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»Das ist ein sonderbarer Vorfall«, sagte der Kommerzienrat Bolnau zu einem Bekannten, den er auf der Breiten Straße in B. traf; »gesteht selbst, wir leben in einer argen Zeit.«
»Ihr meint die Geschichte im Norden?« entgegnete der Bekannte, »habt Ihr Handelsnachrichten, Kommerzienrat? Hat Euch der Minister der Auswärtigen aus alter Freundschaft etwas Näheres gesagt.«
»Ach, geht mir mit Politik und Staatspapieren; meinetwegen mag geschehen was da will. Nein, ich meine die Geschichte mit der Fiametti.«
»Mit der Sängerin? wie? ist sie noch einmal engagiert? man sagte ja, der Kapellmeister habe sich mit ihr überworfen –«
»Aber um Gottes willen«, rief der Kommerzienrat und blieb staunend stehen; »in welchen Spelunken treibet Ihr Euch umher, daß Ihr nicht wisset, was sich in der Stadt zuträgt? So wisset Ihr nicht, was der Fiametti arrivierte?«
»Kein Wort, auf Ehre; was ist es denn mit ihr?«
»Nun, es ist weiter nichts mit ihr, als daß sie heute nacht totgestochen worden ist.«
Der Kommerzienrat galt unter seinen Bekannten für einen Spaßvogel, der, wenn er morgens von eilf bis Mittag seine Promenaden in der Breiten Straße machte, die Leute gerne aufhielt und ihnen irgend etwas aus dem Stegreife aufband. Der Bekannte war daher nicht sehr gerührt von dieser Schreckensnachricht, sondern antwortete: »Weiter wisset Ihr also heute nichts, Bolnau? Ihr müßt doch nachgerade mit Eurem Witz zu Rande sein, weil Ihr die Farben so stark auftraget. Wenn Ihr mich übrigens ein andermal wieder stellet in der Breiten Straße, so besinnt Euch auf etwas Vernünftigeres, sonst bin ich genötigt, einen Umweg zu machen, wenn ich von der Kanzlei nach Hause gehe.«
»Er glaubt's wieder nicht!« rief der Spaziergänger; »seht nur, er glaubt's wieder nicht! Wenn ich gesagt hätte der Kaiser von Marokko sei erstochen worden, so hättet Ihr die Nachricht mit Dank eingesteckt und weitergetragen, weil sich dort schon Ähnliches zugetragen hat. Aber wenn eine Sängerin hier in B. totgestochen wird, da will keiner glauben, bis man den Leichenzug sieht. Aber Freundchen, diesmal ist's wahr, so wahr ich ein ehrlicher Mann bin.«
»Mensch! bedenket, was Ihr sagt!« rief der Freund mit Entsetzen. »Tot sagtet Ihr? die Fiametti totgestochen?«
»Tot war sie vor einer Stunde noch nicht, aber sie liegt in den letzten Zügen, soviel ist gewiß.«
»Aber sprechet doch ums Himmels willen! wie kann man denn eine Sängerin totstechen? leben wir denn in Italien? für was ist denn eine wohllöbliche Polizei da? Wie ging es denn zu? Totgestochen!«
»Schreiet doch nicht so mörderlich!« erwiderte Bolnau besänftigend; »die Leute fahren schon mit den Köpfen aus allen Fenstern und schauen nach dem Straßenlärm. Ihr könnet ja sotta voce jammern, soviel Ihr wollt. Wie es zuging? Ja sehet, da liegt es eben; das weiß bis jetzt kein Mensch. Gestern nacht war das schöne Kind noch auf der Redoute, so liebenswürdig, so bezaubernd wie immer, und heute nacht um zwölf Uhr wird der Medizinalrat Lange aus dem Bette geholt, Signora Fiametti liege am Sterben; sie habe eine Stichwunde im Herzen. Die ganze Stadt spricht schon davon, aber natürlich das tollste Zeug. Es sind allerdings fatale Umstände dabei, daß man nicht ins reine kommen kann; so darf z. B. niemand ins Haus, als der Arzt und die Leute, die sie bedienen. Auch bei Hof weiß man es schon und es kam ein Befehl, daß die Wache nicht am Haus vorbeiziehen dürfe; das ganze Bataillon mußte den Umweg über den Markt nehmen.«
»Was Ihr sagt! aber weiß man denn gar nicht, wie es zuging? hat man denn gar keine Spur?«
»Es ist schwer, sich aus den verschiedenen Gerüchten auf das Wahre durchzuarbeiten. Die Fiametti, das muß man ihr lassen, ist eine sehr anständige Person, der man auch nicht das geringste nachsagen kann. Nun wie aber die Leute sind, besonders die Frauen, wenn man da von dem ordentlichen Lebenswandel des armen Mädchens spricht, zuckt man die Achsel und will von ihrem frühern Leben allerlei wissen; von ihrem frühern Leben! sie hat kaum siebzehn Jahre und ist schon anderthalb Jahre hier! Was ist das für ein früheres Leben!«
»Haltet Euch nicht so lange beim Eingang auf«, unterbrach ihn der Bekannte, »sondern kommt auf das Thema. Weiß man nicht, wer sie erstochen hat?«
