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28.
Holmheim

Es wurde beschlossen, in dem Tale jenseits der Münkhuysenberge, wo sich der »Eispalast« befand, zu überwintern. Dort war man vor der Wut der Stürme gut geschützt und hatte einen bequemen Ausgangspunkt für weitere Forschungen und das Vordringen gegen den Pol nach Wiedererscheinen der Sonne.

Um die Vorräte und Werkzeuge über das Gebirge zu schaffen, richtete Holm mittels Tauen und einer Welle eine regelrechte Seilbahn ein, die über den Paß sämtliche Ballen und Kisten herüberbeförderte, wobei das nötige Übergewicht auf der einen Seite durch die mit Eisblöcken gefüllten leeren Kisten hergestellt wurde. So bekam man nach und nach alle nötigen Vorräte nach Holmheim.

Hatten die Südpolfahrer bisher in ihrem Tale keine Spur von Wild entdeckt, was Münkhuysen seinerzeit veranlaßt hatte, nach dem Mammut zu graben, so wurden durch ihre Anwesenheit nach und nach Eisbären angelockt, schreckliche Ungetüme, bedeutend größer als ihre nordischen Vettern. Sie gaben ihnen den Namen »Schwanzbären«, wegen ihres langen Schweifes. Diese gefährlichen Raubtiere, denen einer der italienischen Matrosen beinahe zum Opfer fiel, schienen sich nur im antarktischen Binnenlande aufzuhalten, da sie an der Küste nie beobachtet wurden. Vor ihren Angriffen schützte unsere Freunde Professor Raimund, indem er eine starke elektrische Batterie aufstellte und den Strom durch einige dicke Drähte leitete, mit denen er ganz Holmheim umgab. Die Eingangstüre zu dem Zaun war mit gläsernen Handgriffen versehen, um einen Unfall zu verhüten.

Diese Einrichtung lieferte manchen der feisten Bursche in die Küche. Die Eisbären umklammerten nämlich öfters den Draht mit ihren Tatzen, um die Umzäunung niederzureißen. Durch den Strom festgehalten und geschüttelt, brüllten sie vor Entsetzen und Schmerz. Dann eilte man herbei, um den wehrlosen Gefangenen mit Äxten und Messern den Garaus zu machen, da mit der Munition sparsam umgegangen werden sollte.

An Unterhaltung fehlte es der Gesellschaft in Holmheim nicht. Waren die Sterne sichtbar, so konnte man sich stundenlang mit dem Paläoskop beschäftigen, da Münkhuysen mehrere dieser Instrumente mitgenommen hatte. Die Beobachtungen wurden dann ausgetauscht und boten einen äußerst anregenden Gesprächsstoff, sah man doch der Wunder genug. Ernst, der alles fleißig aufzeichnete, füllte einen dicken Band allein mit den erstaunlichen Enthüllungen, die man dem Paläoskop verdankte.

Viel Zerstreuung gewährte auch der von Münkhuysen erfundene Radiograph, ein Instrument, das in gleicher Weise die Lichtwellen aufbewahrte und wiedergab, wie es der Phonograph mit den Schallwellen tut. Mit diesem Instrumente führte Münkhuysen eine Anzahl der interessantesten Ereignisse der jüngsten Tage vor, die er persönlich ausgenommen hatte; er eröffnete die herrlichsten Panoramen der berühmtesten Aussichtspunkte der Welt, er ließ Zirkus- und Theateraufführungen vor unsrer Freunde Augen sich abspielen. Die Täuschung war hiebei so vollkommen, daß man in der Tat Theater, Aussichtspunkte und so weiter besuchen konnte, wann man Lust dazu hatte.

Selbstverständlich hatte Münkhuysen auch die ganze Reise radiographisch aufgenommen, und ganz besonderes Vergnügen gewährte es, den Kampf Maibolds mit den Wogen und die allmähliche Glättung der See durch die Seife wieder an ihrem Auge vorüberziehen zu sehen; denn der Apparat hatte, automatisch arbeitend, dies alles mit ausgenommen.

Raimund war beim letzten Scheine der Sonne auf den Gedanken gekommen, auf einem dieser Instrumente die Schwingungen der Sonnenstrahlen aufzunehmen, und Holm hatte den Apparat mit einem Uhrwerk versehen, so daß man nun auch beständiges Sonnenlicht in Holmheim genoß, statt der etwas düsteren Tranbeleuchtung. Aus dieser neuen Verwendung des Radiographen war somit der Heliograph entstanden, und was Kapitän Münchhausen so kühn gefabelt hatte, war hier zu Wirklichkeit geworden, wenn auch in anderer, nicht so abenteuerlicher Weise: man hatte die Sonnenstrahlen dauernd gefangen und konnte die Eindrücke auf der Platte, so oft man wollte, in strahlendes Licht umsetzen.

Nimmt man zu alledem die gelehrten, wissenschaftlichen, poetisch anregenden Gespräche, die in diesem auserlesenen Kreise geführt wurden, die heitern und mehr als abenteuerlichen Erzählungen von Kapitän Münchhausen, – so kann man sich vorstellen, daß die tödliche Langeweile, die eine der größten Gefahren bei einer Überwinterung in der Nähe der Pole bildet, die Gesellschaft dauernd verschonte.

