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23.
An der Eisküste

Am Morgen des 11. Dezember verkündete ein heller Eisblink im Süden die Nähe des Küsteneises, das vor dem Strande lagerte.

Als der Kapitän dies meldete, fragte Ernst, was unter »Eisblink« zu verstehen sei?

»Nun,« sagte Münchhausen: »Sie sehen doch hier am dunsterfüllten Himmel einen hellen Widerschein? Das deutet auf die Strahlung einer sonnenbeschienenen glatten Eisfläche hin, in diesem Falle zweifellos aus das der Küste vorlagernde Meereis.«

In der Tat erreichten unsere Freunde noch am gleichen Tage die Kante dieses Strandeises, und im Scheine der Mitternachtsonne breitete sich vor ihnen die herrliche Landschaft aus, die James Roß als erster erschaut hat.

Hinter der rundlichen Beaufort-Insel ragte der Vulkan Erebus am Festland und warf schwarze Rauchwolken zum Himmel empor, die von gelben und blauen Flammen durchzuckt wurden; glühende Lava floß rotschimmernd an seinen Flanken herab. Neben ihm stand in starrer Ruhe der Mount Terror, an den sich die Kette der Parryberge anschloß. Rechts waren die Prince-Albert-Berge deutlich zu erkennen. Auch die Bankise zeigte sich die ganze Küste entlang. Was jedoch hinter der Mac-Murdo-Bay, zwischen dem Erebus und den Prince-Albert-Bergen sein mochte, ließ sich nicht erkennen, da die Luft ziemlich dunstig war.

Bild: Karl Mühlmeister

Das »Südkreuz« fuhr nach Osten, die Bankise oder Eisterrasse entlang, die in wechselnder Höhe von fünfzehn bis sechzig Metern und darüber den Südpolarkontinent umgürtet, als letzter Ausläufer der Inlandgletscher. Vorbei an Kap Bird, der äußersten Spitze der vom Erebus ausgehenden Hügelkette, strebte man König-Eduard-des-Siebenten-Land zu.

Die Eismauer erschien stellenweise völlig glatt, wies jedoch an anderen Stellen senkrechte Brüche und tiefe Höhlenbildungen auf, die aus dem hellschimmernden, durchsichtigen Blau des Eises in ein tiefes Saphirblau übergingen. Große schwarze Flecken an den Flanken der weißen Wand erwiesen sich als ungeheure Höhlungen, die teilweise unter der Wasserlinie lagen. Einzelne davon waren so geräumig und hoch, daß der größte Dampfer bequem hätte einfahren können. Da und dort hing ein Schneegesims, eine sogenannte Mächte, über den Terrassenrand herab.

Als das Land König Eduards VII. erreicht wurde, fanden unsere Freunde dort eine Bucht, die zwar eine Eisdecke aufwies, doch zum Landen geeignet erschien.

Diesmal war die Luft außerordentlich klar, und gegen Süden entdeckte man eine seltsam geformte Bergkette, die zum Teil aus hohen Gletschern, zum Teil aus düstern, schneefreien Felswänden bestand, die nur an wenigen, nicht so abschüssigen Stellen Schneeflecken zeigten.

»Sehen Sie, meine Herren!« sagte Münkhuysen feierlich: »Schon beginnen unsere Entdeckungen; denn wir sind die ersten, die diese Berge erschauen.«

»Hurra! Die Münkhuysenberge,« rief Raimund begeistert aus, und alle wiederholten den Ruf.

Der Baron lehnte zwar in seiner Bescheidenheit diese Benennung ab; allein seine Gefährten erklärten, diesem Höhenzuge keinen anderen Namen geben zu wollen, und so ließ er es sich schließlich gefallen.

Mit voller Dampfkraft wurde nun in das Küsteneis eingedrungen. Bald hob sich das »Südkreuz« empor, und nun bewährte sich die Erfindung Münkhuysens in ihrem vollen Glanze; denn die Maschine trieb das Schiff weiter, obgleich die Saugröhre jetzt nur noch Luft statt des Wassers einziehen konnte.