»Nun das sage ich ja eben; da soll es nun wieder ein abgewiesener oder eifersüchtiger Liebhaber sein, der sie umbrachte. Sonderbar sind allerdings die Umstände. Sie soll gestern auf der Redoute mit einer Maske, die niemand kannte, ziemlich lange allein gesprochen haben. Sie ging bald nachher weg und einige Leute wollten gesehen haben, daß dieselbe Maske zu ihr in den Wagen stieg. Weiter weiß niemand etwas Gewisses. Aber ich werde es bald erfahren, was an der Sache ist.«
»Ich weiß, Ihr habt so Eure eigenen Kanäle, und gewiß habt Ihr auch bei der Fiametti einen dienstbaren Geist. Es gibt Leute, die Euch die Stadtchronik nennen.«
»Zuviel Ehre, zuviel Ehre«, lachte der Kommerzienrat und schien sich ein wenig geschmeichelt zu fühlen. »Diesmal habe ich aber keinen andern Spion, als den Medizinalrat selbst. Ihr müßt bemerkt haben, daß ich, ganz gegen meine Gewohnheit, nicht die ganze Straße hinauf und hinab wandle, sondern mich immer zwischen der Carls- und Friedrichsstraße halte.«
»Wohl habe ich dies bemerkt, aber ich dachte, Ihr macht Fensterparade vor der Staatsrätin Baruch.«
»Geht mir mit Baruch! wir haben seit drei Tagen gebrochen, meine Frau sah das Verhältnis nicht gerne, weil jene so hoch spielt. Nein, der Medizinalrat Lange kommt alle Tage um 12 Uhr durch die Breite Straße, um ins Schloß zu gehen und ich stehe hier auf dem Anstand, um ihn sogleich aufs Korn zu nehmen, wenn er um die Ecke kommt.«
»Da bleibe ich bei Euch«, sprach der Freund, »die Geschichte der Fiametti muß ich genauer hören. Ihr erlaubt es doch, Bolnau?«
»Wertester, geniert Euch ganz und gar nicht«, entgegnete jener; »ich weiß, Ihr speiset um zwölf Uhr, lasset doch die Suppe nicht kalt werden. Überdies könnte Lange vor Euch nicht recht mit der Sprache herauswollen; kommt lieber nach Tisch ins Kaffeehaus, dort sollet Ihr alles hören. – Machet übrigens, daß Ihr fortkommt, dort biegt er schon um die Ecke.«
»Ich halte die Wunde nicht für absolut tödlich«, sprach der Medizinalrat Lange, nach den ersten Begrüßungen; »der Stoß scheint nicht sicher geführt worden zu sein. Sie ist schon wieder ganz bei Besinnung, und die Schwäche abgerechnet, die der große Blutverlust verursachte, ist in diesem Augenblick wenigstens keine Spur von Gefahr.«
»Das freut mich«, erwiderte der Kommerzienrat und schob vertraulich seinen Arm in den des Doktors, »ich begleite Ihn noch die paar Straßen bis ans Schloß; aber sag Er mir doch ums Himmels willen etwas Näheres über diese Geschichte; man kann ja gar nicht ins klare kommen, wie sich alles zugetragen.«
»Ich kann Ihm schwören«, antwortete jener, »es liegt ein furchtbares Dunkel über der Sache. Ich war kaum eingeschlafen, so weckt mich mein Johann mit der Nachricht, man verlange mich zu einem sehr gefährlichen Kranken. Ich warf mich in die Kleider, renne hinaus, im Vorsaal steht ein Mädchen, bleich und zitternd, und flüstert so leise, daß ich es kaum hörte, ich solle meinen Verbandzeug zu mir stecken. Schon das fällt mir auf; ich werfe mich in den Wagen, lasse die bleiche Mamsell auf den Bock zu Johann sitzen, daß sie den Weg zeige, und fort geht es, bis in den Lindenhof. Ich steige vor einem kleinen Hause ab und frage die Mamsell, wer denn der Kranke sei?«
»Ich kann mir denken wie Er staunte –«
»Wie ich staunte, als ich hörte, es ist Signora Fiametti! Ich kannte sie zwar nur vom Theater, hatte sie sonst kaum zwei-, dreimal gesehen, aber die geheimnisvolle Art, wie ich zu ihr gerufen wurde, das Verbandzeug, das ich zu mir stecken sollte, ich gestehe Ihnen, ich war sehr gespannt, was der Sängerin zugestoßen sein sollte. Es ging eine kurze Treppe hinan, eine schmale Hausflur entlang. Das Mädchen ging voran, ließ mich einige Augenblicke im Dunkeln warten und kam mir dann schluchzend und noch bleicher als zuvor entgegen. ›Treten Sie ein, Herr Doktor‹, sagte sie, ›ach! Sie werden zu spät kommen, sie wird's nicht überleben.‹ Ich trat ein, es war ein schrecklicher Anblick.«
Der Medizinalrat schwieg, sinnend und düster, es schien sich ein Bild vor seine Seele zu drängen, das er umsonst abzuwehren suchte. »Nun, was sah Er?« rief sein Begleiter, ungeduldig über diese Unterbrechung; »Er wird mich doch nicht so zwischen Türe und Angel stehenlassen wollen?«
