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Ne crains pas cependant, ombre encore inquiête Que je vienne outrager ta majesté muette! Non – la lyre aux tombeaux n'a jamais insulté. A. de Lamartine |
In dem Cabriolet des Eilwagens, der zweimal in der Woche von Frankfurt nach Stuttgart geht, reisten vor einigen Jahren an einem der schönsten Tage des Septembers zwei junge Männer. Der eine von ihnen war erst eine Station hinter Darmstadt eingestiegen und hatte dem früheren Passagier schon beim ersten Anblick durch sein schmuckes Äußere und den freundlichen Gruß, womit er sich neben ihn setzte, die Furcht, der Zufall möchte ihm eine unangenehme Nachbarschaft geben, völlig benommen. Der Fortgang der Reise bewies, daß er nicht unrichtig geurteilt hatte, wenn er seinen Reisegefährten für einen wohlgezogenen, anständigen Mann hielt. Was er sprach, war, wenn nicht gerade heiter, doch offen und verständig; nicht selten sogar überraschten den Reisenden leicht hingeworfene Äußerungen, Gedanken seines Nachbars, die von feiner Bildung, gesellschaftlicher Erfahrung und einer Belesenheit zeugten, die er denn doch hinter dem etwas groben Jagdrock und der unscheinbaren Ledermütze nicht gesucht hätte. Überhaupt deuchte es diesem Reisenden, er müsse, je weiter er im Süden vordrang, desto öfter und nicht ohne Beschämung dem Lande und den Bewohnern Vorurteile abbitten, die man in der Ferne, vom Hörensagen, besonders in einem Alter von vierundzwanzig Jahren, so leicht annimmt.
Wie anders war ihm dieses Land im Brandenburgischen geschildert worden! Manche Reisende hatten zwar diese Bergstraße, dieses Neckartal gelobt, doch erschien dann ihre Beschreibung matt und klein gegen die Wunder der Schweiz, zu welchen sie auf dieser Straße geeilt waren. Über die Bewohner war aber in seiner Heimat nur eine Stimme. Hier, bald hinter Darmstadt, fangen die Schwaben an, erzählte man dem jungen Reisenden in Berlin mit einem mitleidigen Blick auf die Karte, mit einem noch mitleidigeren auf ihn, der diese Länder besuchen wolle. Da geht alles gesellschaftliche Leben, alle Bildung aus; ein rohes, ungesittetes Volk, das nicht einmal gutes Deutsch sprechen kann. Und leider! nicht nur die untersten Klassen leiden an diesem Mangel, auch die besseren Stände haben einen Anstrich von eingeschränktem ungalantem Wesen und reden so elendes Deutsch, daß sie vor Fremden, um nicht erröten zu müssen, französisch sprechen. Das war der Reisepfennig, den man ihm nach Schwaben mitgab, und in dem jungen und romantischen Kopf des jungen Brandenburgers hatten diese Sagen sich endlich während der schönen Muße, die ihm die Sandkunststraßen und die schnapsenden Postillons seines Vaterlandes gönnten, so sonderbar gestaltet, daß er sich selbst wie einer jener wohlerzogenen, jungen Herren in einem Scottischen Roman erschien, die von den wehmütigen Erinnerungen an die feinsten Zirkel, an Theater und alle Genüsse der großen Welt erfüllt, von London ausreisen, um das Hochland und seine barbarischen Bewohner zu besuchen.
Doch, als die herrliche Welt jener Berge voll Obst und Wein und jene gesegneten Täler sich vor seinen Blicken auftaten, als die schönen Dörfer mit ihren roten Dächern, mit ihren reinlichen, fröhlichen Menschen seinem erstaunten Auge sich zeigten, als da und dort, zwischen prachtvollen Buchenwäldern eine alte Burg und ein Schloß mit schimmernden Fenstern auftauchte, da fiel er beinahe in das andere Extrem; er strömte über von Lob und Bewunderung und bemitleidete die arme, flache Mark, ihren kahlen Sandboden, ihre mageren Tannen und ihre bleichen Bewohner, von welchen vielleicht Tausende aus dem Leben gingen, ohne nur eine jener üppigen Trauben gesehen zu haben, die hier in unendlicher Fülle durch das grüne Laub schimmerten, und ein schwacher Trost für seinen Patriotismus war, daß die Natur seine Landsleute durch höhere Einsicht, eine wohllautendere Sprache und feinere Bildung in etwas wenigstens entschädigt habe.
