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Man hatte sich heute früher getrennt als sonst, und Albert, den der Schlaf noch nicht besuchen wollte, stand unter dem Bogenfenster seines altertümlichen Zimmers und schaute in das Tal hinab. Er dachte nach über alle Worte seiner schönen Cousine, er fand so viel Stoff, sie anzuklagen und sich zu bedauern, daß er das erstemal in seinem Leben im Ernste sich selbst sehr schwermütig erschien. Dieses eine Mal, nach so vielen flatterhaften und flüchtigen Geschichten, war er sich recht klar und deutlich bewußt, ernstlich zu lieben; niemals zuvor hatte er einem Gedanken an ein häusliches Verhältnis, an das Glück der Ehe Raum gegeben, und nur erst diesem fröhlichen, unbefangenen Geschöpf war es gelungen, seine Ansichten über seine Zukunft ernster, seine Gefühle würdiger zu machen. Er wunderte sich, gerade da zurückgewiesen zu werden, wo er es wirklich redlich meinte, es befremdete ihn, gerade in jenen Augen als flüchtig und kokett zu erscheinen, die ihn so unwiderstehlich angezogen, gefesselt hatten; er schämte sich, daß bei diesem natürlichen Kind seine sonst überall anerkannten Vorzüge ohne Wirkung bleiben sollten; er sah darin ein böses Vorzeichen, denn seine bisherige Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß die Überraschung, daß der erste Eindruck entscheiden müsse.
Aus diesen Gedanken weckte ihn eine Flöte, die wie am gestrigen Abend süße Töne vom Wald herüberhauchte. Aufs neue erwachte in ihm der Gedanke, daß diese Serenade wohl Anna gelten könnte. Er sah schärfer nach dem Wald hinüber, und, er irrte sich nicht, es war jene Waldecke, die er heute besucht hatte, woher die Töne kamen. Schnell warf er seinen Mantel über, eilte hinab, und bat den alten Hanns, ihm das Tor zu öffnen; er gab vor, auf einem Platz im Wald, unweit des Schlosses, ein Taschenbuch zurückgelassen zu haben, dem der Nachttau schaden könnte. Die Flötenklänge, die immer weicher und schmelzender wurden, dienten ihm zu Führern nach jener Waldecke; immer eifriger drang er durch das Gebüsch, denn er hatte einen Blick nach der Burg hinübergeworfen und gesehen, daß ein weißes Tuch von Annas Fenster wehte. Schon sah er die Umrisse des Flötenspielers, schon rief er: »Halt, Freund Musikus, ich werde die zweite Stimme spielen«, da schlug dicht neben ihm ein Hund an, und als er erschreckt auf die Seite sprang, stürzte er über die Wurzeln einer alten Eiche unsanft zur Erde.
Als er sich nach einer Weile wieder aufgerichtet hatte und auf den Platz zutrat, wo der Mann mit der Flöte gesessen war, fand er weder von ihm noch von dem Hund eine Spur, wohl aber hörte er tief unten am Berg die Büsche rauschen und das Gesträuch knacken. Beschämt wandte er sich ab und sah nach dem Schloß hinüber. Ein heller Schein war an Annas Fenster, aber es war kein Tuch, wie er geglaubt hatte, sondern der Mond, der in den Gläsern sich spiegelte. Er warf sich seine Unbesonnenheit, seine Hast und Eile, sein Mißtrauen, seine Eifersucht vor. Er suchte für das Entweichen des Flötenspielers die gewöhnlichen und prosaischen Gründe auf, er wollte Anna unschuldig finden, und dennoch wurde er nicht ruhig.
So stand er in dem Anblick der vom Mondlicht übergossenen Burg da, als er plötzlich mit einem Schrei des Schreckens auffuhr, denn eine kalte Hand rührte an die seinige; er sah sich um, und eine dunkle Gestalt stand vor ihm. Ehe er noch fragen, sich nur fassen konnte, fühlte er, daß man ein Papier in seine Hand gedrückt habe, und zugleich stürzte sich dieses geheimnisvolle Wesen in den Wald, doch war es nicht so ätherischer Natur, daß es nicht im Forteilen das Gesträuch zerknickt und Zweige abgestoßen hätte. Albert wurde es ganz unheimlich an diesem Ort. Sein aufgeregtes Blut, die tiefe Stille der Nacht, das schaurige Dunkel der Buchen, und gegenüber die altergraue Burg, ihre Fenster vom Monde so sonderbar beleuchtet, daß er geheimnisvolle Schatten in den hohen Gemächern hin und her schleichen sah – es war ihm so bange, daß er schnell seinen Weg zurückeilte, daß er im Wald laut auftrat, nur um sich selbst in dieser unheimlichen Stille zu hören.