»Es ist mir manches in meinem Leben begegnet«, fuhr der Doktor fort, nachdem er sich gesammelt hatte, »manches, wovor mir graute, manches, das mich erschreckte aber nichts, was mir das Herz so in der Brust umdrehte, wie dieser Anblick. In einem matt erleuchteten Zimmer lag ein bleiches, junges Weib auf dem Sofa, vor ihr kniete eine alte Magd und preßte ihr ein Tuch auf das Herz. Ich trat näher; weiß und starr wie eine Büste lag der Kopf der Sterbenden zurück, die schwarzen, herabfallenden Haare, die dunkeln Braunen und Wimpern der geschlossenen Augen bildeten einen schrecklichen Kontrast mit der glänzenden Blässe der Stirn, des Gesichtes, des schönen Halses. Die weißen, faltenreichen Gewänder, die wohl zu ihrer Maske gehört hatten, waren von Blut überströmt, Blut auf dem Fußboden, und von dem Herzen schien der rote Strahl auszugehen – dies alles stellte sich mir in einem Augenblick dar, es war Fiametti, die Sängerin.«
»O Gott, wie mich das rührt!« sprach der Kommerzienrat bewegt, und zog ein langes, seidenes Tuch hervor, um sich die Augen zu wischen; »geradeso lag sie noch letzten Sonntag vor acht Tagen in der Oper ›Othello‹ da, als sie die Desdemona spielte. Schon damals war der Effekt so grausam wahr und wahrhaft greulich, daß man meinte, der Mohr habe sie in der Tat erdolcht; und jetzt ist es wirklich so weit mit ihr gekommen! Was mich das rührt!«
»Habe ich Ihm nicht jede übermäßige Rührung verboten?« unterbrach ihn der Arzt; »will Er mit Gewalt wieder seine Zufälle bekommen?«
»Er hat recht«, sagte der Kommerzienrat Bolnau und fuhr schnell mit dem Tuch in die Tasche; »Er hat recht; meine Konstitution ist nicht für den Effekt. Erzähl Er nur weiter, ich werde die Tafelscheiben am Kriegsministerio im Vorbeigehen zählen, das hilft gegen solche Anfälle.«
»Zähl Er nur, und wenn es nicht hilft, so kann Er auch noch den obern Stock des Palais mitnehmen. Die alte Magd nahm das Tuch weg, und mit Erstaunen erblickte ich eine Wunde, wie von einem Messerstich, die dem Herzen sehr nahe war. Es war nicht Zeit, mich mit Fragen aufzuhalten, so viele derselben mir auch auf der Zunge schwebten, ich untersuchte die Wunde und legte den Verband um. Die Verwundete hatte während der ganzen Operation kein Zeichen von Leben gezeigt; nur, als ich die Wunde sondierte, war sie schmerzlich zusammengezuckt. Ich ließ sie ruhen und bewachte ihren Schlummer.«
»Aber das Mädchen und die alte Magd, hat Er denn diese nicht gefragt, woher die Wunde rühre?«
»Ich will es Ihm nur gestehen, Kommerzienrat, weil Er mein alter Freund ist; ja, als für die Kranke im Augenblick nichts mehr zu tun war, habe ich ihnen rund genug erklärt, daß ich weiter keine Hand mehr an die Dame legen werde, wenn sie mir nicht alles beichten.«
»Und was sagten sie? so sprech Er doch!«
»Nach eilf Uhr war die Sängerin zu Hause gekommen, und zwar von einer großen männlichen Maske begleitet. – Ich mochte bei dieser Nachricht die beiden Weiber etwas sehr zweideutig angesehen haben, denn sie fingen aufs neue an zu weinen, und beteuerten mir mit den außerordentlichsten Schwüren, ich solle doch nichts Schlechtes von ihrer Herrschaft denken; es sei die lange Zeit, seit sie ihr dienen, nie nach vier Uhr abends ein Mann über ihre Schwelle gekommen; das kleinere Mädchen, das wohl Romane mußte gelesen haben, wollte sogar behaupten, Signora sei ein Engel von Reinheit.«
»Das behaupte ich auch«, sagte der Kommerzienrat, indem er gerührt die Scheiben des Palais, dem sie sich näherten, zu zählen anfing; »das sagte ich auch; der Fiametti kann man nichts Böses nachsagen, sie ist ein liebes, frommes Kind, und was kann sie denn davor, daß sie schön ist und ihr Leben durch Gesang fristen muß?«
»Glaub Er mir«, entgegnete Lange, »ein Arzt hat hierin einen untrüglichen psychologischen Maßstab. Ein Blick auf die engelreinen Züge des unglücklichen Mädchens überzeugte mich mehr von ihrer Tugend, als die Schwüre ihrer Zofen. Doch höre Er weiter: die Sängerin trat mit dem Fremden in dieses Zimmer und hieß ihr Mädchen hinausgehen. Diese war vielleicht aus Neugierde, was wohl dieser nächtliche Besuch zu bedeuten habe, der Türe nahe geblieben; sie hörte einen heftigen Wortwechsel, der zwischen ihrer Dame und einer tiefen, hohlen Männerstimme in französischer Sprache geführt wurde; Signora seie endlich in heftiges Weinen ausgebrochen, der Mann habe schrecklich geflucht; plötzlich hörte sie ihre Dame einen gellenden Schrei ausstoßen, sie kann sich vor Angst nicht mehr zurückhalten, reißt die Türe auf und in demselben Augenblicke fährt die Maske an ihr vorbei und durch den Gang an die Treppe. Sie folgt ihm einige Schritte, vor der Treppe hört sie ein schreckliches Gepolter, er mußte hinuntergestürzt sein. Von unten dringt ein Ächzen und Stöhnen herauf wie das eines Sterbenden, aber es graut ihr, sie wagt keinen Schritt weiter vorzugehen. Sie geht zurück in die Türe – die Sängerin liegt in ihrem Blute, und schließt nach wenigen Augenblicken die Augen. Das Mädchen weiß sich nicht zu raten, sie weckt die alte Magd, ihrer Herrschaft einstweilen beizustehen, und springt zu mir, um vielleicht Signora noch zu retten.«
