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Münkhuysen war der erste, der am Seile emporkletterte: die schwere Kanonenkugel auf der anderen Seite reichte als Gegengewicht für seine Körperschwere aus, und das Seil war auch auf dem Bergsattel ziemlich fest zwischen vorragende Felsblöcke eingeklemmt.
Als der Baron die Höhe glücklich erreicht hatte, begann Mäusle den Aufstieg, und als auch dieser über den Grat turnte, folgten Schulze und Raimund kurz hintereinander. Es war nun anzunehmen, daß Münkhuysen auf der anderen Seite längst unten war, da der Abstieg naturgemäß ungleich rascher vonstatten gehen mußte als das mühsame Hinaufklettern. Es war verabredet, daß der Baron das Ende des Seils derart befestigen sollte, daß die Nachfolgenden keines weiteren Gegengewichtes bedurften. Als Schulze oben anlangte, rief er herab, dies sei geschehen, das Strickende sei an einem Felsblock verankert.
So konnten Holm, Ernst, Cavini und Münchhausen gleichzeitig, einer hinter dem anderen, emporturnen. Der Abhang, so steil er war, bot doch unterwegs Absätze und sanfter geneigte Hänge genug, die ein Ausruhen ermöglichten und meist frei von Schnee und Eis waren, dank der Sommersonne, die hier ganz besonders kräftig wirkte. Über die Hälfte des Berges konnte zu Fuß erstiegen werden mit Hilfe des Seils, an dem man sich hielt, nachdem der unterste, völlig unersteigliche Teil am Seil überschritten war. So konnte der Aufstieg in knapp dreiviertel Stunden bewältigt werden.
Als Holm den Grat erreichte, sah er, daß auch auf der anderen Seite der Berghang vielfach zu jäh war, als daß ein Erklettern oder ein Abstieg ohne Seil möglich gewesen wäre. Der Grund war ein Hochtal, das gegen Osten durch jähe Wände abgeschlossen war, nach Westen zu sich senkte und hier nur etwa halb so tief war als der Meeresspiegel auf der Nordseite.
Der Baron, Mäusle, Schulze und Raimund waren schon unten, als Holm seinen Abstieg begann. Unmittelbar hinter ihm folgten Ernst und Cavini und zuletzt der dicke Kapitän.
Nun sollte sich bald die vorhin angedeutete Unvorsichtigkeit rächen: unsere Freunde hatten nämlich, was kaum zu glauben war, vergessen, das Seil auf der Nordseite, der Seite des Aufstiegs, fest zu verankern: es hing da lose hinab. Wie gesagt, hatte es sich auf dem Sattel zwischen zwei Felsen eingeklemmt und einer seiner Knoten hielt es dort an der engsten Stelle fest. Diese Verengung wurde jedoch bloß durch eine dünne vorspringende Felszacke gebildet, die bald absplitterte, als das volle Gewicht der vier Männer aus der Südseite des Seiles hing, ohne irgend ein Gegengewicht auf der Nordseite.
Das Seil gab nach. Die daran Hängenden kamen ins Gleiten. Das Seil rutschte über den Bergsattel, erst langsam, dann immer schneller, je weniger davon auf der anderen Seite als schwaches Gegengewicht herabhing. Münchhausens Last war natürlich bei dem Unfall das Ausschlaggebende.
Als die vier Abgestürzten unten anlangten, noch immer das Seil haltend, waren sie ganz verwundert, daß keiner ein Glied gebrochen noch sonst Schaden genommen hatte. Die Untenstehenden, die mit Schrecken und großer Sorge den Absturz mitangesehen hatten, waren bei dieser Feststellung hoch erfreut.
