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19.
Ein unfreiwilliger Ritt

Ohne weitere Zwischenfälle lief man am 1. September in Port Phillip ein und betrat in Melbourne den australischen Weltteil.

Der Kapitän der Jacht erhielt Befehl, nach achttägiger Rast in Melbourne, nach Sidney zu steuern und die Zurückbleibenden dort zu erwarten. Zu Ernsts Verwunderung wurden die Kisten, welche die Dampfmaschine für das Polarschiff enthielten, ausgeladen und auf die Bahn verbracht. Wozu doch konnte Münkhuysen sein Schiff mit der Maschine versehen wollen, ehe es den Meeresstrand erreicht hatte?

Während die meisten Fahrgäste mit der Jacht nach Sidney fahren sollten, begleiteten Ernst Frank, Münchhausen, Schulze, Mäusle und Neeltje den Baron und sein Töchterlein in das Innere. Dort wollte Münkhuysen sein im Bau befindliches Polarschiff besichtigen und dessen Verbringung zur Küste leiten.

Sie fuhren mit der Bahn bis Young, wo sie ausstiegen, um zu Pferde den australischen Urwald zu erreichen. Die Maschine wurde auf drei Ochsenwagen nachgeführt.

Die kleine Eva erwies sich als gewandte und geübte Reiterin, die auch den erforderlichen Mut zu schwierigeren Reiterstücken besaß. Ernst ritt meist an ihrer Seite, während die älteren Herren um einige Pferdelängen voraus waren. So konnten die beiden Vertrauten ungestört von ihren Heimlichkeiten reden, von der gefangenen Prinzessin am Südpol, von dem Wunder, das sie durch das Paläoskop entdeckt hatten, und von Evas Puppe, die noch im Koffer ihrer Erlösung harrte, – auch eine gefangene Prinzeß!

Bald gelangten die Reiter in eine endlose Ebene, die mit einem grünen Teppich bedeckt war; dieser Grasteppich war mit einer solchen Fülle bunter Blumen durchwirkt, daß er einen unbeschreiblich reizenden Anblick gewährte und niemals durch Eintönigkeit das Auge ermüdete.

Die Prärie befand sich im vollsten Frühlingsschmuck, denn der September in diesen Breiten entspricht unserem Februar, und im Süden beginnt der Lenz einige Monate bälder als bei uns. In der Ferne sah man eine ausgedehnte Baumgruppe, die nach zweistündigem Ritte erreicht wurde.

Der Wald bestand aus mächtigen Blaugummibäumen ( Eucalyptus globulus), deren einzelne Stämme so weit voneinander entfernt standen, daß fünfzig Reiter bequem nebeneinander hier durchreiten konnten; da überdies die säbelförmigen Blätter des Eukalyptus senkrecht herabhängen, war hier wenig Schatten zu finden, und Ernst war anfangs sehr enttäuscht, da er die geheimnisvolle Dämmerung des Urwaldes vermißte, von der er geträumt hatte. Durch Münkhuysen erfuhr er, daß Australiens Urwälder überall den gleichen Charakter tragen und eigentlich nur aus einer Kette großer Baumgruppen bestehen, die sich durch eine unabsehbare Grasebene hindurchschlängelt.

Was unseren jungen Freund übrigens mit diesem sonnigen Urwald aussöhnte, war die Pracht der weißen, gelben und violetten Syringen, welche die Luft mit den lieblichsten Düften erfüllten. Merkwürdig erschien es ihm, daß auch rote Syringen zu sehen waren, welche aber sämtlich schlaff und welkend herabhingen.

Kapitän Münchhausen besaß in Adelaide ein eigenes Landhaus, das er bewohnte, wenn er nicht, wie gewöhnlich, auf Forschungsreisen abwesend war. Als genauer Kenner Australiens konnte er daher Ernst Frank belehren, daß die rote Syringe die Nachtblume dieser Wälder sei und ähnlich der indischen Lotosblume erst mit der Abenddämmerung beginne, ihre Frische und ihren Wohlgeruch zu entfalten, während sie tagsüber matt und kraftlos traure.

Jenseits der Waldinsel begann wieder die blumenreiche Ebene. Am Waldrande wurde gerastet, hauptsächlich, um den Pferden Ruhe zu gönnen und einen Imbiß einzunehmen.