Da der günstige Nordwind gestattete, auch die Segel auszuspannen, drang das »Südkreuz« rasch in der Bucht vor. Kaum fünfhundert Meter vom Strande machte es halt. Noch wenige Meter weiter, und es wäre ganz aus dem Eise gehoben worden, so daß es sich auf die Seite gelegt hätte. Nun steckte es noch einigermaßen in dem hier ziemlich dicken Eis und mußte durch seine eigene Schwere allmählich wieder bis in den Wasserspiegel sinken.

Es war um die Mittagszeit, als der Baron Strickleitern am Rumpfe des Schiffes herabzulassen befahl, und alle hinab auf die Eisfläche stiegen.

»Die Eisebene, auf der wir uns hier befinden,« erklärte Münkhuysen, als die ganze Gesellschaft unten versammelt war, »breitet sich nur zum geringsten Teile über dem Meere aus. Wir haben offenbar einen Landstreifen vor uns, der sich vom Fuße der Bankise bis zum Wasser der Bucht erstreckt, in einer Breite von etwa vierhundert Metern. Das beweisen uns die zahlreichen Felsblöcke, die aus dem Eise hervorschauen und mit Flechten bewachsen sind, was darauf hinweist, daß sie nicht aus dem Salzwasser emporragen. Wir können uns also getrost am Fuße der Eismauer lagern und unsere Waren und Vorräte ausschiffen, ohne befürchten zu müssen, daß ein Eisbruch uns über Nacht vom Lande losreißen könnte, und wir auf einer schwimmenden Eisscholle hinaustrieben. Aber wie wir auf die hier vierzig bis fünfzig Meter hohe Terrasse mit ihren glatt abfallenden Wänden gelangen sollen, das müssen wir erst noch ausfindig machen.«

»Herr Baron!« rief plötzlich Professor Schulze aus: »Da habe ich eine ganz unglaubliche Entdeckung gemacht: aus der Rinne, die unser »Südkreuz‹ in das Eis geschnitten hat, schauen richtige Meeresalgen heraus! Da hört sich doch alle Wissenschaft aus!«

»Nun, warum soll es denn hier keine Algen geben?« fragte Münkhuysen.

»Weil das allen Naturgesetzen widerspricht!« eiferte der Mann der Wissenschaft: »Ohne Licht gibt es unbedingt kein Pflanzenleben. Unter dieser dicken Eisdecke herrscht aber ewige Finsternis, folglich können darunter auch keine Algen wachsen!«

Der Baron lachte: »Da sie nun aber doch unleugbar da sind, so dürfte dies der unwiderleglichste Beweis dafür sein, daß sie da sein können? Müssen Sie das nicht zugeben?«

»Ich weiß nicht …« sagte Schulze zögernd: »Die Naturgesetze sind doch ewig und unabänderlich, alles beherrschend und allgemein gültig, sie müssen am Südpol genau so gelten, wie sonst überall.«