Die Laterne des alten Hanns warf ihm ein tröstliches Licht aus dem Tor entgegen. Eilends ließ er den Alten mit der Lampe voran nach seinem Zimmer gehen, er entrollte das Papier und erschrak vor einem fremden Unglück, denn die wenigen Zeilen lauteten:
»Dein Brief traf mich erst heute, die Antwort ein andermal. S. Z. N. und noch drei andere wurden heute frühe verhaftet und nach der Festung geführt. Ich weiß nicht, ob Du Dich schuldig fühlst, aber vernünftig wäre es, wenn Du Dich auf die Beine machtest. In Deiner Lage kann es nicht schaden. Ich schickte diese Zeilen an den gewöhnlichen Platz; Gott gebe, daß sie Dich treffen. Was Du auch tun wirst, Robert, sei diskret und nenne mich nie.«
Wer der unglückliche Flötenspieler gewesen sei, sah jetzt Albert deutlich; doch zu großmütig, um aus dieser Verwechselung einen Vorteil ziehen zu wollen, faßte er rasch den Entschluß, den jungen Willi zu retten. Aber fremd und unbekannt in dieser Gegend, deuchte es ihm unmöglich, dies allein auszuführen. Er schickte schnell den alten Hanns nach dem Turm, wo Anna wohnte, er ließ sie dringend bitten, ihm nur auf zwei Minuten in einer sehr wichtigen Sache Gehör zu geben. Er folgte dem Alten bis an die Türe des Saales, und dort blieb er in dem großen weiten Gemach allein, um seine Cousine zu erwarten. Zu jeder andern Zeit hätte der Anblick, der sich ihm hier darbot, mächtig auf seine Seele wirken müssen. Ein ungewisses Licht schimmerte durch die Fenster und fiel auf die Gemälde seiner Ahnen. Ihre Gestalten schienen lebendiger hervorzutreten, ihre Gesichter waren bleicher als sonst, und die ausgestreckte Hand einer längstverstorbenen Frau von Thierberg schien sich zu bewegen. Dazu rauschten die Bäume und murmelte der Fluß auf so eigene Weise, daß man glauben konnte, dieses Geräusch gehe von den Gewändern der Verstorbenen aus.
In diesen Augenblicken aber hatte er nur ein Ohr für die immer leiser schallenden Tritte des alten Dieners; sein Auge hing erwartungsvoll an der Türe, sein Herz pochte unruhig einer Gewißheit entgegen, die keine erfreuliche sein konnte.
Bald tönten die Schritte wieder den Korridor herauf; er strengte sein Ohr an, ob er nicht auch den leichten Tritt seiner Base vernehme, die Türe öffnete sich, und sie erschien mit Hanns und ihrem Mädchen, er sah ihrer Kleidung und ihren Augen an, daß sie noch nicht geschlummert hatte. Noch ehe sie fragen konnte, reichte er ihr schnell das Billett und sagte französisch in wenigen Worten, wie er es erhalten habe. Eine hohe Röte flammte über das schöne Gesicht, solange er sprach, sie wagte es nicht, die zarten Augenlider aufzuschlagen; doch kaum hatte sie einen Blick auf die Zeilen geworfen, so erbleichte sie, sah ihn mit großen Augen erschrocken an, und zitterte so heftig, daß sie sich an dem Tisch halten mußte.