Der junge Mann an seiner Seite schien übrigens, obgleich man seiner Sprache den südlichen Accent anfühlte, die Gesetze des Anstandes nicht minder gut zu verstehen als der Brandenburger; zum mindesten verriet keine seiner Fragen Neugierde, über dessen Stand, Vaterland und Reisezweck etwas zu erfahren, er benahm sich zuvorkommend, aber würdig, schien geneigter zu antworten als zu fragen, und übernahm es, ohne sich dadurch belästigt zu fühlen, den Fremden über Namen und Geschichte der Burgen und Städte, die ihm auffielen, zu unterrichten.
So ruhig und kalt übrigens der junge Mann im Jagdkleid über diese Dinge Aufschluß gab, so waren es doch zwei Punkte, über welche er wärmer und länger sprach. Einmal, als sein Nebensitzer über die gute Gesellschaft in Schwaben einige seiner sonderbaren Begriffe preisgab, sah ihn der Grüne mit Verwunderung an, fragte ihn auch, ob er vielleicht auf einem andern Wege schon früher in Schwaben gewesen sei, und als jener es verneinte, erwiderte er:
»Ich weiß, man macht sich hin und wieder, besonders in Norddeutschland, sonderbare Begriffe von uns. Ob mit Recht, mögen Sie selbst entscheiden, wenn Sie einige Zeit in unserer Mitte verweilt haben. Doch möchte ich Ihnen raten, zuvor etwas unbefangener die mögliche Quelle solcher Urteile zu betrachten. Ich gebe zu, daß eine gewisse nachteilige Ansicht über mein Vaterland seit Jahrhunderten besteht; zum mindesten sind die Schwabenstreiche nicht erst in unseren Tagen bekannt geworden. Doch scheint ein großer Teil dieser aberwitzigen Dinge aus einer gewissen Eifersucht der Volksstämme hervorzugehen, und aus der Kleinstädterei, die von jeher in unserem lieben Deutschland herrschte. In Schwaben z. B. erzählt man alle jene Sonderbarkeiten, die andere uns aufbürden, von den Östreichern; daß aber dieses Vorurteil selbst in neueren Zeiten, selbst durch die Fortschritte der Kultur und das regere gesellige Leben nicht geschwächt wurde, hat zwei wichtige Gründe, die größere Schuld aber liegt nicht auf der Seite von Süddeutschland.«
»Bitte!« rief der brandenburgische Reisende etwas ungläubig, »ich sollte doch nicht denken –«
»Man beurteilt unsere Sitten nach meinen Landsleuten, die man in Norddeutschland sieht. Wenn nun diese auch die vernünftigsten Menschen wären, es würden ihnen doch zwei Mängel anhängen, die sie in Ihren Augen in Nachteil setzen. Einmal die Sprache –«
»Bitte!« erwiderte sein Gefährte verbindlich. »Nicht alle, Sie zum Beispiel drücken sich allerliebst aus.«
»Ich drücke mich aus, wie ich denke, und so macht es ein guter Teil meiner Landsleute auch, weil wir aber die Diphthongen anders aussprechen als ihr, die Endsilben entweder nach unserer altertümlichen Form ändern, oder im Sprechen übereilen, klingt euch unsere Sprache auffallend, hart, beinahe gemein. Die meisten Schwaben, die Sie bei sich sehen, sind junge Männer, die von der Universität kommen und die Anstalten in Norddeutschland besuchen, oder Kaufleute, die ihr Handelsweg dahin führt. Diese Menschen legen nun Ihren Landsleuten durchaus ihren eigenen Maßstab an und tun sehr unrecht daran. In Ihrem Lande wird den äußeren Formen und dem Benehmen des Knaben und des Jünglings einige Aufmerksamkeit geschenkt, er wird sehr bald in die geselligen Kreise gezogen; bei uns findet dies vielleicht erst um acht oder zehn Jahre später statt.«
»Nun, das ist es ja gerade, was ich sagte«, entgegnete jener, »diese Formen gewinnt keiner durch sich selbst, und dies ist also ein Fehler Ihrer Erziehung –«
»Vorausgesetzt, daß jene Formen wirklich so trefflich, daß sie das sind, was dem zukünftigen Bürger eines Staates vor allem als nützlich und notwendig einzuimpfen ist.«
»Das soll es ja nicht! aber so auf dem Wege mitnehmen kann er sie doch wohl«, meinte der Fremde.