»Und die Fiametti hat noch nichts geäußert? hat Er sie nicht befragt?«
»Ich ging sogleich auf die Polizei und weckte den Direktor; er ließ noch um Mitternacht alle Gasthöfe, alle Gassenkneipen, alle Winkel der Stadt durchsuchen, aus dem Tore ist in jener Stunde niemand passiert, und von jetzt an wird jedermann strenge untersucht. Die Hausleute, die im obern Stock wohnen, erfuhren die ganze Sache erst, als die Polizei das Haus durchsuchte; unbegreiflich war es, wie der Mörder entspringen konnte, da er durch seinen Fall hart beschädigt sein mußte, denn man fand viel Blut unten an der Treppe, und es ist mir nicht unwahrscheinlich, daß er sich im Falle durch seinen eigenen Dolch verwundet hat. Es ist um so unbegreiflicher, wie er entkam, da die Haustüre verschlossen war. Die Fiametti selbst erwachte um zehn Uhr und gab dem Polizeidirektor zu Protokoll, daß sie im strengsten Sinne nicht wisse, auch nicht einmal ahne, wer die Maske sein könne. Alle Ärzte und Chirurgen sind verpflichtet, wenn sie zu einem Patienten kommen, der durch einen Fall oder eine Messerwunde lädiert ist, solches anzuzeigen, weil man vielleicht auf diesem Wege dem Mörder auf die Spur kommen könnte. So stehen die Sachen. Ich bin aber überzeugt wie von meinem Leben, daß ein tiefes Geheimnis zugrunde liegt, das die Sängerin nicht entdecken will; denn die Fiametti ist nicht die Person, die sich von einem ihr völlig unbekannten Mann nach Hause begleiten laßt. Das scheint auch ihr Mädchen, das beim Verhör zugegen war, zu ahnen. Denn als sie sah, daß Signora nichts wissen wolle, gab sie nichts von dem Wortwechsel an, den sie gehört hatte, mir aber warf sie einen bittenden Blick zu, sie nicht zu verraten. ›Es ist eine entsetzliche Geschichte‹, sagte sie, als sie mich nachher zur Treppe begleitete, ›aber keine Welt brächte mich dazu, etwas zu verraten, was Signora nicht bekannt werden lassen will.‹ Sie gestand mir noch etwas, das auf die ganze Sache vielleicht Licht verbreiten würde.«
»Nun, und darf ich diesen Umstand nicht auch wissen?« fragte der Kommerzienrat; »Er sieht, wie ich gespannt bin; spann Er ab, spann Er ab, um Gottes willen, ich könnte sonst leicht meine Zufälle bekommen!«
»Höre Er, Bolnau, besinn Er sich, lebt noch ein Bolnau außer Ihm in dieser Stadt? existiert noch irgendein anderer in der Welt, und wo, sag Er wo?«
»Außer mir keine Seele in dieser Stadt«, antwortete Bolnau; »als ich vor acht Jahren hieher zog, freute es mich, daß ich nicht Schwarz, Weiß oder Braun, nicht Meier, Miller oder Bauer heiße, weil damit allerlei unangenehme Verwechslungen geschehen. In Kassel war ich der einzige Mann in meiner Familie, und sonst gibt es auf Gottes Erdboden keinen Bolnau mehr, als meinen Sohn, den unglücklichen Musiknarren, der ist verschollen, seit er nach Amerika segelte. Aber warum fragt Er nach meinem Namen, Doktor?«
»Nun, Er kann es nicht sein, Kommerzienrat, und Sein Sohn ist in Amerika. Aber es ist schon Viertel über zwölf Uhr, Prinzeß Sophie ist krank, ich habe mich nur zu lang mit Euch verschwatzt; lebt wohl à revoir!«
»Nicht von der Stelle«, rief Bolnau und hielt ihn fest am Arm, »saget mir zuvor, was das Mädchen noch gesagt hat.«
»Nun ja, aber reinen Mund gehalten, Bolnau! ihr letztes Wort, ehe sie in jene tiefe Ohnmacht sank, war ›Bolnau‹.«
Man hatte den Kommerzienrat Bolnau noch nie so ernst und düster schleichen sehen wie damals, als ihn der Doktor Lange vor dem Palais verließ. Sonst war er munter und rüstig einhergeschritten und wenn er mit dem freundlichsten Lächeln alle Mädchen und Frauen grüßte, mit den Männern viel lachte und ihnen allerlei Neues erzählte, so hätte man ihm noch keine sechzig Jahre zugetraut. Er schien auch alle Ursache zu haben, fröhlich und guter Dinge zu sein; er hatte sich ein hübsches Vermögen zusammenspekuliert, hatte sich, als es genug schien, mit seiner Frau in B. zu Ruhe gesetzt und lebte nun in Freude und Jubel jahraus jahrein. Er hatte einen einzigen Sohn gehabt, dieser sollte die Laufbahn des alten Herrn auch durchlaufen, und handeln und sich umtun im Kommerz, so wollte er es haben.