Einigermaßen erklärte sich ja der glückliche Ablauf daraus, daß alle in dicker Polarkleidung steckten, und daß der Abhang, über den sie herabgesaust waren, viel weniger steil war als die oberste schroffe Wand. Aber ohne göttliche Bewahrung hätte der Unfall schlimm ablaufen können, und der Umstand, daß der Strick erst nachgab, als auch Münchhausen schon über die schlimmste Stelle hinweg war, konnte tiefer denkenden Menschen, wie sie sich hier fanden, unmöglich als blinder Zufall gelten.
Das Ende des Seiles hing noch auf der Nordseite des Berges hinab, aber jedenfalls zwei- bis dreihundert Meter über der Eisterrasse, also unerreichbar für die Zurückgebliebenen. Hier, von der Südseite aus, ließ sich die Bergwand wohl bis zu halber Höhe unschwer erklettern, aber dann hörte jede Möglichkeit des Weiterklimmens auf: das war augenscheinlich. Das Seil konnte keinen Halt gewähren, da es lose über den Sattel hinabhing. So sahen sich unsere Freunde von ihren Genossen und allen Vorräten und Hilfsmitteln abgeschnitten, hilflos inmitten einer Eiswüste.
Das Tal, in dem sie sich befanden, war im Osten und Süden von ebenso unersteiglichen Wänden abgeschnitten. Nach Westen zu führte es bergab in unabsehbare Ferne. Vielleicht gab es weiter westlich eine Stelle, wo die Münkhuysenberge überstiegen oder umgangen werden konnten; allein das hätte zweifellos mehrere Tagemärsche in Anspruch genommen, und daran war, entblößt von allen Lebensmitteln, nicht zu denken. Und wer konnte wissen, ob es von der Stelle aus, an der man die Küste erreicht hätte, überhaupt möglich gewesen wäre, zu den Kameraden zu gelangen.
Münkhuysen klagte sich selbst an, daß seine Gedankenlosigkeit diese bedenkliche Lage geschaffen habe, und bedauerte, daß er nicht wenigstens seinen Flugapparat mitgenommen habe, der jetzt alle Schwierigkeiten beseitigt hätte.
»Ich hätte überhaupt das Gebirge überfliegen können,« sagte er: »Ich dachte selbstverständlich auch daran; doch wollte ich die Mühen und Gefahren des Übersteigens mit Ihnen teilen.«
»Sie haben kein Recht, sich Vorwürfe zu machen, Baron,« sprach Mäusle ihm zu: »Wir alle tragen die gleiche Schuld an dem Versäumnis, denn jeder von uns hätte an diese naheliegende Vorsichtsmaßregel denken können und sollen: es kann nicht einer immer an alles denken.«
»Doch, doch! Ich allein bin schuld: als Leiter des Ganzen bin ich verpflichtet, an alles zu denken und für die Sicherheit meiner Gefährten Sorge zu tragen.«
Übrigens war Münkhuysen nicht der Mann, sich fruchtlosen Klagen hinzugeben: er faßte sich schnell wieder und hub an: »Das erste, was uns not tut, ist eine warme Unterkunft: wir müssen sofort an den Bau eines Hauses gehen.« Alsbald wies er auch jedem seine Tätigkeit an: die einen mußten Eisblöcke loshauen, andere gaben ihnen eine möglichst rechteckige Form, und die übrigen türmten diese Bausteine nach den Angaben des Ingenieurs Holm aufeinander. Münkhuysen selber war der eifrigste bei der Arbeit. Nach einigen Stunden war denn auch eine kunstlose, aber praktische Hütte zustande gebracht, und da eine mildere Luftströmung einen reichlichen Schneefall brachte, konnte man dieselbe zu besserem Schutze mit dicken Schneelagen umgeben und bedecken und auch mit einem engen und niederen Schneetunnel vor dem Eingang versehen.