Als man wieder einmal durch das Paläoskop teils die Rätsel ferner unbekannter Welten, teils die Geheimnisse der irdischen Vergangenheit bewundert hatte, sagte Neeltje: »Wenn wir erwägen, welche unerschöpfliche Fülle von Unterhaltung, Belehrung und Anregung uns allein des verehrten Barons märchenhafte Erfindungen gewähren, so brauchen wir die Gefahr irgendwelcher Langerweile nicht mehr zu befürchten, weder hier im Polareis und in der monatelangen Nacht, noch in der endlosen Ewigkeit, der wir entgegensehen. Ich erwähne nur, daß wir uns Tausende von Jahren damit beschäftigen könnten, die vergangene Völkergeschichte der Erde und die nicht minder interessanten Erlebnisse aller einzelnen Menschen zu studieren. Ich glaube, tausend und noch mehr Jahre würden nicht hinreichen, um nur alles Interessante zu beobachten, was sich in einem einzigen Jahre gleichzeitig aus unserer kleinen Erde abgespielt hat. Und wenn ich nun bedenke, daß Millionen von Erden im Weltall kreisen, die größtenteils hundert- und tausendmal größer sind, als unser Planet, Welten, die zweifellos auch mit vernünftigen Wesen bevölkert sind und eine noch weit ältere und fesselndere Geschichte besitzen dürften, wie ist da überhaupt an ein Fertigwerden zu denken, wenn man auch nur die Vergangenheit kennen lernen will. Aber während wir so von einem Staunen und Entzücken ins andere geraten, läuft die Geschichte dieser Millionen Welten unaufhörlich weiter. Mögen einzelne auch untergehen, so werden doch noch viel mehr neue entstehen und mit ihrer Geschichte beginnen.«

»Sie haben recht!« sagte Professor Schulze begeistert: »Das ist aber erst eines. Nun aber stellen Sie sich vor: wir werden auch all die herrlichen Landschaftsbilder der Erde und ferner Planeten bewundern können, eins nach dem anderen in ihrem beständigen Wechsel durch die Jahrhunderte. Wir werden die gesamte Tier- und Pflanzenwelt aller Zeitalter hier und in höheren Welten zum Gegenstand unserer Forschung machen. Und wer weiß, ob nicht die Tiere, bis zu den kleinsten Insekten, jedes seine besondere Lebensgeschichte hat, die in ihren merkwürdigen Schicksalen den Erlebnissen der Menschen nicht nachsteht. Das wäre Beschäftigung für Milliarden von Jahren, während derer die beständige Weiterentwicklung unaufhörlich neuen Beobachtungsstoff schaffen würde.«

Michael Mäusle war Feuer und Flamme für diese Gedanken und sagte lebhaft: »Wenn ich an die Schöpfungen des Menschengeistes denke, an die Werke der Dichtkunst, Bildkunst und Tonkunst, so ergreift mich ein unsagbares Entzücken bei der Vorstellung, daß ich sie alle in der Ewigkeit genießen soll, und zwar nur diejenigen, die es wirklich wert sind. Ich darf trunkenen Auges bewundern, was je die besten Künstler, Maler, Bildhauer und Baumeister auf Erden schufen; ich darf von Meistern die größten Werke der Musiker spielen hören, von Engelschören ihre schönsten Lieder vernehmen; ich darf mich vertiefen in die herrlichen Werke aller Dichter und Schriftsteller, die je gelebt haben. Aber damit bin ich nicht fertig: diese begnadeten Künstler haben zweifellos in der Ewigkeit neue und ungleich vollkommenere Werke geschaffen in unendlicher Fülle. Wer wollte dieses Meer der edelsten Genüsse jemals ausschöpfen? Und dann kämen erst die zahllosen anderen Welten mit ihrer Kunst und Literatur durch Jahrmillionen hindurch.«

»Ich freue mich besonders,« begann nun Ernst Frank, »die Naturgesetze aller Welten ergründen zu dürfen und zu lernen, welche unerschöpfliche Fülle von Stoffen durch alle Arten von Mischung der Grundstoffe erzeugt werden können.«

Auch Holm und Raimund äußerten noch ihre Wünsche und Erwartungen.

Als nun alle nachdenklich schwiegen, erklärte Eva: »Mehr als alles andere reizt mich der Gedanke, Millionen bedeutender und guter Menschen der Erde und der höheren Welten, auch höhere Wesen, Engel und Geister, persönlich kennen zu lernen und Freundschaft mit ihnen schließen zu dürfen. Wie wird man da plaudern können, sich ihre Schicksale erzählen lassen und so vieles Neue, Hohe und Tiefe aus ihrem Munde vernehmen, wenn ich mir nur vorstelle, daß ich etwa mit Abraham, David, Paulus, Sokrates, Luther und anderen mich unterhalten darf, was muß das für unaussprechliche Wonne sein!«

»So viel Herrliches gesagt wurde über die unendliche Fülle von Beschäftigungen, Genüssen und neuen Erkenntnissen, für die selbst die Ewigkeit nie zu lang werden kann,« nahm zuletzt Münkhuysen das Wort, »so möchte ich doch noch etwas hinzufügen, was mir eine Hauptsache scheint, und das ist – die Tätigkeit. Wir werden alle auch unsere Arbeit haben und neue herrliche Werke schaffen, jeder nach seinen stets vollkommener werdenden Gaben. Und diese Tätigkeit allein schon würde genügen, die Ewigkeit für uns auszufüllen und zu einer unerschöpflichen Quelle der Seligkeit zu machen. Denn diese Arbeit wird uns nie ermüden oder gar verdrießen, sondern unsere höchste Wonne sein«

»Und alles wird die heilige, selige Liebe aller zu allen verklären, und das wird neben der göttlichen Liebe noch das allerschönste sein,« fügte Neeltje hinzu, und damit nahm dieses Gespräch über die höchsten Fragen und Erwartungen sein Ende, denn alle erkannten, daß damit das Köstlichste ausgesprochen sei.


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