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39.
Ein Stück Urwelt

Das Binnenmeer, das inzwischen völlig aufgetaut war, erwies sich bei näherer Erforschung als von mäßiger Ausdehnung. Es war ein Salzwassersee in der ungefähren Größe des Bodensees und zeigte eine Höchsttiefe von dreißig Metern, abgesehen von einigen schmalen Abgründen, die bei einiger Vorsicht leicht zu überschreiten waren.

Mäusle schritt, als der mutigste voran, ein zuverlässiger Pfadfinder. Ihm folgte seine treue Gattin Neeltje. Den Schluß bildete der am wenigsten beherzte Doktor Maibold. Aber gerade er sollte einen Unfall erleiden. Der Schwabe hatte eine besonders breite Spalte angezeigt, und jeder der im Gänsemarsch folgenden gab seinem Hintermann die Warnung weiter, sobald er an die gefährliche Stelle kam. Raimund, als der Vorletzte rief dem Nachzügler zu: »Aufgepaßt, Doktor! Jetzt kommt der Abgrund, acht Meter Schrittweite!«

Maibold in seiner Ängstlichkeit versäumte es, den Grund abzutasten und machte den weitesten Schritt, der ihm möglich war, noch ehe er an den Rand des Spalts gelangt war. Er erreichte mit der vorgesetzten Stelze gerade noch den jenseitigen Rand, aber so knapp, daß er abglitt und ins Wasser stürzte. Die schwimmenden Stelzen hielten ihn zwar über Wasser, aber er lag mit dem Gesicht nach unten und sein Kopf tauchte immer wieder unter, so daß er gehörig Wasser schlucken mußte. Seine Bemühungen, sich aufzurichten, waren vergeblich, denn mit den dreißig Meter langen schwimmenden Stangen an den Beinen war dies ein Ding der Unmöglichkeit.

Raimund allein hatte den Unfall bemerkt. Allein guter Rat war teuer: sollte er abschnallen und absteigen, um den Unglückswurm schwimmend zu retten? Das war mitten im Wasser bei unsicherem Stand auf dem schlüpfrigen Grunde ein gewagtes Unternehmen.

Der Professor hatte sich umgewendet und besah sich den Fall. Er entschloß sich, den Schwimmer mit dem Haken seines Alpenstockes zu angeln und mit sich ans Ufer zu ziehen, das glücklicherweise nicht mehr fern war. Die Angelung gelang, nicht aber ein Emporheben des Körpers über Wasser. So schleifte er den bedauernswerten Arzt hinter sich her, wobei dessen Haupt meist unter Wasser blieb. Endlich hatte er den Halberstickten am Ufer, wo die anderen bereits standen und dem Rettungswerk zusahen, bereit, wenn erforderlich, Hilfe zu leisten. Doch war ein Eingreifen nicht vonnöten.

»Das war eine Heldentat, Professor Raimund!« sagte Münkhuysen anerkennend: »Wie leicht hätten Sie selber den Halt verlieren können, da Sie sich nicht mehr auf den Stock stützen konnten. Dies Meer soll zu Ihren Ehren fortan den Namen ›Raimundmeer‹ tragen.«

Dieser Beschluß fand den allgemeinen Beifall, und Holm, der die Kartenaufzeichnungen übernommen hatte, trug den Namen sofort in die Skizze ein, die er nun entwarf.

Das südliche Ufer des Raimundmeeres war mit Kiefernwald bestanden und stieg rasch an. Die Wanderer mußten ein hohes Gebirge überschreiten. Der Wald zeigte sich anfangs ziemlich hinderlich, da man über die Baumwipfel hinwegschreiten mußte und die Schritte genau zu berechnen hatte, um nirgends hängen zu bleiben. Zum Glück gewinnt man bald eine große Übung in solchen Berechnungen, so daß sie in der Folge unbewußt, sozusagen instinktmäßig, mit kaum fehlender Sicherheit angestellt werden, und bald bewegten sich alle zwischen den verhältnismäßig niederen Bäumen hindurch, sicher und gewandt, als seien keine Hindernisse vorhanden.

Jenseits des Gebirgszuges, harrte unserer Freunde eine großartige Überraschung: sie betraten einen Urwald von Farnkräutern und Schachtelhalmen von solch riesenhafter Höhe, daß sie selbst auf den hohen Stelzen noch weit unter den höchsten Wipfeln dahinmarschierten. Der Wald war übrigens so licht, daß es ohne wesentliche Schwierigkeit gelang, sich hindurchzuwinden.

Der Baron ließ sich in einer Lichtung mit seinen Flügeln zur Erde nieder und schlug vor, hier Rast zu halten, da ein Ausruhen und eine Stärkung notwendig seien, und er glaube, dieser Urwald verspreche eine reiche wissenschaftliche Ausbeute.

Mit diesem zeitgemäßen Vorschlag waren alle einverstanden, ja Professor Schulze war entzückt darüber, denn er war überzeugt, daß sich hier wieder einmal alle Wissenschaft aufhören werde, und er hätte nur mit größtem Bedauern darauf verzichtet, dies eingehend feststellen zu können.