Als unsere Freunde ihren neuen Eispalast betraten, mußten sich ihre Augen zunächst an die Dunkelheit gewöhnen; denn die Polarsonne stand schon tief am Horizont, und die kleinen, mit Eisscheiben versehenen Fenster ließen nur wenig von ihrem matten Lichte herein. Doch was wollte diese Unannehmlichkeit sagen gegen die schrecklichen Gefahren, die ihnen drohten: die Kälte im Innern des Gebäudes kam ihren durch die Arbeit erhitzten Gliedern doppelt grimmig vor, und der Hunger war durch die mehrstündige Anstrengung in solchem Maße bei allen geweckt worden, daß der Gedanke daran, daß ihnen jegliche Möglichkeit fehlte, ihn zu stillen, sie mit einem höchst peinlichen Unbehagen erfüllte.
»Jetzt sollten wir einen tüchtigen Hypnotiseur bei uns haben,« meinte Münchhausen, »einen Mann, der uns durch die Gewalt seiner Persönlichkeit und die Überzeugungskraft seiner Rede in die Einbildung wiegte, wir hätten soeben eine reichliche Mahlzeit zu uns genommen und verspürten weder Hunger noch Kälte.«
»Der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen,« bestätigte Professor Raimund: »Die Macht der Einbildung wirkt tatsächlich Wunder. Bekanntlich kann man aus reiner Einbildung krank werden, ja sterben; denn was ist der so oft tödlich wirkende Schreck im Grunde anderes als leere Einbildung? Mag er noch so begründet sein, so ist er doch nur eine Vorstellung dessen, was kommen könnte, vielleicht auch wirklich kommen wird, einen jedoch noch nicht im geringsten wirklich betroffen hat. Ebenso vermag die Einbildung anderseits Kranke gesund zu machen, sogar solche, die an einer sonst unheilbaren Krankheit leiden. Und denken Sie nur daran, welches behagliche Gefühl der Wärme uns beschleicht, sobald wir das Feuer flackern sehen, obgleich es vorerst in der Stube noch so kalt ist wie zuvor. Lauscht man mit gespanntem Interesse einem Vortrag, so achtet man nicht der Kälte im frostigen Raum und infolgedessen erkältet man sich auch nicht; man vergißt darüber Hunger und Durst und wird bei der schwülsten Hitze nicht schläfrig, und wenn man vorher vor Müdigkeit kaum mehr die Augen offen halten konnte. Ebenso läßt ein spannendes Buch kein Frostgefühl, keinen Hunger noch Durst und keine Schläfrigkeit aufkommen, solange man sich ganz seinem Zauber hingibt.«
»Schön!« sagte Schulze: »Aber wer will es unternehmen, uns die Suggestion oder Einbildung beizubringen, wir seien satt und unser Eispalast wohlgeheizt?«
»Eigentlich wäre das mein Fall,« erklärte der Kapitän: »Ich habe selber schon häufig Versuche mit der Hypnose angestellt und in Australien sogar einen wilden Dingo durch sie gezähmt.« Und nun begann er mit großer Beredsamkeit auf die Gefährten einzureden, es sei hier innen gar nicht so kalt, und der Hunger könne unmöglich so groß sein, daß tatsächlich über seinen lebhaften Vorstellungen und dem Gelächter, das seine gelungenen Redewendungen oft erweckten, Hunger und Frost einigermaßen vergessen wurden.
Leider war er selber zu wenig von seinen Ausführungen überzeugt, um voll überzeugende Wirkung ausüben zu können. Doch hatte er noch ein besseres Mittel auf Lager, nämlich einige seiner angeblichen Erlebnisse zu erzählen, durch die er die Aufmerksamkeit seiner Leidensgefährten zu fesseln hoffte. Und so begann er: »Die Macht der Einbildung ist viel größer, als beschränkte Geister annehmen, die blind an den großen Rätseln des Lebens vorübergehen. Ich könnte Ihnen da Beispiele aus meinem eigenen Leben erzählen …«
»Tun Sie das!« ermunterte ihn der Baron.