Während die anderen rauchend im Grase ruhten, nachdem das Mahl beendigt war, erging sich Michael Mäusle ein wenig in der farbenstrahlenden Wiese. Es freute ihn, zu beobachten, wie leicht und lautlos es sich hier schreiten ließ, wenn man in langsamen Schritten dahinwanderte, und er mußte denken, hier wäre es unschwer, ein ahnungsloses Wild zu beschleichen, das einem den Rücken zukehre, vorausgesetzt, daß man gegen den Wind gehe, wie er es jetzt tat, so daß man nicht durch die Witterung verraten werden könne.

Ein kleiner, mit struppigem Gras bewachsener Erdhügel lud ihn zum Sitzen ein und er ließ sich darauf nieder, ohne ihn genauer zu besichtigen. Es war einer seiner Fehler, daß er, der einen besonders scharfen Blick besaß, wo es galt, zu beobachten und Vorsicht zu üben, achtlos, ja leichtsinnig handeln konnte, wenn er sich keiner Gefahr bewußt war, und vornehmlich, wenn er in poetischen Träumereien schwelgte.

Kaum hatte er sich auf den vermeintlichen Erdhügel gesetzt, als ein breitgeschnäbelter Vogelkopf zwischen seinen Beinen emporfuhr, so hoch, daß er Mäusles Haupt überragte, denn der Kopf saß auf einem außerordentlich langen, dünnen Hals. Gleichzeitig erhob sich der Sitz unter dem verblüfften Schwaben zu ansehnlicher Höhe und er fand sich regelrecht auf einem merkwürdigen Vogel reitend.

»Aha!« dachte er: »Das ist ein Kasuar, der australische Vogel Strauß. Ich habe ja in Reisebeschreibungen von ihm gelesen, daß er oft für einen grasigen Erdhügel gehalten wird, wenn er schlafend oder brütend am Boden kauert, Kopf und Hals unter den Flügeln bergend. Da ist mir wieder so ein ahnungsloser Streich begegnet, wie damals mit dem Krokodil auf Oranjehof, das ich für einen treibenden Baumstamm hielt, und jetzt gibt es wieder einen unfreiwilligen Ritt, wie bei Barberton, doch glücklicherweise ist es nicht so gefährlich wie in jenen beiden Fällen.«

Während er so dachte, hatte sich der erschreckte Vogel mit dem ungewohnten Reiter in eiligsten Trab versetzt und jagte dem Eukalyptuswald zu; Mäusle umklammerte indessen seinen Hals, um sich festzuhalten.

Es ritt sich ganz angenehm auf dem weichen Rücken des Kasuars, und Gefahr war dabei keine vorhanden, selbst wenn es in den lichten Wald ging, da die schlanken Stämme der Eukalypten sich erst in bedeutender Höhe verästelten und meist überhaupt keine wagrechten Äste besaßen. Ein Anstoßen an irgend ein Hindernis war also nicht zu befürchten.

Allein es ging außerordentlich schnell dahin, und, so herrlich dies auch sein mochte, der Schwabe wollte doch nicht auf unbestimmte Entfernung von den Gefährten entführt werden, auf die der Ritt geradewegs zuging, denn der Riesenvogel achtete in seiner erklärlichen Angst auf nichts und dachte nur an eiligste Flucht, ohne zu begreifen, daß ihn diese im vorliegenden Falle nichts helfen konnte.

Um der Sache ein rasches Ende zu machen, preßte Mäusle den dünnen Hals mit seinen kräftigen Fäusten so fest zusammen, daß der Kasuar verzweifelt nach Luft schnappte.

Neeltje, die sich erhoben hatte, um nach dem Gatten auszuschauen, stieß einen Schrei aus, als sie ihn auf dem kurzgeflügelten Reittier daherjagen sah. Alle sprangen auf und ließen Rufe höchsten Erstaunens vernehmen.

Inzwischen war der seltsame Reiter angelangt, und der Vogel brach unter ihm zusammen, da ihm der Atem bereits völlig ausgegangen war. Mäusle sprang ab und zeigte sich so seelenruhig, als ob sein Erlebnis das alltäglichste der Welt gewesen sei. Münkhuysen aber rief ihm zu: »Holla! Da sehen wir ja den berühmten Antilopenreiter auch in Australien die Reitkünste üben, die ihm kein Sterblicher nachmacht!«

Der Schwabe hielt noch immer den Hals umklammert, ließ ihn aber jetzt los. Schlaff fiel er herab: der Vogel war erstickt. Das hatte der gute Mann nicht beabsichtigt, und es tat ihm leid. Er stellte Wiederbelebungsversuche an, die jedoch erfolglos blieben.