»Wenn er sie nur so mitnimmt, verliert er sie auch gelegentlich«, erwiderte der Schwabe. »Doch, das ist nicht der Punkt, wovon wir sprechen. Ich behaupte nur, man hat in Norddeutschland unrecht, unsere Sitten und unsere Gesellschaft nach Leuten zu beurteilen, die der Gesellschaft eigentlich noch nicht angehört hatten, die vielleicht in die Welt geschickt wurden, um ihre Sitten abzuschleifen. Oder wollten Sie nach einigen jungen Gelehrten, die gerade aus der Studierstube zu Ihnen kamen und sich vielleicht ungeschickt in Sprache und Manieren zeigten, die Landsleute dieser Menschen beurteilen?«
»Gewiß nicht, aber gestehen Sie selbst, man hört doch selbst von der guten Gesellschaft in Schwaben so sonderbare Gerüchte, von ihren Sitten und Gebräuchen, von ihren Frauen und Mädchen.«
»Vielleicht kaum so sonderbar«, versetzte der Jäger lächelnd, »als man bei uns von den Sitten Ihrer Damen hört; denn unsere Mädchen stellen sich die norddeutschen Damen gewiß immer mit irgendeinem gelehrten Buch in der Hand vor. Die zweite Quelle des Irrtums über mein Vaterland sind aber Ihre reisenden Landsleute und die eigentümlichen Verhältnisse unseres Familienlebens. In Norddeutschland fällt es nicht schwer, in Familienkreisen Zutritt zu bekommen, durch einen Bekannten zehn zu erwerben. In Schwaben ist es anders: man ist heiter, gesellig unter sich – der Fremde wird als etwas Fremdes angestaunt, aber eher vermieden als eingeladen, doch werden Sie für diese scheinbare Kälte immer eine Entschädigung finden. Ihre Landsleute öffnen die Tür, aber selten das Herz, meine Schwaben sind vorsichtiger, aber sie schließen sich an den, welchen sie liebgewonnen, mit einer Herzlichkeit an, die Sie bei künstlichen und verfeinerten Sitten umsonst suchen.«
»Und also liegt eine zweite Quelle unserer Vorurteile«, fragte der Fremde, »darin, daß meine Landsleute eigentlich gar nicht in Ihren besseren Kreisen einheimisch wurden?«
»Gewiß!« sagte der Nachbar. »Lernen Sie, wenn Ihnen das Glück wohlwill, in die Kreise unserer bessern Stände zu kommen, lernen Sie uns näher kennen, lassen Sie sich nicht durch Ihre eigenen Ansichten über Leben und Sitte durchaus leiten, und Sie werden ein gutes, herzliches Völkchen finden, gebildet genug, um, wenn man nur die rechte Saite anschlägt, sich mit den Gebildetsten zu messen, vernünftig genug, um die Grenzen guter Sitten festzuhalten, und das Lächerliche der Unsitte zu belächeln.«
Der Fremde aus der Mark lächelte. Er liebt sein Land, dachte er, und er verteidigt es mit Wärme, weil er es nicht sinken lassen will oder Besseres nie gesehen hat. Er entschuldigte bei sich die warme Verteidigung des Schwaben, aber dennoch konnte er es sich nicht versagen, einen kleinen Triumph über jenen zu feiern. Er machte ihn mit der Geläufigkeit der Zunge und jener Übung über ein Nichts schnell und vieles zu sprechen – die man im Norden unseres Vaterlandes häufiger als im Süden treffen soll – auf andere große Vorzüge aufmerksam, welche die nördlichen Provinzen Deutschlands vor den südlichen