»Nun denn! Sie wissen alle, daß ein Seemann so gut wie alles verstehen muß, insbesondere auch die Nähkunst. Er muß nicht bloß Segel flicken, sondern auch seine Kluft instand setzen, da wohl ein Schiffszimmermann zum Flicken des Schiffs, nie aber Schneider und Nähterinnen zur Ausbesserung der Kleider geheuert werden. Diese Kunst war meine besondere Stärke; namentlich verstand ich das Einfädeln vorzüglich, selbst wenn der Faden dicker war als das Ohr.
»Eines Tages wollte ich auch gerade ein Loch in meinem Wams kalfatern. Es war am Äquator und die Sonne blendete mich derart, daß ich mit dem Einfädeln durchaus nicht zustande kam. überdies dämmerte es schon, und da in den Tropen so gut wie keine Dämmerung herrscht, war es sehr dunkel. Endlich wurde mir die Sache zu dumm und ich rief den Faden zornig an: ›Hinein mußt du, ob du willst oder nicht!‹ Das half: mit einem Ruck fuhr der widerspenstige Faden durch die Nadel. Wie ich nun aber mit dem Stopfen beginnen will, was merke ich? Denken Sie sich, ich hatte die Nadel an der Spitze eingefädelt statt am Ohr! Jetzt war es mir klar, warum mir die Sache solche Schwierigkeiten bereitet hatte. Aber Sie sehen daraus, was Ausdauer und Willenskraft, gepaart mit Einbildung, auszurichten vermag: hätte ich mir nicht eingebildet, das Ohr vor mir zu haben, so wäre es mir gewiß nie gelungen, den Faden durch die Spitze zu treiben.«
»Großartig!« lobte Schulze lachend: »Sie brächten es auch fertig, mit einem Tau zu nähen, Kapitän.«
»Das will ich meinen! Ähnliches habe ich noch öfters erlebt. Ein anderes Mal – das war an Land – wollte ich ein Feuer anzünden und sammelte umherliegendes Holz. Es war nasses Wetter und das Holz war mit Schmutz überzogen. Da lag auch eine Stange, völlig mit klebrigem Lehm bedeckt. Ich wollte sie zerbrechen, allein sie setzte mir einen unerwarteten Widerstand entgegen. Das reizte mich, und mit einiger Anstrengung brach ich sie mitten durch. Zu meiner Überraschung erkannte ich am Bruch, daß es kein Holz war, sondern eine fünf Zentimeter dicke Eisenstange. Ihr Gewicht war mir gleich aufgefallen, doch ich hatte gemeint, es sei eben Eisenholz. Ich sage Ihnen, hätte ich gewußt, daß es Metall war, meine Kraft hätte nie ausgereicht, das Ding auch nur zu biegen. Auch hier war der Erfolg lediglich durch die Macht der Einbildung bedingt. Das war übrigens am gleichen Tage, an dem ich vom Blitz verfolgt wurde und ihm mit knapper Not entrann.«
»Oho! Wie war das?« fragte Holm begierig.