»Sie haben Ihr Reittier zuschanden geritten,« tadelte der Kapitän: »Sie müssen wilde Geschöpfe, die keinen Reiter gewohnt sind, rücksichtsvoller behandeln. Aber Ihr Ruhm wird bald durch ganz Australien schallen, wie er bereits Afrika erfüllt. Dorthin muß ich einmal mit Ihnen reisen; dann werde ich es erleben, daß Sie Nashörner, Nilpferde und Löwen besteigen und ins Lager hetzen, um sie dann Hagenbeck zu übersenden. Es ist scheint's Ihre Gewohnheit, Geschöpfe mit den bloßen Händen lebendig zu fangen, mit deren Fang die kühnsten und listenreichsten Jäger sich meist vergeblich abmühen.«

»O!« wehrte Mäusle ab: »Es war der reinste Zufall und ich habe gewiß keinerlei Verdienst dabei; am wenigsten handelt es sich um eine Heldentat: zum Helden habe ich nicht die geringste Anlage; vielmehr war es reiner Leichtsinn und im Grunde eine der zahlreichen Dummheiten, die ich zu machen pflege. Aber schön war der Ritt doch, herrlich sogar! Und wenn ich auch jedermann ernstlich davon abrate, mir den höchst bedenklichen Kuduritt nachzumachen, einen Kasuarritt kann ich Ihnen allen mit dem besten Gewissen empfehlen!«

Alle lachten, und Schulze meinte: »Sie haben gut reden; aber es gibt nur einen Michael Mäusle in der Welt, und die Leistungen, die er so kaltblütig vollbringt, sind für jeden anderen ausgeschlossen.«

»Oho!« eiferte Münchhausen: »Mich müssen Sie ausnehmen. Wenn ich an meinen Walroßritt denke …!«

»Wie? Auf einem Walroß sind Sie geritten?« fragte Ernst erstaunt, und Eva bat: »O bitte, erzählen Sie uns das!«

»Gerne,« sagte der Kapitän und begann, während Münkhuysen den Kasuar mit Ernsts Hilfe der Federn und der besten Fleischstücke beraubte.

»Also, das war in Grönland bei den mir befreundeten Eskimos. Ich plätscherte zum Vergnügen in einem Kajak, einem ihrer leichten Boote, zwischen Eisschollen umher, als ein besonders starkes Walroß so unverschämt war, mich anzugreifen. Ich war unbewaffnet, und das Vieh brachte, wie es mit Vorliebe zu tun pflegt, meinen Kahn zum Kentern mittels seiner mächtigen Zähne. Wäre ich ins Wasser gefallen, so wäre es mir sicher mit seinen scharfen Waffen zu Leibe gegangen und ich wäre verloren gewesen. Glücklicherweise fiel mir ein: Wozu werden diese Geschöpfe Rosse genannt? Zweifellos, weil sie zum Reiten bestimmt und geeignet sind.

»Im Augenblick, da mein Fahrzeug umkippte, sprang ich daher auf den glatten Rücken des Tieres, drehte mich um und faßte es bei den Zähnen, um mich festzuhalten, von wegen seiner großen Schlüpfrigkeit, denn es war ungesattelt. Da hätten Sie die Wut des Seeungetüms sehen sollen! Es wollte mich abschütteln, – vergebens! Es tauchte ein paarmal unter, allein ich bin ein geübter Taucher und hielt es länger unter Wasser aus als das aufgeregte Tier. Endlich schwamm es an Land und wälzte sich auf dem Boden. Nun glitt ich wohl ab, ließ jedoch die Zähne nicht los, sondern drehte mich blitzschnell mit ihnen im Kreise um das Vieh herum, so daß ihm der Hals zugedreht wurde und es elend erstickte. Das war natürlich eine ganz andere Leistung als diejenige Herrn Mäusles, denn ein Kasuar mit seinem dünnen Halse läßt sich spielend erwürgen, nicht aber ein dickhalsiges Walroß. Die Eskimos, sage ich Ihnen, fielen vor Staunen alle auf den Rücken, Männer, Weiber und Kinder. So etwas hatten sie nicht für möglich gehalten. Erst mein Abenteuer mit dem riesigen Eisbären ließ sie erkennen, daß sie einen Mann beherbergten, dessen Kühnheit, Kraft, Gewandtheit und List allen Gefahren gewachsen sei.«

»Wie war das mit dem Eisbären?« fragte nun Ernst, während die anderen lachten.