Der Sohn aber lebte und webte nur im Reich der Töne, die Musik war ihm alles, der Handel und Kommerz des Vaters war ihm zu gemein und niedrig. Der Vater hatte einen harten Sinn, der Sohn auch, der Vater brauste leicht auf, der Sohn auch, der Vater stellte gleich alles auf die Spitze, der Sohn auch; kein Wunder, daß sie nicht miteinander leben konnten. Und als der Sohn sein zwanzigstes Jahr zurückgelegt hatte, war der Vater fünfzig, da brach er auf, sich zur Ruhe zu setzen und wollte dem Sohn den Handel geben. Es war auch bald alles in Richtigkeit und Ruhe, denn in einer schönen Sommernacht war der Sohn nebst einigen Klavierauszügen verschwunden, kam auch richtig nach England und schrieb ganz freundschaftlich, daß er nach Amerika gehen werde. Der Kommerzienrat wünschte ihm Glück auf den Weg und begab sich nach B.
Der Gedanke an den Musiknarren, wie er seinen Sohn nannte, trübte ihm zwar manche Stunde, denn er hatte ihn ersucht, sich nie mehr vor ihm sehen zu lassen und es stand nicht zu erwarten, daß dieser ungerufen wiederkehre; es wollte ihn zuweilen bedünken, als habe er doch töricht getan, als er ihn durchaus im Kommerz haben wollte; aber Zeit, Gesellschaft und heitere Laune ließen diese trüben Gedanken nicht lange aufkommen; er lebte in Jubel und Freude, und wer ihn recht heiter sehen wollte, durfte nur zwischen eilf Uhr und Mittag durch die Breite Straße wandeln. Sah er dort einen langen, hagern Mann, dessen sehr moderne Kleidung, dessen Lorgnette und Reitpeitsche, dessen bewegliche Manieren nicht mehr recht zu seinen grauen Haaren passen wollten, sah er diesen Mann nach allen Seiten grüßen, alle Augenblicke bei diesen oder jenen stille stehen und schwatzen und mit den Armen fechten, so konnte er sich darauf verlassen, es war der Kommerzienrat Bolnau.
Aber heute war dies alles ganz anders. Hatte ihn schon zuvor die Ermordungsgeschichte der Sängerin fast zu sehr affiziert, so war ihm das letzte Wort des Doktors in die Glieder geschlagen. »Bolnau« hatte die Fiametti noch gesagt, ehe sie vom Bewußtsein kam. Seinen eigenen ehrlichen Namen hatte sie unter so verfänglichen Umständen ausgesprochen! Seine Knie zitterten und wollten ihm die Dienste versagen, sein Haupt senkte sich auf die Brust sorgenvoll und gedankenschwer. Bolnau! dachte er, Königlicher Kommerzienrat! wenn sie jetzt stürbe, die Sängerin, wenn das Mädchen dann ihr Geheimnis von sich gäbe, und den Polizeidirektor mit den näheren Umständen des Mordes und mit dem verhängnisvollen Wort bekannt machte! Was könnte dann nicht ein geschickter Jurist aus einem einzigen Wort argumentieren, besonders wenn ihn die Eitelkeit anfeuert, in einer solchen cause célèbre seinen Scharfsinn zu zeigen. Er lorgnettierte mit verzweiflungsvoller Miene das Zuchthaus, dessen Giebel aus der Ferne ragte. Dorthin, Bolnau! aus ganz besonderer Gnade und Rücksicht auf mehrjährige Dienste.
Er atmete schwerer, er lüftete die Halsbinde, aber erschreckt fuhr er zurück, war dies nicht der Ort, wo man das hänfene Halsband umknüpfte, war nicht dies die Stelle, wo das kalte Schwert durchging?
Begegnete ihm ein Bekannter und nickte ihm zu, so dachte er: holla, der weiß schon um die Sache, und will mir zu verstehen geben, daß er wohlunterrichtet sei. Ging ein anderer vorüber ohne zu grüßen, so schien ihm nichts gewisser, als daß man ihn nicht kennen wolle, sich nicht mit dem Umgang eines Mörders beflecken wolle. Es fehlte wenig, so glaubte er selbst, er seie schuldig am Mord und es war kein Wunder, daß er einen großen Bogen machte um das Polizeibüro zu vermeiden; denn konnte nicht der Direktor am Fenster stehen, ihn erblicken und heraufrufen? »Wertester, beliebt es nicht, ein wenig heraufzuspazieren, ich habe ein Wort mit Ihnen zu sprechen.« Verspürt er nicht schon ein gewisses Zittern, fühlt er nicht jetzt schon seine Züge sich zu einem Armensündergesicht verziehen, nur weil man glauben könnte er seie der, den die Sängerin mit ihrem letzten Worte angeklagt.
Und dann fiel ihm wieder ein, wie schädlich eine solche Gemütsbewegung für seine Konstitution seie; ängstlich suchte er nach Fensterscheiben um sich ruhig zu zählen, aber die Häuser und Straßen tanzten um ihn her, der Glockenturm schien sich höhnisch vor ihm zu neigen, ein wahnsinniges Grauen erfaßte ihn, er rannte durch die Straßen, bis er erschöpft in seiner Behausung niedersank, und seine erste Frage war, als er wieder ein wenig zu sich gekommen, ob nicht ein Polizeidiener nach ihm gefragt habe?