»Ja, das war eine böse Geschichte. Ich fuhr nämlich Rad, und zwar war ich, wie in so vielen Künsten, auch hierin ein Meister: der schnellste Segler hätte mich nie eingeholt. Nun brach ein Gewitter aus, als ich gerade aus topfebener Strecke dahinrollte. Sie wissen, daß der Blitz mit Vorliebe schnellfahrende Radler zu treffen sucht, vielleicht weil ihre Geschwindigkeit ihn reizt, zu beweisen, daß er noch flinker ist. Richtig sehe ich einen besonders dicken Blitz herniederfahren, gerade auf mich zu. Ich trat, was ich konnte, und so schnell der Strahl auch herabzuckte, bis er den Erdboden erreichte, war ich schon ganz wo anders. Er biegt also hart über der Erde ab, um mich zu verfolgen. Das war eine tadelnswerte Bosheit. Ich war mir, zurückblickend, der Gefahr bewußt und sauste mit verdoppelter Geschwindigkeit davon – er mir nach. Das war eine tolle Hetzjagd, ein Wettlauf zwischen mir und dem Donnerkeil! Der Blitz mußte sich immer länger strecken und wurde infolgedessen immer dünner, schließlich in der Mitte so dünn, daß er abbrach in dem Augenblick, als er schon glaubte, mich erreicht zu haben. Hilflos fiel er zu Boden. Ich sprang ab und zündete mir noch behaglich eine Virginia an seiner glühenden Spitze an, ehe er erlosch: das war meine Rache. Sie war äußerst milde, erfüllte mich aber doch mit Genugtuung. Als der Blitz völlig erkaltet war, brach ich mir ein Stück zum Andenken ab. Ich bewahre es noch in Adelaide auf zur Erinnerung an dies gefährliche Wettrennen. Jeder Besucher bestaunt es, denn es ist bisher noch niemand gelungen, ein echtes Blitzstück zu erbeuten, weil der Blitz tief in die Erde zu fahren pflegt oder ins Wasser, wo er sich rasch auflöst.«
Diese seltsamen Erlebnisse erheiterten die Gesellschaft derart, daß tatsächlich Hunger und Kälte vergessen wurden, bis sich alle zur Ruhe legten und sich einem erquickenden Schlafe Hingaben.
Am anderen Morgen erzählten sie einander ihre nächtlichen Träume; denn fast jedem hatte etwas geträumt, und, wie es zu gehen pflegt, wenn man sich mit knurrendem Magen niederlegt, die Träume bezogen sich alle auf üppige Mahlzeiten.
»Oh, ich träumte von Wurst und Brot! Es war ein herrlicher Traum!« rief Ernst aus.
»Und ich von Butter und Käse!« übertrumpfte ihn Holm.
»Das war noch gar nichts gegen meinen Traum,« behauptete Mäusle: »Man sagt, der erste Traum in einer neuen Wohnung gehe in Erfüllung. Ach! daß es so wäre! Mir träumte nämlich, ich sei beim Fürsten von Hohenlohe zur Tafel eingeladen und da wurde ein Mahl von zwölf Gängen aufgetragen: Krebssuppe, Kabeljau, Pasteten, Rehbraten, Gänseleberpastete, Gansbraten, alles mit den dazugehörigen köstlichen Mehlspeisen und Salaten sowie den schmackhaftesten Tunken, gefüllte Tomaten, Reis und Kartoffelbrei, Pfannenkuchen mit Apfelmus, Spargeln, Spinat mit Eiern; zuletzt Schweizerkäse, Obst, Torten und eine Eisbombe, dazu Südweine und Sekt in Strömen.«
»Halten Sie ein, halten Sie ein!« rief Kapitän Münchhausen entsetzt, während ihm das Wasser im Munde zusammenlief: »Sie Grausamer! Wollen Sie uns mit Tantalusqualen foltern? Auch mir hat ja Ähnliches geträumt – leider, leider! Aber Sie als Poet sollten über solche leibliche Genüsse erhaben sein.«
»Oho!« verwahrte sich der Schwabe: »Ein leckeres Mahl, zumal bei hungrigem Magen, gehört zum Poesievollsten, was es geben kann. Das habe ich nie so sehr empfunden wie gerade jetzt, wo ich für ein üppiges Frühstück Shakespeares sämtliche Werke opfern würde.«
»Shakespeares sämtliche Werke!« rief Raimund empört, denn er war ein großer Shakespeareverehrer: »Sie Ketzer, Sie Barbar, Sie Vandale, Sie Unmensch! Und Sie wollen Dichter sein?«
»Jawohl, den ganzen Shakespeare und noch Schiller und Goethe dazu gäbe ich für einen einzigen ausgiebigen Morgenimbiß!« erklärte Mäusle hartnäckig.