Und wahrhaftig! er hatte sich in seinen Erwartungen nicht getäuscht, denn es zeigte sich bald, daß in dieser außerordentlichen Gegend die Wunder der Tierwelt den Wundern der Pflanzenwelt die Wage hielten.

Die Reisegesellschaft lagerte sich auf der Lichtung und befriedigte zunächst die leiblichen Bedürfnisse, wobei Kapitän Münchhausen, wie gewöhnlich, die größten Heldentaten verrichtete. Schon hier konnte man neben den seltsamen Pflanzenformen der Urwelt merkwürdige Insekten von lebhafter Farbenpracht und völlig unbekannte Vogelarten bewundern.

Nach einer Stunde wurde aufgebrochen. Bald lichtete sich der Wald und ein ausgedehntes Meer zeigte sich den entzückten Blicken mit seiner tiefblauen, leicht gekräuselten Fläche, die im Sonnengold blendend flimmerte. Man konnte bis zum jenseitigen Ufer hinüberschauen, rechts und links aber verloren sich die unabsehbaren Wasser im Horizont. Das flache, mit Gras und Kräutern bewachsene Ufer hatte eine Breite von einem halben Kilometer, und bot den staunenden Augen ein Schauspiel, wie es vielleicht vor ihnen kein menschliches Auge genossen hatte, es sei denn vor ungezählten Jahrtausenden. Hier lagerten mächtige Pelzelefanten und Pelznashörner; dort weideten Büffel von ungeheurer Größe: Megatherien oder Riesenfaultiere, wiegten sich an den überhängenden Ästen des Waldsaums, denn hier gab es auch stark verästelte Laubbäume von riesenhafter Ausmessung. Das Mammut und das Dinotherium wateten im Wasser, den unförmlichen Leib zu kühlen. Riesenvögel, die an den fabelhaften Vogel Rock aus Tausendundeinernacht gemahnten, überschatteten die sonnigen Gewässer. Pterodaktylen flatterten umher und klapperten unheimlich mit dem zahnbewehrten Riesenschnabel. Schwäne von der Größe des Vogels Strauß schwammen dahin und zuweilen tauchten die riesenschlangenartigen Fangarme eines ungeheuren Tintenfisches auf, die ein Opfer vom Wasserspiegel oder aus der Luft erhaschten und hinunterzerrten.

Sümpfe und Süßwasserlagunen unterbrachen stellenweise die Küstenwiese: da schwebten lautlos farbenschillernde Libellen von märchenhafter Pracht. Ihre durchsichtigen Flügel waren etwa einen Meter lang und der dicke, biegsame Leib war noch länger, so daß er trotz seines stattlichen Umfangs den Eindruck anmutiger Schlankheit erweckte. Aus runden Löchern im Erdboden lugten die rötlichen Köpfe von Regenwürmern hervor. Oft schoß der Oberleib eines solchen Wurmes zwei bis drei Meter hoch in die Luft und erhaschte eine tieffliegende Wasserjungfer beim Flügel, um das verzweifelt zappelnde Geschöpf unter die Erde zu ziehen: man glaubte Riesenschlangen vor sich zu sehen und keine harmlosen Regenwürmer. Harmlos konnte man sie ja auch nicht nennen, zumal sie sich nicht ausschließlich von Pflanzen nährten, wie ihre Jagd auf Insekten bewies.

Hie und da huschten Ratten und Mäuse durch das Gras, so groß wie Hasen und Wildschweine. Ganz entzückend erschienen die buntgefleckten Schmetterlinge, die vielfach die Libellen an Größe übertrafen.

Aber wirklich unheimlich wurde unsern Freunden zumute, als sie auf der Meeresfläche Plesiosauren und Ichtyosauren einherschießen sahen. Bergen gleich, und hohe schäumende Wellen vor sich hertreibend.

Die Tierwelt verschiedener Weltperioden zeigte sich hier vereinigt, doch tobte nicht der gräßliche Vernichtungskampf, wie man ihn sich gewöhnlich in der Urzeit vorstellt. Im allgemeinen schien alles friedlich und freundschaftlich seiner Wege zu gehen, und nur dann zuzuschnappen, wenn der Hunger es erforderte. Dennoch beschlich einen das Gefühl schaudernden Unbehagens in der Nähe dieser furchtbaren Kolosse.

Mäusle gestand, daß seine kühnste Phantasie so etwas nicht hätte aushecken können; Raimund und Schulze erklärten, eine derartige Landschaft hätten sie bisher für unmöglich gehalten, während Maibold schaudernd fragte, ob man angesichts solch höllischer Geschöpfe nicht lieber umkehren sollte?

Ernst, der sich als Zeichner hervortat, brachte all diese Wunder im Bilde zu Papier. Natürlich wurden auch photographische und kinematographische Aufnahmen in großer Zahl gemacht.


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