Als gegen Abend der Medizinalrat Lange zu seiner Kranken kam, fand er sie um vieles besser, als er sich gedacht hatte. Er setzte sich an ihrem Bette nieder, und besprach sich mit ihr über diesen unglücklichen Vorfall. Sie hatte ihren Arm auf die Kissen gestützt, in der zartgeformten Hand lag ihr schöner Kopf. Ihr Gesicht war noch sehr bleich, aber selbst die Erschöpfung ihrer Kräfte, schien ihr einen eigentümlichen Reiz zu geben. Ihr dunkles Auge hatte nichts von jenem Feuer, jenem Ausdruck verloren, der den Doktor, obgleich er ein bedächtiger Mann und nicht mehr in den Jahren war, wo Phantasie der Schönheit zu Hülfe kommt, schon früher von der Bühne aus angezogen hatte. Er mußte sich gestehen, daß er selten einen so schönen Kopf, ein so liebliches Gesicht gesehen hatte; ihre Züge waren nichts weniger als regelmäßig, und dennoch übten sie durch ihre Verbindung und Harmonie einen Zauber aus, für welchen er lange keinen Grund wußte; doch dem psychologischen Blicke des Medizinalrates blieb dieser Grund nicht verborgen; es war jene Reinheit der Seele, jener Adel der Natur, was diese jungfräulichen Züge mit einem überraschenden Glanz von Schönheit übergoß. »Es scheint, Sie studieren meine Züge, Doktor«, sprach die Sängerin lächelnd; »Sie sitzen so stumm und sinnend da, starren mich an, und scheinen ganz zu vergessen, was ich fragte. Oder ist es zu schrecklich, als daß ich es hören sollte? darf ich nicht erfahren was die Stadt über mein Unglück sagt?«
»Was wollen Sie alle diese törichten Vermutungen hören, die müßige Menschen erfinden und weitersagen? Ich habe eben darüber nachgedacht, wie rein sich Ihre Seele auf Ihren Zügen spiegle, Sie haben Frieden in sich, was kümmert Sie das Urteil der Menschen?«
»Sie weichen mir aus«, entgegnete sie, »Sie wollen mir entschlüpfen, indem Sie mir schöne Dinge sagen. Und mich sollte das Urteil der Menschen nicht kümmern? welches rechtliche Mädchen darf sich so über die Gesellschaft, in welcher sie lebt, hinwegsetzen, daß es ihr gleich gilt, was man von ihr spricht? Oder glauben Sie etwa«, setzte sie ernster hinzu, »ich werde nichts darnach fragen, weil ich einem Stand angehöre, dem man nicht viel zutraut? Gestehen Sie nur, Sie halten mich für recht leichtsinnig.«
»Nein, gewiß nicht; ich habe immer nur Schönes von Ihnen gehört, Mademoiselle Fiametti, von Ihrem stillen, eingezogenen Leben, und daß Sie mit so sicherer Haltung in der Welt stehen, obgleich Sie so einsam und mancher Kabale ausgesetzt sind. Aber warum wollen Sie gerade wissen, was die Menschen sagen? wenn ich nun als Arzt solche Neuigkeiten nicht für zuträglich hielt?«
»Bitte, Doktor, bitte, foltern Sie mich nicht so lange«, rief sie, »sehen Sie, ich lese in Ihren Augen, daß man nicht gut von mir spricht. Warum mich in Ungewißheit lassen, die gefährlicher für die Ruhe ist, als die Wahrheit selbst?«
Diesen letzten Grund fand der Medizinalrat sehr richtig; und konnte in seiner Abwesenheit nicht irgendeine geschwätzige Frau sich eindringen, und noch Ärgeres berichten, als er sagen konnte? »Sie kennen die hiesigen Leute«, antwortete er, »B. ist zwar ziemlich groß, aber, du lieber Gott, bei einer solchen Neuigkeit der Art zeigt es sich, wie kleinstädtisch man ist. Es ist wahr, Sie sind das Gespräch der Stadt, dies kann Sie nicht wundern, und weil man nichts Bestimmtes weiß, so – nun so macht man sich allerhand seltsame Geschichten. So soll z. B. die männliche Maske, die man auf der Redoute mit Ihnen sprechen sah und die ohne Zweifel dieselbe ist, welche diese Tat beging, ein –«
»Nun, so reden Sie doch aus«, bat die Sängerin in großer Spannung, »vollenden Sie!«
»Es soll ein früherer Liebhaber gewesen sein, der Sie in – in einer andern Stadt geliebt hat, und aus Eifersucht umbringen wollte.«
»Von mir das! oh, ich Unglückliche!« rief sie schmerzlich bewegt, und Tränen glänzten in ihren schönen Augen; »wie hart sind doch die Menschen gegen ein so armes, armes Mädchen, das ohne Schutz und Hilfe ist! Aber reden Sie aus, Doktor, ich beschwöre Sie! es ist noch etwas anderes zurück, das Sie mir nicht sagten. In welcher Stadt, sagen die Leute, soll ich –«
»Signora, ich hätte Ihnen mehr Kraft zugetraut«, sprach Lange, besorgt über die Bewegung seiner Kranken. »Wahrlich, ich bereue es, nur so viel gesagt zu haben; ich hätte es nie getan, wenn ich nicht fürchtete, daß andere mir unberufen zuvorkämen.«
Die Sängerin trocknete schnell ihre Tränen; »Ich will ruhig sein«, sagte sie, wehmütig lächelnd, »ruhig will ich sein wie ein Kind; ich will fröhlich sein, als hätten mir diese Menschen, die mich jetzt verdammen, ein tausendstimmiges ›Bravo‹ zugerufen. Nur erzählen Sie weiter, lieber, guter Doktor!«
»Nun, die Leute schwatzen dummes Zeug«, fuhr jener ärgerlich fort. »So soll, als Sie letzthin im ›Othello‹ auftraten, in einer der ersten Ranglogen ein fremder Graf gewesen sein; dieser will Sie erkannt, und vor etwa zwei Jahren in Paris in einem schlechten Hause gesehen haben. – Aber, mein Gott, Sie werden immer blässer –«