»Suggerieren Sie uns lieber ein gutes Frühstück!« seufzte Münchhausen: »Ich verspüre gewaltigen Appetit.«
»Das wäre eher Ihre Sache,« klagte der Schwabe: »In meiner Verfassung lassen sich schwerlich große Genüsse suggerieren.«
Holm fragte Ernst, da er doch hauptsächlich Chemie studiert habe, ob er nicht aus den überall vorhandenen Grundstoffen eine chemische Nahrung zu bereiten verstehe, erhielt aber zu seiner Enttäuschung die Antwort, so weit sei die Chemie leider noch nicht, und es fehle ihm auch an allen nötigen Geräten und Mitteln, um derartige Versuche anzustellen, die übrigens auch aussichtslos wären.
»Ach!« seufzte der Ingenieur: »Wie bald vielleicht trägt der Mensch seinen Nahrungsvorrat für viele Wochen in der Westentasche bei sich – und wir sollen verhungern, nur weil die faule Chemie eben zufällig jetzt noch nicht so weit ist!«
»Geben Sie sich keinen Täuschungen hin,« sagte Münkhuysen: »Die chemische Nahrung ist meines Erachtens ein ebensolches Unding, wie die hygienischen Häuser es sind, von denen verschrobene Köpfe träumen, welche durch falsch verstandene Wissenschaft den gesunden Menschenverstand eingebüßt haben. Unser Verdauungsapparat ist darauf eingerichtet, eben die Nahrung aufzunehmen, die uns in der Natur geboten wird; wollten wir nur die zum Bau des Körpers nötigen Nährstoffe aufnehmen, so müßte unser Organismus aus Mangel an natürlicher Tätigkeit zugrunde gehen; gelänge es aber, ihn an eine solche Nährweise zu gewöhnen, so würde ein Teil des Verdauungsapparates als überflüssig absterben, und dann müßte auch der kleinste Bissen, der einen für unseren Körper nicht anzugleichenden Stoff enthielte, zum Beispiel ein Stück Brot, eine Frucht, eine Beere und so weiter, wie das schärfste Gift tödlich auf uns wirken. Wollten wir vollends nur chemisch reine Luft einatmen – und das wird in den sogenannten hygienischen Häusern‹ angestrebt –, so würde unser Atmungsapparat aller schädlichen Stoffe derart entwöhnt, daß wir entweder an den Veränderungen, die er erleiden müßte, zugrunde gingen, oder aber das Einatmen natürlich beschaffener Luft gar nicht mehr ertrügen. Unser Leib ist eben für den Kampf ums Dasein eingerichtet und befähigt, das ihm Schädliche zu überwinden; hält man es ihm völlig fern, so verkümmert er und verliert die Kraft, sich gegen verderbliche Einflüsse wirksam zu wehren.«
»In der Tat,« fügte Ernst hinzu: »Die Chemie scheint mir nicht dazu berufen, die Natur auszuschalten und zu ersetzen. Versuchen Sie es doch einmal, Ihren Durst mit destilliertem Wasser zu löschen! Da schlotze ich doch noch lieber Eis!«
»Aber die Wissenschaft beschäftigt sich doch ernstlich mit den angeregten Fragen,« beharrte Holm. »Man wird sie doch nicht so kurz von der Hand weisen können.«
»Gehen Sie mir weg mit dieser Art von Wissenschaft, die wirklichkeitsfremde Theorien aufstellt und die Natur außer acht läßt,« warnte Mäusle. »Sucht nicht auch die Medizin nach Mitteln, die schädlichen Bazillen zu vernichten, ohne der leiblichen Gesundheit zu schaden? Ich halte das für undenkbar: der Schaden muß immer größer sein als der Nutzen; denn die Bazillen, die überall in zahllosen Mengen vorhanden sind, würden den ihnen günstigen Nährboden sofort wieder besiedeln. Wie können wir ihnen entgehen? Die Ärzte warnen vor dem Genuß ungekochter Speisen und Getränke, und das ist gewiß das Richtige in allen