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Die Polizeidiener hatten den Sarazenen, wahrscheinlich aus Rücksicht auf seine feine und reiche Kleidung in das Offizierszimmer der Hauptwache gebracht. Der wachhabende Offizier wies ihm mit einer mürrischen Verbeugung eine Bank, die in der fernsten Ecke des Zimmers stand, zu seiner Schlafstätte an, und ermüdet von dem langen Umherirren auf dem Ball, fand der junge Mann dieses Lager nicht zu hart, um nicht bald einzuschlafen.
Trommeln weckten ihn am nächsten Morgen; schlaftrunken sah er sich in dem öden Gemach um, blickte bald auf sein hartes Lager, bald auf seine Kleidung, und nach einer geraumen Weile erst konnte er sich besinnen, wo er sei und wie er hieher gekommen. Er trat ans Fenster, noch war alles still auf dem Platze vor der Hauptwache, und nur die Kompanie, die gerade vor seinem Fenster zur Ablösung aufzog, unterbrach die Stille des trüben Februarmorgens. Indem die Trommeln auf der Straße schwiegen, hörte er von der Stiftskirche acht Uhr schlagen, und der Ton dieser Glocke rief ihm alles Unangenehme und Besorgliche seiner Lage zurück. Bald wird er nach dir fragen, dachte er, und wie unangenehm wird es ihn überraschen, wenn er hört, ich sei in dieser Nacht nicht zu Hause gekommen! – Im Hause des alten Landschaftskonsulenten Lanbek ging alles einen so geordneten Gang, daß dieses Ereignis allerdings sehr störend erscheinen mußte. Zu dieser Stunde pflegte der alte Herr seit vielen Jahren sein Frühstück zu nehmen; mit dem ersten Glockenschlag erschien dann, zugleich mit dem Diener, der den Kaffee auftrug, sein Sohn; man besprach sich über Tagesneuigkeiten, über den Gang der Geschäfte, und zu jener Zeit ließ es der allgewaltige Minister nicht an Stoff zu solchen Gesprächen fehlen. Das Gespräch war regelmäßig mit dem Frühstück zu Ende; der Aktuarius küßte dem Alten die Hand und ging dann einen Tag wie den andern ein Viertel vor neun Uhr nach seiner Kanzlei. Diese langjährige Sitte des Hauses rief sich Gustav in diesen Augenblicken zurück. »Jetzt wird Johann die Tassen bringen«, sagte er zu sich, »jetzt wird er erwartungsvoll nach der Türe sehen, weil ich noch nicht eingetreten bin, jetzt wird er mich rufen lassen; – daß ich doch dem guten alten Herrn solchen Ärger bereiten mußte!« Er warf unwillig seinen Turban weg, stützte die Stirne in die Hand und beschloß, den Offizier, sobald er wieder erscheinen würde, um die Ursache seiner Verhaftung zu fragen.
Die Trommeln ertönten wieder, die Abgelösten zogen weiter, er hörte die Gewehre zusammenstellen und bald darauf trat ein Offizier in das halbdunkle Gemach. Er warf einen flüchtigen Blick nach seinem Gefangenen in der Ecke, legte Hut und Degen auf den Tisch und setzte sich nieder. Lanbek, der jenen nicht zuerst anreden mochte, bewegte sich, um anzudeuten, daß er nicht mehr schlafe. »Bon jour, mein Herr!« sagte der Offizier, als er ihn sah, »wollen Sie vielleicht mein Dejeuner mit mir teilen?«
Die Stimme schien Gustav bekannt; er stand auf, trat höflich grüßend näher, und mit einem Ausruf des Staunens standen sich die beiden jungen Männer gegenüber. »Parole d'honneur, Herr Bruder!« rief der Kapitän von Reelzingen, »dich hätte ich hier nicht gesucht! wie kömmst du in Arrest? Weiß Gott, Blankenberg hatte nicht unrecht, als er prätendierte, du werdest irgend etwas contra rationem riskieren.«
»Ich möchte dich fragen, Kapitän«, entgegnete der junge Mann, »warum ich hier sitze? mir hat kein Mensch den Grund angegeben, warum man mich gefangennehme; du hast die Wache, Reelzingen; bitte dich, du mußt doch wissen –«
»Dieu me garde! ich?« rief der Kapitän lachend; »meinst du, er habe mich mit seiner besondern Ästimation beehrt und in seine Confidence gezogen? Nein, Herr Bruder! als ich ablöste, sagte mir der Lieutenant von gestern: ›Oben sitzt einer, den sie vom Karneval auf ausdrücklichen Befehl hergebracht haben.‹ Er pflegt es gewöhnlich so zu machen.«
»Wer pflegt es so zu machen?« fragte Lanbek erblassend.