»Ich will Ihnen etwas sagen: Tatsachen beweisen, Naturgesetze aber beweisen nichts. Die Tatsachen haben sich nie und nirgends nach den Naturgesetzen zu richten, sondern umgekehrt die Naturgesetze nach den Tatsachen. Vergessen Sie nur nicht, daß alles, was die Wissenschaft ›Naturgesetze‹ nennt, einfach Folgerungen darstellt, die sie aus der Fülle der bekannten Tatsachen abgeleitet hat. Daß es auch wirklich Naturgesetze seien, können wir keineswegs behaupten. Es sind lediglich menschliche Formeln, die sich als falsch erweisen können, wenn uns Tatsachen bekannt werden, die ihnen widersprechen. Vollends haben wir keinerlei Beweis und Gewähr dafür, daß diese von uns erfundenen Naturgesetze ewig, unabänderlich und allgemein gültig seien. Das ist nichts als eine Behauptung und eine Vermutung, die stimmen, aber ebensogut ein Irrtum sein kann. Wirklich wissenschaftliches Denken und klare Vernunft muß sich allezeit bewußt bleiben, daß wir von keiner wissenschaftlichen Aufstellung behaupten können, sie sei unfehlbar oder gar ein unwandelbares Naturgesetz. Wir erlauben uns nur, diesen letzteren Namen solchen Sätzen zu geben, die wir aus Grund der uns bekannten Tatsachen, die weit nicht lückenlos, geschweige denn unbedingt sicher sind, vermutungsweise als größte Wahrscheinlichkeit ausgesonnen haben. Sobald augenscheinliche Tatsachen mit irgend einem dieser angeblichen, aber doch nur vermeintlichen Naturgesetze unvereinbar sind, wäre es nicht wissenschaftlich, sondern kindisch, die Tatsachen anzuzweifeln, vielmehr müssen wir das sogenannte Naturgesetz fallen lassen oder der neuen Erkenntnis entsprechend abändern, übrigens erinnere ich mich, daß schon Kjellmann auf Nordspitzbergen ein reiches Pflanzenleben beobachtete unter Eisdecken, die keinen Strahl des Lichtes durchlassen.«

Tausende von Pinguinen belebten die Eisfläche unter der Bankise. Ernst und Mäusle begleiteten Maibold, als sich dieser mitten in die dichten Scharen hineinwagte. Die drei mußten sich förmlich durchdrängen, so dicht standen die brütenden Vögel beieinander; denn Stehen und Sitzen ist für diese merkwürdigen Geschöpfe eins: sie brüten sozusagen stehend.

Der menschliche Besuch setzte sie in nicht geringe Aufregung: sie schnatterten ohrenbetäubend, wichen aber nicht vom Platz. Drängte man sie von ihren Nestern weg, so sah man teils Eier, teils struppige, beflaumte Junge. Es war übrigens nicht besonders angenehm, sich in die dicke, klebrige und stinkende Guanoschicht zu begeben, die den ganzen Boden bedeckte.

Als der rücksichtslose Arzt ihnen ihre Eier wegnahm, konnten sich diese harmlosen Vögel nur mit wirkungslosen Schnabelhieben dagegen wehren. Ernst und Mäusle taten sie leid, und die beiden eigneten sich keines der Eier an. Sie freuten sich an dem drolligen Anblick, den die Pinguine boten. Sie waren etwa vierzig Zentimeter hoch, auf zwei Entenfüßen stehend, mit großem, rundem Kopf, glänzend schwarzem Rücken und weißer Brust. So konnte man sie von ferne für kleine, elegante wohlbeleibte Herren in schwarzem Frack und weißer Weste halten. Der Bauch steht vor, und ein schwarzer Streifen am Hals stellt die Krawatte dar; die verkümmerten, zu beiden Seiten herabhängenden Flügel kann man für Arme ansehen. Wenn sie gar umhertrippeln mit ihrem watschelnden Gang und ihrem hochnäsigen aber würdevollen Ausdruck, kann man sich eines Lächelns nicht erwehren.

»Dies hier ist die gewöhnlichste Art der Pinguine, Pygoscelis antarctica,« erklärte Maibold. »Diese bezeichnet man auch als Adelie-Pinguine. Wir werden aber auch noch die etwas größeren und noch viel unbeholfeneren Pygoscelis papua kennen lernen, die wegen ihrer schreienden Stimme ›Eselpinguine‹ genannt werden; diese tragen ein weißgraues Federkleid und sind mit roten Schnäbeln geziert. Seltener sind die Kaiserpinguine, die größte Art, und die Eudyptes, die an den Seiten des Kopfes reizende orangegelbe Federbüschel tragen.«

Die Nester der behäbigen Vögel bestanden aus zusammengetragenen Steinen. Der Doktor entnahm ihnen so viele der frischesten Eier, als er tragen konnte. Im übrigen belästigten unsere Freunde die Pinguine nicht weiter. Die erbeuteten Eier wurden als ungewohnte Leckerbissen beim Nachtessen mit besonderem Vergnügen verspeist: das Weiße erschien in gekochtem Zustande noch durchsichtig und bläulich, der Dotter rötlich. Sie schmeckten köstlich, wie Hühnereier.