»Es ist nichts, der Schein der Lampe fiel nur etwas matter herüber, weiter, weiter!«
»Nun dieses Gerede blieb von Anfang nur in den ersten Zirkeln, nach und nach kam es aber ins Publikum, und da dieser Vorfall hinzukömmt, verbindet man beides und versetzt das frühere Verhältnis zu Ihrem Mörder in jenes berüchtigte Haus in Paris.«
Auf den ausdrucksvollen Zügen der Kranken hatte während dieser Rede die tiefste Blässe mit flammender Röte gewechselt. Sie hatte sich höher aufgerichtet, als solle ihr kein Wort dieser schrecklichen Kunde entgehen, ihr Auge haftete starr und brennend auf dem Mund des Arztes, sie atmete kaum, ihr Herz schien stillzustehen. »Jetzt ist's aus«, rief sie mit einem schmerzlichen Blick zum Himmel, indem Tränen ihrem Auge entstürzten, »jetzt ist es aus, wenn er dies hörte, so war es zuviel für seine Eifersucht. Warum bin ich nicht gestern gestorben, ach! da hätte ich meinen guten Vater gehabt, und meine süße Mutter hätte mich getröstet, über den Hohn dieser grausamen Menschen!«
Der Doktor staunte über diese rätselhaften Worte; er wollte eben ein tröstendes, besänftigendes Wort zu ihr sprechen, als die Türe mit Geräusch aufflog, und ein großer, junger Mann hereinfuhr. Sein Gesicht war auffallend schön, aber ein wilder Trotz verfinsterte seine Züge, sein Auge rollte, sein Haar hing verwildert um die Stirne. Er hatte ein großes zusammengerolltes Notenblatt in der Faust, mit welchem er in der Luft herumfuhr, und gleichsam agierte, ehe er Atem zum Sprechen fand. Bei seinem Anblick schrie die Sängerin laut auf, der Doktor glaubte anfangs aus Angst, aber es war Freude, denn ein holdes Lächeln zog um ihren Mund, ihr Auge glänzte ihm durch Tränen entgegen, »Carlo!« rief sie, »Carlo! endlich kommst du, nach mir zu sehen!«
»Elende!« rief der junge Mann, indem er majestätisch den Arm mit der langen Notenrolle nach ihr ausstreckte; »laß ab von deinem Sirenengesang, ich komme – dich zu richten!«
»O Carlo!« unterbrach ihn die Sängerin, und ihre Töne klangen schmelzend und süß wie die Klänge der Flöte, »wie kannst du so zu deiner Giuseppa sprechen!«
Der junge Mann wollte mit tragischem Pathos antworten, aber der Doktor, dem dieser Auftritt für seine Kranke zu angreifend schien, warf sich dazwischen. »Wertester Herr Carlo«, sagte er, indem er ihm eine Prise bot, »belieben Sie zu bedenken, daß Mademoiselle in einem Zustand ist, wo solche Szenen allzusehr ihre schwachen Nerven affizieren!«
Jener schaute ihn groß an und wandte die Notenrolle gegen ihn; »Wer bist du, Erdenwurm?« rief er mit tiefer, dröhnender Stimme; »wer bist du, daß du dich zwischen mich stellst und meinen Zorn?«
»Ich bin der Medizinalrat Lange«, entgegnete dieser und schlug die Dose zu, »und in meinen Titeln befindet sich nichts von einem Erdenwurme. Ich bin hier Herr und Meister, solange Signora krank ist, und ich sage Ihnen im guten, packen Sie sich hinaus, oder modulieren Sie Ihr Presto assai zu einem anständigen Larghetto.«
»Oh, lassen Sie ihn doch, Doktor«, rief die Kranke ängstlich, »lassen Sie ihn doch, bringen Sie ihn nicht auf! er ist mein Freund, Carlo wird mir nichts Böses tun, was ihm auch die schlechten Menschen wieder von mir gesagt haben.«
»Ha! du wagst es noch zu spotten! Aber wisse, ein Blitzstrahl hat die Tore deines Geheimnisses gesprengt und hat die Nacht erhellt, in welcher ich wandelte. Also darum sollte ich nicht wissen, was du warst, woher du kamst? darum verschlossest du mir den Mund mit deinen Küssen, wenn ich nach deinem Leben fragte? Ich Tor! daß ich von einer Weiberstimme mich bezaubern ließ, und nicht bedachte, daß sie nur Trug und Lug ist! Nur im Gesang des Mannes wohnt Kraft und Wahrheit. Ciel! wie konnte ich mich von den Rouladen einer Dirne betören lassen!«
»O Carlo«, flüsterte die Kranke, »wenn du wüßtest, wie deine Worte mein Herz verwunden, wie dein schrecklicher Verdacht noch tiefer dringt als der Stahl des Mörders!«
»Nicht wahr, Täubchen«, schrie jener mit schrecklichem Lachen, »deine Amorosi sollten blind sein, da wäre gut mit ihnen spielen? Der Pariser muß doch ein wackerer Kerl sein, daß er endlich doch noch das fromme Täubchen fand!«
»Jetzt aber wird es mir doch zu bunt, Herr«, rief der Doktor und packte den Rasenden am Rock; »auf der Stelle marschier Er sich zu dem Zimmer hinaus, sonst werde ich die Hausleute rufen, daß sie Ihn expedieren.«
»Ich gehe schon, Erdenwurm, ich gehe«, schrie jener und stieß den Medizinalrat zurück, daß er ganz bequem in einen Fauteuil niedersaß; »ja ich gehe, Giuseppa, um nimmer wiederzukehren. Lebe wohl oder stirb lieber, Unglückliche, verbirg deine Schmach unter der Erde. Aber jenseits verbirg deine Seele an einen Ort, wo ich dir nie begegnen möge; ich würde der Seligkeit fluchen, wenn ich sie mit dir teilte, weil du mich hier so schändlich um meine Liebe, um mein Leben betrogen.« Er rief es, indem er noch etwas weniges mit den Noten agierte, aber sein wildes, rollendes Auge schmolz in Tränen, als er den letzten Blick auf die Geliebte warf, und schluchzend rannte er aus dem Zimmer.