Fällen, wo Nahrungsmittel und Wasser außerordentlicherweise durch Krankheitskeime verseucht sind. Sie empfehlen peinliche Sauberkeit, und auch dies ist vom gesundheitlichen Standpunkt, wie schon vom rein appetitlichen, durchaus angebracht. Aber da gibt es Fanatiker der Vorbeugungsmaßregeln, die eine Unmenge von Vorschriften geben, die sich einfach nicht durchführen lassen, um zu verhindern, daß ein Bazillus in unseren Körper dringe. Jedes Buch, jede Zeitung soll desinfiziert werden, ehe man sie zur Hand nimmt, denn sie wimmeln von Bazillen. Das Küssen soll gefährlich sein, weil Bazillen die Lippen bevölkern, und so geht es fort. Mikrokokken haften an den Händen, daher ist kein Bissen Brot von ihnen frei, denn das Brot wurde vom Bäcker und Bäckerjungen mit den Händen berührt. Die Bazillen schweben in der Luft, also müßte man uns das Atmen verbieten. Sterilisieren wir das Brot und desinfizieren wir unsere Hände, ehe wir es zum Munde führen, so hilft uns das nichts, denn das Berühren einer Türklinke, einer Stuhllehne, unserer Kleidung oder gar des Taschentuchs führt sofort wieder die Kleinlebewesen zu Millionen auf unsere Finger. Gelänge uns jedoch die Vermeidung aller dieser Gefahren, so wäre auch damit nichts gewonnen, weil die Scheusäler an unseren Lippen hasten und unsere Mundhöhle bevölkern. Und zuletzt würden wir an unserer übertriebenen Vorsicht selber sterben, weil mit den schädlichen Bazillen auch diejenigen vernichtet würden, die wir zum Leben unbedingt nötig haben. Daher sterben auch die Säuglinge, die ausschließlich mit sterilisierter Milch ernährt werden, während diejenigen gedeihen, die an der undesinfizierten Mutterbrust zahllose nützliche und schädliche Bazillen in sich ausnehmen. Vernichten Sie die Würmer auf einem Aas, Sie werden den Verwesungsprozeß dadurch nicht hindern, weil sofort wieder neue Würmer auf dem ihnen zusagenden Nährboden entstehen. Verwandeln Sie jedoch das Fleisch in einen für die Würmer ungeeigneten Nährboden, so verschwinden diese von selbst. Daraus ergibt sich, daß nicht das Töten der Mikrokokken Heilung bringen kann, sondern allein die Kräftigung und Gesundung der von ihnen befallenen Organe. Ist unser Leib stark und gesund, so können ihm noch so viele Bazillen nichts schaden: ihn hermetisch vor ihnen verschließen können wir niemals. Alles sogenannte Immunisieren, das heißt Feien der Organe gegen Ansteckungsstoffe, schadet, vergiftet und schwächt, begünstigt also die Erkrankung, während die Kräftigung der Organe allein vor ihr schützt oder befähigt, sie zu überwinden. Darum sind die Bazillenjäger auf einem verhängnisvollen Holzweg.«
»Bravo!« sagte Münkhuysen: »Das ist auch meine Überzeugung. Aber jetzt heißt es arbeiten, sonst verhungern wir!«
Der Baron wies nun die ganze Gesellschaft an, das Eisgebirge im Norden mit ihren Eispickeln anzugreifen und eine Höhlung hineinzugraben. Offen gestanden fürchteten die meisten, die Aufregungen und Entbehrungen der letzten Zeit hätten den sonst so klardenkenden Mann in geistige Verwirrung versetzt. Denn das Beginnen, das er von ihnen verlangte und bei dem er selbst kräftig Hand mit anlegte, konnte doch nur den Zweck haben, einen Tunnel durch die Münkhuysenberge hindurchzugraben, ein Werk, das für die wenigen geschwächten Männer ein Ding der Unmöglichkeit scheinen mußte, auch wenn sie monatelang hätten arbeiten können.
