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Eines Abends waren Eva und Ernst in Begleitung von Michael Mäusle ins Freie getreten, da der Himmel sich aufgehellt hatte, nachdem er den ganzen Tag über trübe gewesen war.
Eva, für deren jugendlich lebhafte Phantasie es keine Unmöglichkeiten gab, hoffte immer im stillen, ihre bildliche Botschaft möchte in die Hände der rätselhaften Jungfrau gelangt sein, von der sie mit Ernst so oft im geheimen plauderte. Wenn sie eine Kaptaube erblickte, was jetzt freilich kaum mehr vorkam, dachte sie, ob ihr der Vogel keine Antwort bringe.
Heute rief sie plötzlich: »Sieh dort, Ernst! Eine Kaptaube, eine Kaptaube! Die mußt du schießen!«
Der junge Frank blickte in der bezeichneten Richtung und erwiderte: »Das ist unmöglich, sie ist zu weit entfernt. Aber Herr Mäusle kann ja alles, der wird dir deinen Wunsch gewiß erfüllen.«
Mäusle sah den Vogel weit ab auf einer Felsspitze sitzen und schüttelte lachend die Dichterlocken: »Im Grunde kann ich gar nichts,« behauptete er in ehrlicher Überzeugung: »Nur merkwürdige Zufälle haben mich in den schmeichelhaften Ruf gebracht, als könne ich etwas leisten. Allerdings im Weitsprung und im Hochsprung habe ich ziemliche Übung: das ist aber auch alles. Im Schießen bin ich ein Stümper; doch habe ich oft unverdientes Glück dabei, deshalb will ich den aussichtslosen Versuch wohl wagen.«
Er legte an, zielte und schoß. Die Taube stürzte flügelschlagend vom Felsen ins Tal und blieb regungslos liegen.
Eva klatschte jubelnd in die Hände, während Ernst sagte: »Ich habe es ja gewußt: Herr Mäusle kann alles!«
Die Drei eilten nun zu der Stelle, wo die verendete Kaptaube lag.
Eva untersuchte sofort die Schwanzfedern und rief außer sich: »Die Antwort, die Antwort!« Dabei riß sie eine in den Federn befestigte kleine Rolle los.
»Holla!« sagte Mäusle verwundert: »Haben Sie eine Taubenpost eingerichtet? Was soll das bedeuten? Mit wem tauschen Sie heimliche Liebesbriefe? Und das hier in der Eiswüste!«
Inzwischen hatte das Fräulein das Blatt entfaltet. Ernst warf einen Blick hinein und rief: »Der gleiche Stoff, die gleiche Schrift! Wir müssen Herrn Mäusle ins Geheimnis ziehen, denn ich könnte unmöglich den Sinn entziffern, aber er gibt sich ja mit Vorliebe mit Sprachforschung ab, und da er überhaupt alles kann, wird ihm die Deutung keine Schwierigkeiten machen.«
Nun teilten sie dem hochaufhorchenden Schwaben das wichtige Geheimnis mit, und Ernst übergab ihm einen Abzug der ersten Nachricht mit der Deutung der Schriftzeichen und der Übersetzung, die sein Vater ihm mitgegeben hatte.
»Das ist ja hochinteressant!« meinte der Dichter: »Geben Sie mir alle diese Urkunden für einige Zeit. Ich will sehen, ob die neue Mitteilung für mich entzifferbar ist.«
»Aber strengste Geheimhaltung!« mahnte Eva mit erhobenem Finger.
»Daraus können Sie sich verlassen! Überhaupt werde ich mich doch nicht selber der Ehre und des Vorzugs berauben, der einzige Mitwisser Ihres kostbaren Geheimnisses zu sein!«
Die nächsten Tage wurde Mäusle insgeheim immer wieder von seinen Mitverschworenen mit Fragen bestürmt.
»Geduld, Geduld!« sagte er: »Die Sache hat ihre Schwierigkeiten, doch die Entzifferung macht Fortschritte: ich hoffe bald damit zustande zu kommen.«
Nach fünf Tagen konnte er ihnen in einem stillen Winkel seine Übersetzung vorlesen, die er, entsprechend der Urschrift, in Verse gefaßt hatte. Sie lautete:
»Die Botschaft brachte der Falke, der wilde.
Atlanta las aus dem Rätselbilde,
Daß ihre Bitte ein Mensch vernommen;
Doch ist die Stunde noch nicht gekommen,
Da ungefährdet ihr mir könnt nahen:
Drum weichet alle, die dieses sahen!
Der Tod umlauert die Tote Stadt;
Doch wer die Schrecken durchdrungen hat,
Ist hier von noch größrer Gefahr bedroht
Und kann mir nicht helfen aus meiner Not.
Drum weichet zurück und kommt erst übers Jahr,
Da kann ich euch schützen vor jeder Gefahr.«
»Es war eine Skuamöve und kein Falke, der ich meine Zeichnung anvertraute,« meinte Eva nachdenklich.
»Das macht nichts,« erwiderte der Schwabe: »Das Wort Foliku in der Schrift schien mir eben »Falke« zu bedeuten, klingt es doch auch an die lateinische Bezeichnung dieses Vogels an. Aber Namen sind immer am unsichersten für die Deutung, und es ist sehr wohl möglich, daß in der Sprache der Schreiberin eben die Skuamöven »Foliku« benannt werden, zumal es hierzulande überhaupt keine Falken gibt. Freilich mutet anderseits die Bezeichnung »wild« für die zutrauliche oder wenigstens freche Skuamöve sonderbar an. Aber das geheimnisvolle Fräulein warnt uns ernstlich vor unbekannten Gefahren, und es klingt rätselhaft, warum diese uns nur dieses Jahr drohen sollen, während sie glaubt, uns kommendes Jahr davor schützen zu können.«
»Ach was!« rief Eva kühn: »Wir fürchten uns nicht und werden uns dadurch nicht abhalten lassen.«
»Daß es hier an Gefahren nicht fehlt, wissen wir ja bereits zur Genüge,« fügte Ernst hinzu: »Aber wir haben ja bewiesen, daß wir selbst mit Ungeheuern, wie Eislöwen und Spinnendrachen fertig werden.«
»Das stimmt!« pflichtete Mäusle bei: »Und viel schlimmeres Ungeziefer wird ja wohl da herum nicht Hausen. Vielleicht ist auch die gefangene Prinzeß ein verzagtes Frauenzimmer, das nicht ahnt, was für Helden beiderlei Geschlechts ihr nahen.«
»Jedenfalls werden wir ihr zu Hilfe eilen,« schloß Eva in bestimmtem Ton.