Die Matrosen sammelten in den nächsten Tagen die Pinguineier in Massen und verzehrten sie roh, gekocht, gebacken, in der Suppe, im Kaffee und im Tee, kurz, wo sie nur anzubringen waren. Der Steuermann Cavini brachte es auf vierzig Eier in einem Tag! Auch Pinguinsuppe, Pinguinbrust und Seehundsbraten bekam man bald zu kosten, lauter erstklassige Genüsse: frisches Fleisch, frisches Geflügel – wie herrlich schmeckte das nach den gesalzenen Konserven!

Das Fleisch hält sich hier in gefrorenem Zustande monatelang frisch. Nordenskjöld bedauerte deshalb sehr, seine Vorräte aus Unkenntnis dieser Tatsache eingesalzen zu haben, und die schwedische Abteilung unter Kapitän Larsen, die auf der Pauletinsel überwinterte, bekam zuletzt verdorbenes Fleisch zu essen, weil sie es frostfrei im Schnee aufbewahrt hatte.

Gesalzenes Pinguinfleisch wird hart und zäh wie Leder, und die daraus bereitete Suppe ist die reinste Salzlake.

Unter den Seehunden, die durch die Matrosen hier am Strande mühelos erlegt wurden, befanden sich einzelne Seeleoparden; die meisten jedoch waren Weddellseehunde, eine ganz seltsame Robbenart, deren Anblick zum Lachen reizt. Der kleine runde Kopf sitzt unmittelbar, ohne irgend eine Spur von Hals, am großen viereckigen Leib, der nur am Schwänze zugespitzt ist, und hebt sich kaum von der Brust ab. Sie sind graugrün mit helleren Flecken. Während der sogenannte Krabbenfresser das Treibeis aus dem Meere bevorzugt, hält sich der Weddellseehund mit Vorliebe auf dem Landeise auf und begibt sich oft ziemlich weit landeinwärts.

Die Seehunde sind völlig harmlos und verteidigen nicht einmal ihr Leben. Nur eine Ausnahme erlebten unsere Freunde; als Mäusle ahnungslos einen jungen Seehund mit seinen Dichteraugen bewunderte, wurde er plötzlich hinterrücks von der Mutter angegriffen und zu Boden gerissen. Das wütende Tier wollte nicht von ihm ablassen; aber der Schwabe stand rasch auf den Beinen und gerbte ihm das Fell, indem er rief: »Holla! Du bisch jo e ganz frechs Luder, so isch mer net emol en Elefant oder e Nashorn in Afrika komme. Jetz schpürsch's, daß du's mit em Michel Mäusle aus Gschlachtebretzinge z'tun hosch. Gell, dees hosch net denkt, daß e fotter Kerle am Südpol schpaziere geht! I könnt di jetz totschlage, wann i wollt', aber wege dei'm herzige Kindle will i di lebe lasse. Merk der's aber: mit em Michel Mäusle aus Gschlachtebretzinge isch böß a'bändle.« Beschämt schlich sich der Seehund von dannen.

An das Seehundsfleisch wollten sich unsere Freunde anfangs gar nicht recht wagen, denn sie fürchteten den tranigen Geschmack, zumal es auch in Seehundsfett gebraten wurde. Allein schon die ersten Bissen überzeugten sie, daß ihr Vorurteil unbegründet war: der Braten schmeckte vorzüglich und wies keine Spur von Beigeschmack auf; nicht einmal das Pinguinfett lieferte so schmackhafte Braten.

Auch der Fischfang war ergiebig und diente zur Vermehrung der Tafelfreuden.

Außer den Pinguinen und Seehunden belebten zahlreiche Sturmvögel den Strand, darunter der Riesensturmvogel und der Schneesturmvogel. Besonders zahlreich fanden sich auch die Skuamöven ein; aber auch Sturmschwalben und sogar Kaptauben bekam man zu Gesicht.

