärt, was auf seinen stattlichen Bartwuchs hinweist, wie es ja dazumal beliebt war, die Leute nach äußerlichen, ins Auge fallenden Kennzeichen zu benennen. Zufällig fiel mir nach Ausarbeitung meines Vortrags das Nibelungenlied in die Hände, aus dem ich ersah, daß Siegfrieds Vater nicht Siegbert, sondern Siegmund hieß; es ist mir jetzt in der Eile nicht möglich, eine treffende Erklärung dieses Namens zu geben, doch werde ich es späterhin nachholen.

»Siegfrieds Mutter, Sieglinde, war die Wirtstochter ›Zur Linde‹ an der Sieg.

»Siegfrieds Vater war ein höherer Beamter. Die Sage stempelt ihn zum König, aber das ist natürlich sagenhafte Übertreibung, da ein König seinen Sohn keinem Schmiede in die Lehre gegeben hätte. Ganz niedriger Herkunft konnte Siegfried aber auch nicht sein, folglich war er ein höherer Beamtensohn.

»Da Siegfried ein kräftiger Bursche war und, wie sich während seiner Lehrzeit zeigte, ein gut Teil angeborener Grobheit zur Schau trug, bestimmte ihn sein Vater zum Grobschmied.

»Als Lehrling bewies Siegfried wenig Lerneifer, vielmehr mißbrauchte er seine Körperkräfte, um seine Mitgesellen jämmerlich durchzuprügeln, und sogar den krüppeligen Meister, wahrscheinlich auch die Frau Meisterin (das ist ihm wohl zuzutrauen!) tätlich zu beleidigen, und in der Werkstatt alles kaput zu machen.

»Die armen Leute wagten es nicht, dem adligen Junker offen entgegenzutreten. Man scheute es damals so sehr, sich mit großen Herren einzulassen, daß man sich sogar fürchtete, mit ihnen Kirschen zu essen; aus welchem Grunde, ist noch nicht aufgeklärt. (Vielleicht Tollkirschen?)

»Der Schmiedemeister war früher Schauspieler gewesen, deswegen wird er auch kurzweg ›Mime‹ genannt. Er vermummte sich daher mit seinen Lehrlingen und lauerte dem ungeratenen Bürschchen auf, um ihm unerkannt einen gehörigen Denkzettel zu verabfolgen. Siegfried roch aber Lunte und brannte heimlich durch.

»Die Sage ergeht sich nun in fabelhaften Berichten von Kämpfen mit Drachen, Riesen und Zwergen, die Siegfried siegreich bestanden haben soll. Mittelalterliche Leser, die noch in den Kinderschuhen des Aberglaubens steckten, ließen sich ja solche Bären ohne weiteres aufbinden. Der wahre Sachverhalt läßt sich aus diesen albernen Erfindungen und Übertreibungen unschwer ermitteln: daß der Kerl überall Händel anfing, ist bei seinem geschilderten Charakter wohl begreiflich; daß er kleinere Knaben (›Zwerge‹) mit Leichtigkeit überwand, versteht sich von selbst; daß er auch mit größeren und älteren (›Riesen‹) anbändelte, ist seiner Frechheit wohl zuzutrauen. Unter den ›Drachen‹ werden wir nicht fehlgehen, Eidechsen, Blindschleichen, höchstens noch Kreuzottern zu verstehen, die er unterwegs, und zwar – unbekümmert um den Waldfrevel, – mittels ausgerissener junger Bäume erschlug.

»Solch zügelloser roher Übermut aber imponierte dem damaligen rohen Geschlecht, so daß derartige ›Heldentaten‹ bewundert und, natürlich möglichst übertrieben, besungen wurden.

»Nun sind wir beim Wendepunkt in Siegfrieds Leben angelangt: bei einer Feuersbrunst rettete er ein junges Mädchen namens Brunhilde aus den Flammen. Die meisten Heldinnen der alten Sagen haben irgend einen auf ›Hilde‹ endigenden Namen. Hilde ist also die ›Heldin‹. Die erste Silbe von Brunhildens Namen leiten unbedeutende Forscher von ›Brünne‹ ab. Ich denke eher an ›Brunnen‹. Unzweifelhaft aber bedeutet der Name ›die braune Heldin‹ (vergleiche ›Bruno‹, der Braune, ›Brunswig‹, Braunschweig), denn Hilde erschien durch Feuer und Rauch gebräunt und rußig.

»Das Fräulein erwartete nun mit Recht, ihr Retter werde sie heiraten, wie das ja sonst bei Lebensrettungen üblich ist. Dies versprach er ihr auch, doch unterblieb vorerst eine öffentliche Verlobung: das heißt, sie unterblieb überhaupt, wahrscheinlich weil Brunhilde kein Geld hatte, war sie doch völlig abgebrannt!