»Ja, das war fast noch gefährlicher. Als wir eines Morgens aus der Schneehütte krochen, sahen wir einen riesigen Eisbären am Strande stehen. Er hatte sich eben an einem erlegten Seehund gesättigt und schenkte uns daher nicht die geringste Beachtung, vielmehr schien er tief in Gedanken versunken.

»Ich hatte meine Flinte zur Hand und schoß ihn in den Rücken. Das war ein großes Wagnis, denn ein tödlicher Schuß war bei seiner Stellung nicht möglich, und ich mußte einen Angriff des fürchterlichen Raubtiers gewärtigen. Doch bin ich ein schlauer Kamerad und hatte meinen Plan schon gefaßt.

»Wütend sah sich der Eisbär nach mir um. Allein ich hatte blitzschnell mein Gewehr abgesetzt, stützte mich auf den Lauf und blickte wie geistesabwesend in eine ganz andere Richtung, nur in den Augenwinkeln durch die Wimpern nach dem Bären schielend. Er mußte daher glauben, ich sei es nicht, der auf ihn geschossen habe, und sah sich nun nach den Eskimos im Kreise um. Sobald er mir die Flanke bot, traf ihn meine zweite Kugel. Brüllend wandte er sich wieder mir zu. Indessen stand ich schon wieder ganz harmlos in der gleichen unschuldigen Stellung da, so daß er rein nicht wußte, wo er daran war. Seine rotunterlaufenen Augen suchten nach dem geheimnisvollen Schützen und ich fand Zeit, von ihm unbemerkt, neu zu laden und ihm eine dritte Kugel zu geben, die diesmal vorzüglich saß. Jetzt aber ließ er sich nicht mehr foppen und trabte in rasender Wut auf mich zu. ›Halt!‹ rief ich: ›Dort steht der Schütze!‹ und wies zur Seite. Das dumme Tier ließ sich richtig täuschen und äugte in der angedeuteten Richtung. Dieser Augenblick des Zögerns war sein endgültiges Verderben: meine vierte Kugel gab ihm den Rest.

»Ich war schon damals ein vorzüglicher Schütze und mußte mich wundern, daß er ein so zähes Leben gezeigt hatte. Die über meine Kaltblütigkeit und List sprachlosen Eskimos halfen mir, ihn zu zerlegen, und da löste sich das Rätsel: das Tier hatte zwei Herzen! Darum war es so außergewöhnlich groß! Meine erste Kugel war im Fleisch stecken geblieben und an einer Rippe abgeprallt. Die beiden anderen hatten das linke Herz durchbohrt, was ihm nichts weiter schaden konnte, da das rechte noch unverletzt war. Erst als die vierte Kugel auch dieses durchschlug, war es mit seinem Leben endgültig zu Ende. Es ist dies übrigens das einzige Mal in meinem Leben, daß ich ein Tier mit zwei Herzen erlegt habe: es scheint dies ein ungemein seltenes Naturspiel zu sein!«

»Bravo!« rief Schulze: »Hieran erkenne ich Sie wieder, Kapitän: wenn unser Mäusle Taten verübt, die niemand ihm nachahmen kann, so erleben Sie dafür so Haarsträubendes, daß niemand anders es sich aussinnen könnte. Auch Sie sind ein hervorragender Dichter: es lebe die Dichtkunst!«

Auch die übrigen Zuhörer lohnten dem phantasiereichen Erzähler mit heiterem Beifall.

Dann wurde die Rast abgebrochen, und man bestieg wieder die Pferde zum Weiterritt durch die blühende Ebene und die himmelhohen Eukalyptuswälder, die immer wieder inselgleich aus dem flachen Land sich erhoben, mit ihrem eigenartigen, durchdringenden Geruch die Riechorgane erfreuend.


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