Schulze besann sich häufig darauf, daß er Naturforscher von Beruf war, und da seine nie fehlende Büchse, wie er sie gerne nannte, an den Vögeln im Flug hartnäckig vorbei traf, und sich sonst kein jagdbares Wild für sie hier vorfand, denn Seehunde und Pinguine schießt man nicht, da man sie einfach mit Prügeln totschlagen kann, so ging er gerne bis ans offene Meer und fischte daraus kleine Meerkrebse, Korallen, Seeigel, Schlangensterne und sogar den Grundfisch Lykodes, der seiner Ansicht nach in diesen Eisgewässern unmöglich vertreten sein konnte!

Evas Lieblinge waren die Kaptauben, und sie sagte verstohlen, zu Ernst: »Hier sind ja die Boten unserer verzauberten Prinzessin vom Südpol!«

»Vielleicht fliegen sie auch über die Berge und durch die Gitter ihres Gefängnisses, um die Verlassene zu trösten in ihrer Einsamkeit,« meinte Ernst.

»Wollen wir ihr nicht eine Botschaft senden?« fragte Eva eifrig.

»Das wäre ein Gedanke! Wenn wir nur ihrer Sprache mächtig wären!«

»Oh, das braucht's gar nicht! Ich zeichne auf ein Blatt Papier einen Ritter mit Schwert und Bogen. Dein Gesicht soll er haben, und die Gegend habe ich auch noch deutlich im Kopf, du weißt ja – unser Geheimnis? Der Ritter sprengt die Türe eines Verließes, in dem ein schönes Mädchen gefangen sitzt. Wenn sie das erblickt, dann weiß sie sofort, daß es noch andere Menschen auf Erden gibt, daß ihre Botschaft in gute Hände gelangte, und daß ihr Hilfe nahe ist.«

»Herrlich, ausgezeichnet!« lobte Ernst.

Mit dem ihr eigenen Geschick entwarf Eva die Zeichnung, wie sie dieselbe beschrieben hatte: es gab ein hübsches kleines Kunstwerk. Nun handelte es sich nur noch darum, sie an einer Kaptaube zu befestigen, und diese mußte dann ihren Weg zu dem geheimnisvollen Wesen finden. An letzterem zweifelte Eva zwar gar nicht; allein die Kaptauben waren so scheu, daß es mit keiner List gelingen wollte, eine lebendig zu fangen.

»Einem Pinguin können wir das Bild mit Leichtigkeit anhängen,« meinte Eva.

»Allerdings!« erwiderte Ernst: »Aber das hat keinen Zweck, denn er kann nicht fliegen, und wenn er auch ein vorzüglicher Schwimmer ist, so ist er doch an Land zu schwerfällig und kann so weite Reisen nicht machen: du siehst ja, wie unbeholfen sie watscheln. Doch die dummen Skuamöven lassen sich gewiß leicht überlisten und einfangen.«

»Ach was! Das sind Meervögel, die ziehen auch nicht ins Innere.«

»Wer weiß? Vielleicht fliegen sie über die Berge nach einem anderen Meer.«

»Also! Dann fangen wir einmal eine Skuamöve und sehen dann weiter zu!«

Auf einmal erhob sich ein lautes Geschrei und Hallo. Eva und Ernst eilten zu der Stelle, von der das Rufen erscholl. Da stand Professor Schulze mit seinem Angelgerät und Schleppnetz am Rande des Eisstreifens, der von der Küste aus ins Meer hinausragte.

Verschiedenes interessante Getier hatte er schon herausbefördert und in ein mit Seewasser gefülltes Gefäß geworfen, als ihn ein plötzlicher gewaltiger Schreck zu den lauten Rufen veranlaßte.

Neben ihm auf dem Eise lag ein starker Kaiserpinguin, der sich mühsam aufrichtete.