»Es wird daher auch heutzutage niemand wundernehmen, daß Siegfried, als sich ihm Gelegenheit bot, eine steinreiche Fürstentochter zu ehelichen, seine Braut einfach sitzen ließ.

»Seine Erkorene hieß Krimhild, was nicht etwa ›die grimme Heldin‹ bedeutet, sondern von der Halbinsel Chrim (Krim) abzuleiten ist, wohin sich Krimhilde als Witwe an den König Etzel (der ›Hetzer‹) verheiratete.

»Bei der Verlobung steckte Siegfried seiner Braut einen kostbaren Ring an den Finger, den er irgendwo gestohlen (›erbeutet‹) hatte: dies ist der berüchtigte › Ring der Nibelungen‹.

»Als Mitgift bekam Krimhilde einen großen ›Hort‹ mit, das heißt eine Menge Gold- und Silbergeschirr für die Haushaltung, das aber später bei einer Rheinüberschwemmung verloren ging.

»Wie gesagt, hatte Siegfried Brunhilde sitzen gelassen, was freilich seit Anbeginn der Welt schon unzähligemal vorkam. Die Sache hatte aber einen Haken, nämlich die Eifersucht, den Neid, die Rachgier der Betrogenen.

»Diesen ›Haken‹, der Siegfried das Leben kosten konnte, macht das Nibelungenlied zu einer sinnbildlichen Persönlichkeit, namens Hagen.

»Brunhilde war in ihren berechtigten Hoffnungen betrogen; denn wenn Siegfried keine ernsten Absichten hatte, hätte er nicht ihr Lebensretter werden sollen. In ihrer Verzweiflung machte Brunhilde, am Hochzeitstage ihrer Nebenbuhlerin, dieser die größte Skandalszene vor der Kirchentüre; doch konnte dieser peinliche Auftritt an der Sachlage nichts mehr ändern.

»Übrigens sollte Siegfried bald sein Geschick ereilen: bei einer Jagdpartie langte er äußerst erhitzt an einer Waldquelle an und trank unvorsichtigerweise, ohne vorangegangene Abkühlung, von dem eiskalten Wasser. Diesen Leichtsinn mußte er mit dem Leben büßen.

»Die Sage läßt es sich natürlich nicht nehmen, auch diese einfache Tatsache romanhaft zu entstellen: Brunhilde soll Siegfried durch einen Meuchelmörder, jenen schon genannten Hagen, aus der Welt geschafft haben, in eben dem Augenblick, wo er durch den kalten Trunk sowieso sein Leben eingebüßt hätte. Aber Meuchelmörder dingt ein Frauenzimmer nicht so mir nichts dir nichts, namentlich wenn es kein Geld hat.

»Auf diese Mordgeschichte baut dann das Nibelungenlied noch einen bluttriefenden zweiten Teil auf, in dem Krimhilde wiederum ihren ermordeten Gatten rächt, statt die Sache einfach dem Staatsanwalt zu übergeben.

»Sie sehen, meine Herrn, wie einfach und natürlich sich diese ganze Sage im läuternden Lichte unparteiischer Wissenschaftlichkeit darstellt.«

Münchhausens Vortrag erregte große Heiterkeit und blieb nicht ohne Eindruck auf diejenigen, die sich von den »Ergebnissen« wissenschaftlicher Forschung oft blenden ließen und für erwiesene Wahrheit zu halten gewohnt waren, was meist nichts weiter als mehr oder weniger scharfsinnige Vermutungen, im Grunde haltlose Erfindungen in wissenschaftlichem Flittergewande sind.

Ernst, der auch noch nicht ganz frei von solchem Irrtum war, fragte den Kapitän: »Was bezwecken Sie eigentlich mit dieser Parodie auf das Nibelungenlied? Dieser herrliche Heldensang erscheint mir so erhaben, daß es mich peinlich berührt, ihn in solcher Weise ins Lächerliche gezogen zu sehen.«