voraushaben. Er zählte immer zwanzig Schriftsteller und Dichter seiner Heimat gegen einen im Süden, und der Schwabe konnte endlich dem Schwall seiner Beredsamkeit nur dadurch Einhalt tun, daß er, als sie um eine Ecke der Landstraße bogen, auf die erhabenen Ruinen von Heidelberg hinwies; der Fremde betrachtete sie staunend und mit Entzücken. Ihre rötlichen Steinmassen waren von der sinkenden Herbstsonne noch höher gerötet, und der Abend ließ die Bäume und Gesträuche, die in den verfallenen Mauern wachsen, im dunkelsten, wundervollsten Grün erscheinen. Durch die hohen, offenen Fensterbogen blickte der schwärzliche Wald hervor, den Gipfel des Berges umzog jener duftige Schleier, welcher allen Gegenständen so eigenen geheimnisvollen Reiz verleiht, und von oben herab spiegelten sich die rötlichen Abendwölkchen und der dunkelblaue Himmel in den Fluten des Neckars.
»Und haben Sie solche Poesie in der Mark?« fragte der Jäger mit gutmütigem Lächeln.
Der Fremde schien es nicht zu hören, unverwandt hingen seine Blicke an diesem reizenden Schauspiel, er mochte fühlen, daß es sich an solchen Stellen über Poesie nicht gut streiten lasse.
Nach diesem Vorfall kehrte übrigens auf dem Gesicht des Jägers die vorige Ruhe und Unbefangenheit zurück, er stritt über keinen Gegenstand, schien sogar über manche Dinge sich behutsam auszudrücken.
Als aber das Gespräch unter den beiden Reisenden, da die hereinbrechende Nacht ihre Aufmerksamkeit auf die Gegend hemmte, auf einige neuere Ereignisse und auf Politik kam, schien es dem jungen Mann aus der Mark, obgleich er die Züge seines Nachbars nicht mehr gut unterscheiden konnte, sein Atem gehe schneller, seine Rede werde wärmer, kurz, man habe einen Punkt der Unterredung getroffen, welcher für den Schwaben von hohem Interesse sei. Man sprach von der Gestalt und der inneren Kraft Deutschlands. Mit einer gewissen Erbitterung zog jener eine Parallele zwischen jetzt und sonst, die nicht gerade zum Vorteil der neueren Zeit ausfiel. Der Fremde, dessen Grundsätze im ganzen nicht mit diesen Ansichten übereinstimmen mochten, gab ihm dennoch, nicht ohne einiges Selbstgefühl, die letzten Sätze zu. Unglücklicherweise fing er seinen Satz: »Ich bin ein Preuße« an, und reizte dadurch unwillkürlich den Unmut des jungen Mannes noch mehr auf. Denn dieser vergaß nun jede Rücksicht der Klugheit; mit einer Beredsamkeit, die an jedem andern Orte dienlich gewesen wäre, suchte er seine Meinung durchzuführen, und nichts war ihm zu hoch, das er nicht mit seinem eigenen Maßstab gemessen hätte. Der Preuße, der solche Leute nur vom Hörensagen und unter dem gefährlichen Namen »Köpenicker« kannte, erschrak über diese Äußerungen. Konnte nicht der Postillon, konnte nicht ein Passagier im Bauch des Wagens diese Reden vernommen haben! Spandau, Köpenick, Jülich und alle möglichen festen Plätze schwebten vor seiner aufgeregten Phantasie, und das beste Mittel, seinen Nachbar zum Stillschweigen zu bringen, schien ihm, wenn er sich in die Ecke drückte und sich schlafend stellte.