»Denken Sie sich mein Entsetzen,« sagte der Professor atemlos zu den jungen Freunden: »Gehe ich da ganz harmlos meinem zoologischen Berufe nach, fische den Meeresgrund ab und denke an nichts, wie ich meist zu tun pflege – das heißt, ich bin mit tiefgründigen wissenschaftlichen Grübeleien völlig beschäftigt und ahne nichts Arges; auf einmal – schießt da nicht ein dickes Geschöpf in den preußischen Landesfarben aus dem Wasser hinauf in die Luft, drei Meter sage ich Ihnen, just über mein unschuldiges Haupt. Ich denke nicht anders, als: ›da ist der sagenhafte Meerbischof im Zorn emporgefahren, weil du seine Schützlinge mordest!‹ Sie kennen ja doch die ähnliche Geschichte im Tell: ›Willst du nicht das Lämmlein hüten‹, wo der Geist, der Bergesalte, die Gemse vor dem Jäger in Schutz nimmt und grollt: ›Platz für alle hat die Erde, was verfolgst du meine Herde?‹ Nun, das flog mir so durch den Kopf bei der gespenstischen Erscheinung, und ich male mir aus, wie dieser Meeresalte, der Meerbischof, mir aus den Kopf springen wird, um mich ins Meer und zur Rechenschaft zu ziehen. Natürlich schreie ich Zetermordio!

»Na! Ich konnte mich gerade noch durch einen kühnen Seitensprung retten, in meiner großen Geistesgegenwart, und da plumpst auch schon dieses Geschöpf vor mir nieder, hart an meiner Nase vorbei, so daß ich nochmals erschreckt zurückwich. Mit wissenschaftlichem Scharfblick erkannte ich sofort, daß ich es hier nicht mit dem Meerbischof zu tun hatte, der überhaupt nur ein Fabelwesen ist, sondern mit einem ganz gewöhnlichen Pinguin von Riesengröße. Aber drei Meter hoch ist er aus dem Wasser emporgeflogen, weit über mein Haupt: ist das nicht eine märchenhafte Leistung für so einen unbeholfenen Vogel, der überhaupt gar nicht fliegen kann? Da hört sich ja geradezu alle Wissenschaft auf!«

Inzwischen kam Kapitän Münchhausen herbei, der auch nicht ferne gewesen war und Schulzes Notschrei vernommen hatte.

Arglos trat er vom Küsteneise herab auf das Meereis, das etwas niederer lag, und begab sich zu den Dreien, die dem Pinguin zusahen, wie er sich watschelnd davon machte.

Das Eis knarrte und schwankte unter den Füßen des dicken Kapitäns, doch was machte dies einem Seebären aus, der die viel heftigeren Schwankungen der Schiffsplanken gewohnt war?

»Was? Nichts als ein Pinguin?« lachte er: »Und vor dem haben Sie ein solches Entsetzen gespürt, daß Sie brüllen, als gehe es Ihnen an den Kragen?«

»Jetzt ist es freilich nur ein harmloser Vogel, aber aus dem Wasser schoß er als Gespenst und Meerbischof. Allein, Verehrtester, machen Sie sich schleunigst auf festen Boden, für Ihr Körpergewicht ist diese dünne Eistafel nicht geschaffen! Schnell, Schnell! Sie stürzen uns noch alle ins Verderben!«

Es war jedoch schon zu spät: das Eis, das infolge der Ebbe hohl lag, bog sich unter der Last des Dicken, krachte, und brach hinunter.

Alsbald zappelten alle Vier im eisigen Wasser und riefen um Hilfe.

Ernst erfaßte Eva und schwamm mit ihr der Eiskante zu, von der sie gleich abgetrieben waren. Als das triefende Mädchen, das übrigens selber eine gute Schwimmerin war, sich hinaufschwingen wollte, bröckelte der Rand ab, und es sank zurück. Noch mehrere Versuche hatten den gleichen Mißerfolg. Endlich gelang es ihr, sich mit aller Vorsicht hinaufzuschieben. Ernst schob nach, und die nasse Maus kroch weiter, bis sie den Absatz erreichte, der zum Landeis hinaufführte. Der junge Frank aber wendete sich, obgleich schon halb erstarrt, um: er sah nach den anderen, um ihnen nötigenfalls Hilfe zu bringen.