Sie waren aber gewohnt, Münkhuysens Anordnungen blindlings zu folgen, und auch diesmal sollten sie es nicht bereuen.
Ein lautes »Hurra!« erscholl, als man nach mehrstündiger Arbeit auf den Riesenkörper eines Mammut stieß. Münkhuysen hatte ganz richtig geschlossen, daß hier, wie im Norden, noch manche Tiere früherer Jahrtausende eingefroren und gut erhalten zu finden seien. In der Tat war das Mammut bis auf den behaarten Pelz so frisch und unversehrt, als wäre es soeben erst von einer tödlichen Kugel getroffen worden.
Rasch wurden mächtige Stücke Fleisch aus dem Riesenkörper gehauen; aber die Ausgehungerten kamen alsbald in eine neue Verlegenheit: wie sollte das kostbare Fleisch zum Genuß zubereitet werden? Fehlte es ihnen doch vollständig an Brennmaterial, da sie die Stiele ihrer Pickel nicht opfern durften; wer konnte wissen, wie nötig ihnen diese ihre einzigen Wertzeuge noch werden konnten?
Sie zogen sich zur Beratung in den Eispalast zurück, den sie »Holmheim« genannt hatten, da Holm als Ingenieur den Plan entworfen und den Bau geleitet hatte. Der Raum war nun angenehm durchwärmt, da die von neun Personen während des Schlafes entwickelte Körperwärme noch darin vorhielt.
Die Beratung schien übrigens vergeblich, denn niemand wußte einen anderen Rat als den, die Pickelstiele zur Feuerung zu benutzen. Zündhölzer waren genug vorhanden, da die Gesellschaft meist aus tüchtigen Rauchern bestand.
Münkhuysen hatte bisher nachdenklich dagesessen; nun rief er aus: »Ich hab's! Braten wir das Mammut mit Hilfe seines eigenen Fetts!«
»Das ist ein Gedanke!« rief Raimund: »Ein Glück, daß Sie darauf kamen, Baron: es kommt immer alles darauf an, daß einem im rechten Augenblick das Richtige einfällt, sonst geht man zugrunde, wo man es durchaus nicht nötig hätte. Warum sollte das Mammutfett nicht brennen, da doch der Seehundspeck ein so treffliches Feuerungsmittel ist? Wie viele Polarreisende haben sich mühsam behelfen müssen oder sind gar elend umgekommen, nur weil sie diese Eigenschaft des Robbenfettes nicht ahnten und nicht darauf kamen, einen Versuch damit zu machen.«
»Also ans Werk!« mahnte Kapitän Münchhausen, der Hungrigste der Hungernden: »Fertigen wir Dochte an aus einem Endchen unseres unendlichen Seiles.«
»Nicht einmal das wird nötig sein,« meinte Mäusle: »Ich erinnere mich, gelesen zu haben, daß der Seehundspeck ohne Docht viel besser brennt als mit einem solchen.«
Alsbald wurde in der Eishütte ein kleiner Herd aus Steinen errichtet, Mammutfett in die Feuerstelle gebracht und entzündet. Der Speck brannte, nachdem er aufgetaut war, mit starker Flamme. Fleischstücke wurden darüber befestigt und gewendet, und es währte nicht lange, bis sie sich in saftige Braten verwandelten.
Niemals hatte irgend einem aus der Gesellschaft ein Mahl so köstlich gemundet wie dieses mehrere tausend Jahre alte und doch so wohlerhaltene Fleisch, das dem frischesten und feinsten Wildbret an Wohlgeschmack nichts nachgab.
Der Kapitän hieb am wackersten ein; als er aber endlich gesättigt war, streichelte er voller Wohlbehagen die stattliche Wölbung seines Leibes und ergriff das Wort.
Wir haben schon vernommen, daß er zu behaupten liebte, sich auch in den außerordentlichsten Lebenslagen schon einmal befunden zu haben, und so war es auch diesmal wieder.