»Wer?« erwiderte jener leise flüsternd, »dein Schwager in spe, der Jude.«
»Wie?« fuhr jener errötend fort, »du glaubst er selbst? Ich hoffte bisher, es sei vielleicht eine Verwechslung vorgefallen; du hast wohl von dem Auftritte gehört, der, bald nachdem ich euch verlassen hatte, mit dem Juden vorfiel, man rief etwas von katholisch werden, und da fuhr der Finanzdirektor auf –«
»Was sagst du?« unterbrach ihn der Kapitän mit ernster Miene, indem er näher zu dem Freund trat und seine Hand faßte. »Das war es also? uns hat man es anders erzählt; wie ging es zu? was hat man gerufen?«
Den Aktuarius befremdete der Ernst, den er auf den Zügen des sonst so fröhlichen und sorglosen Freundes las, nicht wenig; er erzählte den Vorfall, wie er ihn mit angesehen hatte, und sah, wie sich die Neugierde des Freundes mehr und mehr steigerte, wie seine Blicke feuriger wurden; als er aber beschrieb, wie Süß nach jenem geheimnisvollen Ausruf wütend geworden und aufgesprungen sei, da fühlte er die Hand des Kapitäns auf sonderbare Weise in der seinigen zucken. »Was bewegt dich so sehr?« fragte Gustav befremdet; »wie nimmst du nur an solchen Karnevalsscherzen, die am Ende auf irgendeine Torheit hinauslaufen, solchen Anteil? Wenn ich nicht wüßte, daß du evangelisch bist, ich glaubte, mein Bericht habe dich beleidigt.«
»Herr Bruder!« erwiderte der Kapitän, indem er seinen Ernst hinter einem gleichgültigen Lächeln zu verbergen suchte, »du kennst mich ja, mich interessiert alles auf der Welt und ich bin erstaunlich neugierig; überdies ist manches ernster als man glaubt, und im Scherz liegt oft Bedeutung.«
»Wie verstehst du das?« sagte der Aktuarius verwundert; »was macht dich so nachdenklich? Hast du wieder Schulden? kann ich dir vielleicht mit etwas dienen?«
»Bruderherz«, entgegnete der Soldat, »du mußt in den letzten Wochen gewaltig verliebt gewesen sein, sonst wäre deinem klaren Blick manches nicht entgangen, was selbst an meinem leichten Sinn nicht vorüberschlüpfte. Sag einmal, was spricht der Papa von diesen Zeiten? Sprichst du den Obrist von Röder nie bei ihm? Waren nicht am Freitag abend die Prälaten in eurem Hause?«
»Du sprichst in Rätseln, Kapitän!« antwortete der junge Mann staunend. »Was soll mein Vater mit einem Obrist von der Leibschwadron und mit Prälaten?«
»Freund, mach es kurz!« sagte Reelzingen; »halte mich in solchen Dingen nicht für leichtsinnig; ich will mich nicht in euer Vertrauen eindrängen, aber ich kann dir sagen, daß ich dennoch schon ziemlich viel weiß, und – parole d'honneur!« setzte er hinzu, »ich denke darüber, wie es einem Edelmann und meinem Portepee geziemt.«
»Was geht mich dein alter Adelsbrief und dein neues Portepee an?« erwiderte unmutig der Aktuar; »und wie kömmst du dazu, dich mit diesen Dingen gegen mich breitzumachen? Ich sage dir, daß ich von allem, was du da so geheimnisvoll schwatzt, keine Silbe verstehe, und kann dir mein Wort darauf geben, und damit genug, Herr von Reelzingen!«
»O mon Dieu!« rief jener lächelnd, »Herr Bruder, wir sind nicht mehr in Leipzig, dies Zimmer ist nicht der göttliche Ratskeller, sondern eine Wachstube; wir sind keine Musen mehr, sondern du bist herzoglicher Aktuar und ich – Soldat, aber Freunde sind wir noch in Not und Tod, und darum sei vernünftig und brause nicht mehr auf wie vorhin. Ich glaube dir ja aufs Wort, daß du nichts weißt, aber gut wäre es von deinem Vater gewesen, wenn er dich präveniert hätte, deine Amour mit der Jüdin ist überdies jetzt ganz und gar nicht an der Zeit, wir alle bitten dich, laß deine Charmante, mit der du doch niemals eine vernünftige und ehrenvolle Liaison treffen kannst –«
»Was wißt ihr denn von diesem Verhältnis?« unterbrach ihn der junge Mann düster und erbittert, »ich dächte, ehe ich euch hierüber um Rat gefragt, könntet ihr billigerweise mit eurer Mahnung warten.«
Der feurige junge Soldat, um seinem Freunde zu nützen, wollte eben in derselben Sprache etwas erwidern, als man an der Türe pochte. Der Kapitän schloß auf, und einer seiner Sergeanten winkte ihm herauszutreten. Gustav hörte sie einige Worte wechseln, und sah den Freund bald darauf mit verstörter Miene wieder zurückkehren: »Du bekömmst einen sonderbaren Besuch«, flüsterte er ihm zu, »er wird gleich selbst eintreten und ich darf nicht zugegen sein.«
»Wer doch? mein Vater?« fragte Gustav bestürzt.
»Er kömmt«, sagte der Kapitän, indem er eilends Hut und Degen vom Tische nahm, »der Jud Süß!«