Münchhausen schwamm wie ein Fisch oder vielmehr wie eine Tonne. Untersinken würde er nicht so gleich; das Schwimmen verstand er ja auch vorzüglich. Doch schimpfte und jammerte er dabei entsetzlich über das kalte Bad, an dem doch niemand anders schuld war, als er selber. Darum rief ihm auch der Professor keuchend zu: »Sind nur Sie ganz stille und kleinlaut, Kapitän! Wer ist denn schuld an der ganzen Katastrophe als Sie, Unglückswurm? Und wir müssen nun Ihren sträflichen Leichtsinn ausbaden!«

Schulze hielt sich nur mit Mühe über Wasser; des Schwimmens war er wenig kundig, und die Kälte der See erstarrte ihn bis auf die Knochen.

Da kam Ernst herbeigeschwommen und brachte ihm Hilfe, obgleich er sich selber kaum mehr regen konnte. Er lotste ihn an Land und kroch dann selber hinauf. Beides gelang auch wieder erst nach öfteren vergeblichen Versuchen, bei denen der äußerste, dünnste Eisrand mehrmals abbröckelte.

Der junge Frank war am Ende seiner Kräfte infolge der lähmenden Kälte; auch dachte er, der Kapitän als alte Seeratte könne sich am ehesten ohne fremde Beihilfe herausretten, und ihm fehle es überhaupt an der erforderlichen Stärke, diese Masse zu bugsieren.

Münchhausen erreichte wohl die Eiskante – aber, aber! Sowie er einen Versuch machte, sich hinauszuschwingen, gab es einen Krach und das Eis brach hinunter: solch einem Gewicht war es nicht gewachsen!

Die Sache begann für den braven Kapitän ein bedenkliches Aussehen zu bekommen; zwar schützte ihn sein Fettpolster vor allzurascher Abkühlung, doch schon fühlte er sich steif werden. Seine wiederholten Versuche hatten zur Folge, daß er allmählich eine tiefe Bucht in das Meereis brach und sich dem Festland immer mehr näherte; aber immer noch fand er keinen Grund unter den Füßen. Da erschienen vier Matrosen, von Eva und Ernst gesandt, und warfen ihm ein Tau zu. Sie wagten nicht, bis zu ihm vorzudringen, da sie fürchteten, zu viert das Eis zu sehr zu belasten und ebenfalls einzubrechen. So blieben sie an Land und mußten trotz des Ernstes der Lage lachen, wie sie den Dicken sich immer wieder auf den Eisrand stützen sahen, der jedesmal »krach, krach!« machte und absplitterte, so daß der Ärmste zurücksank und untertauchte.

Der Kapitän klammerte sich mit steifen Fingern an das Seil, und nun zogen die Italiener aus Leibeskräften. Es gab noch einige Schollen, aber schließlich kam so dickes Eis in der Nähe des Strandes, daß die Last darauf Halt fand, wenn es sich auch unter Ächzen bedenklich senkte. Es hielt wirklich aus, bis der dicke Hugo auf das festgegründete Landeis gehißt war und nun gleich einem Riesenpinguin zum Lager watschelte.

Die vier unfreiwilligen Badegäste mußten schleunigst die Kleider wechseln, die ihnen am Leibe angefroren waren und sich in ihre Schlafsäcke begeben, wo ein steifer Grog die Blutwärme wieder in ihre Haut trieb. So lagen sie in ihren verschiedenen Zelten, die bereits aufgerichtet worden waren, und erholten sich allmählich.

Auch die übrigen Polarfahrer zogen sich in ihre Zelte zurück, denn der Aufenthalt im Freien wurde ungemütlich, als der Sturm begann, die kleinen runden, trockenen und harten Kügelchen, aus denen der antarktische Schnee besteht, schmerzhaft in ihre Gesichter zu peitschen.

Bald lag alles im Schlaf, während die Mitternachtsonne am dunstigen Himmel glühte, nachdem das Schneegestöber aufgehört hatte.


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