Münchhausen erwiderte ernst: »Seien Sie überzeugt, daß niemand eine höhere Ehrfurcht vor dieser großartigsten Schöpfung deutscher Dichtkunst empfinden kann als ich. Merken Sie sich wohl: es gibt zwei grundverschiedene Arten der Parodie: die eine will ein schwaches Machwerk in seiner Erbärmlichkeit enthüllen, dadurch, daß sie seine Schwächen übertreibt und dem Gelächter preisgibt. Die andere will Mißstände geißeln, die mit der gewählten Unterlage nichts zu tun haben. Zu einer solchen Satire muß, wenn sie recht wirksam sein soll, eine Unterlage gewählt werden, die allgemein bekannt ist, also klassisch genannt werden darf. Nichts liegt dann dem Satiriker ferner, als seine Vorlage irgendwie verhöhnen oder herabsetzen zu wollen: sie ist lediglich das klassische Gewand, in das er seine Satire kleidet. Es gibt keine größere Ehre für eine Dichtung, als häufig zu einer Parodie solcher Art benutzt zu werden; darum sehen wir, daß unsere besten Dichtungen, wie die Glocke und des Sängers Fluch am häufigsten parodiert worden sind. Wer darin eine Verhöhnung dieser vorzüglichsten Werke erblickt, ist ein beschränkter Geist, der keine Ahnung von dem Wesen der Parodie in ihrer zweiten, vornehmsten Art besitzt. Ein solcher muß auch vor Shakespeares Troilus und Cressida verständnislos stehen. In der Tat gibt es genug solcher Nichtswisser, die eine Verspottung der Ilias dahinter wittern. Wer jedoch das rechte Verständnis besitzt, der wird sich harmlos an einer gelungenen Parodie freuen, ohne so einfältig zu sein, sie für ein Verbrechen an einer von ihm hochgeschätzten Dichtung zu halten.

»So wählte ich auch die Nibelungen zur Unterlage für meine Satire, nicht etwa um dieses von mir so hochverehrte Heldengedicht lächerlich zu machen, sondern um die lächerliche Sucht irregehender Gelehrter bloßzustellen, die jede Sage und auch geschichtliche Tatsachen, die sie zur Sage stempeln, als Sonnenmythen oder anderswie deuten wollen. Ich wollte zeigen, wie billig und schwachsinnig dieser Wahn im Grunde ist, der keine Scheu trägt, uns Homers Werke, die Nibelungen und so viele andere Erzeugnisse des menschlichen Genies durch eine sich wissenschaftlich gebärdende Deutelei zu entkleiden.

»Wollte man dieser kläglichen Sorte von Gelehrten Glauben schenken, so müßte man annehmen, daß in alten Zeiten sich überhaupt nichts begab und unsere Altvordern keinerlei Phantasie besaßen, nichts zu ersinnen und zu erdichten vermochten, sondern sich stumpfsinnig damit beschäftigten, alle Naturvorgänge in mythisches Gewand zu kleiden und geringfügige Ereignisse und Taten maßlos zu übertreiben, aus Mücken Elefanten machend.

»Wie lächerlich ist doch die Sucht, den geschichtlichen Kern alter Sagen ohne irgendwelche urkundliche Unterlagen ermitteln zu wollen, und der Wahn, es könne dabei wirklich etwas wissenschaftlich Wertvolles herauskommen! Kleine Geister verschwenden oft ihre ganze Lebensarbeit an solche Läppischkeiten. Im Grunde ist es ihnen nur darum zu tun, sich einen Namen zu machen. Die Menschheit und die Wissenschaft gewinnen nichts dabei, sondern verlieren bloß.

»Denken Sie nur, wie die schlichten Patriarchengeschichten der Bibel als Sagen, als sogenannte Stammesmythen gedeutet wurden. Diese nüchternen und schmucklosen Erzählungen machen auf jeden Unbefangenen den Eindruck kindlichster Wahrhaftigkeit: da ist alles so echt menschlich und natürlich, daß es noch heute ganz heimatlich anmutet, obwohl seither Tausende von Jahren verflossen sind. Die Helden werden in keiner Weise verklärt dargestellt, wie es bei Sagen ausnahmslos der Fall ist, da ist keine sichtliche Übertreibung, weder nach der guten noch nach der schlechten Seite, ihre Schwächen und Fehler werden nicht entschuldigt oder gar beschönigt, ihre Taten nicht ins Fabelhafte gesteigert. Erst die wissenschaftliche Kritik bringt fremdartige Färbung in diese menschlich-heimischen Bilder und verweist die schlichte geschichtliche Wahrheit ins Reich der Fabel. Unsere Erkenntnis gewinnt durch diese wertlose Spielerei nichts, wir werden vielmehr durch sie in Wahn verstrickt.«

Ernst gedachte jetzt seines ersten Blicks durch das Paläoskop, da er Joseph in Ägypten erschaute, und erinnerte sich an Orpheus, den er auch für sagenhaft gehalten hatte, bis er mit eigenen Augen die geschichtliche Wahrheit der Berichte über ihn erkennen mußte, und er gab dem Kapitän recht.


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