»Ihm nach, halten Sie ihn auf«, rief die Sängerin, »führen Sie ihn zurück, es gilt meine Seligkeit!«
»Mitnichten, Wertgeschätzte«, entgegnete Doktor Lange, indem er sich aus seinem Lehnstuhl aufrichtete; »diese Szene darf nicht fortgespielt werden: Ich will Ihnen etwas Niederschlagendes aufschreiben, das Sie alle Stunden zwei Eßlöffel voll einnehmen werden.«
Die Unglückliche war in ihre Kissen zurückgesunken und ihre Kräfte waren erschöpft, sie verlor das Bewußtsein von neuem.
Der Doktor rief das Mädchen und suchte mit ihrer Hülfe die Kranke wieder ins Leben zurückzubringen, doch konnte er sich nicht enthalten, während er die Essenzen einflößte, das Mädchen tüchtig auszuschmälen. »Habe ich nicht befohlen, man solle niemand, gar niemand hereinlassen, und jetzt läßt man diesen Wahnsinnigen zu, der Ihr braves Fräulein beinahe zum zweiten Male ums Leben brachte.«
»Ich habe gewiß sonst niemand hereingelassen«, sprach die Zofe weinend; »aber ihn konnte ich doch nicht abweisen; sie schickte mich ja heute schon dreimal in sein Haus, um ihn zu beschwören, nur auf einen kleinen Augenblick zu kommen; ich mußte ja sogar sagen, sie sterbe und wolle ihn vor ihrem Tode nur noch ein einziges Mal sehen!«
»So? und wer ist denn dieser –«
Die Kranke schlug die Augen auf. Sie sah bald den Doktor, bald das Mädchen an, ihre Blicke irrten suchend durchs Zimmer. »Er ist fort, er ist auf ewig hin«, flüsterte sie; »ach, lieber Doktor, gehen Sie zu Bolnau!«
»Aber, mein Gott, was wollen Sie nur von meinem unglücklichen Kommerzienrat, er hat sich über Ihre Geschichte schon genug alteriert, daß er zu Bette liegen muß; was kann denn er Ihnen helfen?«
»Ach, ich habe mich versprochen«, erwiderte sie, »zu dem fremden Kapellmeister sollen Sie gehen, er heißt Boloni und logiert im ›Hotel de Portugal‹.«
»Ich erinnere mich, von ihm gehört zu haben«, sprach der Doktor, »aber was soll ich bei diesem tun?«
»Sagen Sie ihm, ich wolle ihm alles sagen, er soll nur noch einmal kommen – doch nein, ich kann es ihm nicht selbst sagen; Doktor, wenn Sie – ja ich habe Vertrauen zu Ihnen, ich will Ihnen alles sagen, und dann sagen Sie es wieder dem Unglücklichen, nicht wahr?«
»Ich stehe zu Befehl; was ich zu Ihrer Beruhigung tun kann, werde ich mit Freuden tun.«
»Nun so kommen Sie morgen frühe, ich kann heute nicht mehr so viel sprechen. Adieu, Herr Medizinalrat; doch noch ein Wort; Babette, gib dem Herrn Doktor sein Tuch!«
Das Mädchen schloß einen Schrank auf und reichte dem Doktor ein Tuch von gelber Seide, das einen starken, angenehmen Geruch im Zimmer verbreitete.
»Das Tuch gehört nicht mir«, sprach jener, »Sie irren sich, ich führe nur Schnupftücher von Leinwand.«
»Unmöglich!« entgegnete das Mädchen! »wir fanden es heute nacht am Boden; ins Haus gehört es nicht, und sonst war noch niemand da als Sie.«
Der Doktor begegnete den Blicken der Sängerin, die erwartungsvoll auf ihm ruhten. »Könnte nicht dieses Tuch jemand anders entfallen sein?« fragte er mit einem festen Blick auf sie.
»Zeigen Sie her«, erwiderte sie ängstlich, »daran hatte ich noch nicht gedacht.« Sie untersuchte das Tuch und fand in der Ecke einen verschlungenen Namenszug; sie erbleichte, sie fing an zu zittern.
»Es scheint, Sie kennen dieses Tuch und die Person die es verloren hat«, fragte Lange weiter; »es könnte zu etwas führen, darf ich es nicht mit mir nehmen? darf ich Gebrauch davon machen?«
Giuseppa schien mit sich zu kämpfen; bald reichte sie ihm das Tuch, bald zog sie es ängstlich und krampfhaft zurück. »Es sei«, sagte sie endlich; »und sollte der Schreckliche noch einmal kommen und mein wundes Herz diesmal besser treffen, ich wage es; nehmen Sie, Doktor. Ich will Ihnen morgen Erläuterungen zu diesem Tuche geben.«