»Ich muß sogleich hinübereilen«, sagte er näher tretend, »und nur darum habe ich dich rufen lassen, daß du mir ein Mittel angebest, wie ich durch den Fluß komme. Ich möchte bei den Domestiken nicht gerne Aufsehen erregen.«
»Zu Pferd, schnell zu Pferd«, rief sie hastig, indem sie bebend seine Hand ergriff; »schwimm hinüber, und dann schnell nach Neckareck.«
»Aber bei Nacht?« erwiderte er zaudernd, »ich kenne die Stellen nicht, wo man durchkommen kann, der Fluß ist tief und reißend.«
»Führe mir des Vaters Pferd heraus, Hanns!« wandte sie sich an den erschrockenen Diener; »schnell, du begleitest mich, ich will selbst hinüber!«
»Führe es heraus, Alter, aber für mich!« fiel Rantow unmutig ein; »wie magst du mich so verkennen, Anna? Du wirst mir den Weg zu einer Stelle zeigen, wo ich durch den Neckar kommen kann.«
»Nein, so geht es nicht!« sagte sie beinahe weinend und sank auf einen Stuhl nieder; »du wirst nicht hinüberkommen. Führe ihn durchs Dorf hinab, Hanns, mach unsern Kahn los und schiffe den Vetter hinüber; du mußt zu Fuß hinüber, Albert, in einer halben Stunde kannst du dort sein. O Gott! ich habe es ja schon lange geahnt, daß es so kommen würde; sag ihm, er soll nicht zögern, ich wolle ihn überall lieber wissen, als in einem Kerker!«
Der junge Mann drückte ihr schweigend die Hand und winkte dem Alten, zu gehen. Nie zuvor hätte er sich für fähig gehalten, so schönen Hoffnungen so schnell zu entsagen, aber der Gedanke an die schöne, kummervolle Anna, die er bis jetzt nur lächelnd gesehen hatte, spornte ihn zu immer schnelleren Schritten, und so mächtig ist in einem Herzen, das die Selbstsucht noch nicht ganz umsponnen hat, das Gefühl, in einem entscheidenden Moment Hülfe oder Rettung zu geben, daß er in diesem Augenblick in dem jungen Willi nur einen Unglücklichen, und nicht Annas Geliebten sah.
Am Ufer schloß der Alte schnell den Kahn los und bat den Gast, sich ruhig niederzusetzen; aber dennoch konnte Albert diesem Gebot nicht völlig Folge leisten, denn als sie ungefähr die Mitte des Neckars erreicht hatten, hörte man deutlich den Hufschlag von Pferden und das Rollen eines Wagens von der Landstraße her, die sich jenseits dem Ufer näherte. Er richtete sich auf, trotz dem Schelten des Alten und dem unruhigen Schaukeln des Kahns, und sah im Schein einiger Laternen einen Wagen mit vier Pferden, von einigen, wie es schien, bewaffneten Reitern begleitet, vorüberfahren. »Ist dies eine Hauptstraße?« fragte er den alten Hanns; »kann dies vielleicht ein Postwagen sein, der dort fährt?«
»Hab hier noch nie einen gesehen«, erwiderte jener mürrisch; »und um einen Postwagen zu sehen, möchte ich kein kaltes Bad im Neckar wagen.«
»Schnell! wo geht man nach Neckareck, nach dem Gut des Generals?« fragte Albert, welcher besorgte, er möchte zu spät gekommen sein. »Spute dich, Alter!«
»So lassen Sie mich doch den Kahn erst wieder anschließen!« sagte Hanns; »doch wenn Sie Eile haben, nur hier links immer die Straße fort, sie führt gerade auf das Schloß zu; ich will schon nachkommen.«
Der junge Rantow lief mehr, als er ging; der Alte keuchte mühsam hinter ihm her, aber sooft er ihn erreicht hatte, lief jener wieder schneller, als würde er verfolgt. Endlich sah er das Schloß mit seinen weißen Säulen durch die Nacht schimmern; es fiel ihm ängstlich auf, daß viele Fenster erleuchtet waren, und als er näher kam, sah er deutlich Menschen an den Fenstern hin und her laufen. Der Schrecken dieser Nacht und die ungewöhnlich schnelle Bewegung hatten seine Kräfte beinahe erschöpft, aber dieser beunruhigende Anblick trieb ihn zu noch rascherem Laufen, in wenigen Minuten langte er an dem Schloß an, aber er mußte sich an die Pforte lehnen und nach Atem suchen, ehe er eintrat.
Der erste, dem er an der erleuchteten Treppe begegnete, war der Gardist, ein alter, französischer Kriegsgefährte des Generals, der jetzt mehr den Haushofmeister als den Diener spielte. Er schien bleicher als sonst, und schlich trübselig die Treppe herab. »Wo ist Euer junger Herr?« rief Albert hastig, »führt mich schnell zu ihm.«
»Sacre bleu!« antwortete der Gardist erstaunt, als er den jungen Mann erkannte; »weiß es Fräulein Anna schon? o la pauvre enfant!«
»Wo ist Robert«, rief Rantow drängender.
»Il est prisonnier«, erwiderte er traurig; »auf die Festung gebracht comme ennemi de la patrie, comme démocrate; vier Dragons de la gensdarmerie haben ihn eskortiert, oh, mein armer Monsieur Robert!«
»Führt mich zum General!« sagte Rantow, als er diese Nachricht hörte.
»Monsieur le Général est sorti.«
»Wohin?« rief der junge Mann, unwillig darüber, daß er jedes Wort dem alten Soldaten abfragen mußte.
»Mit seinem Sohn à la capitale, zu fragen: was Monsieur de Willi verschuldet.«
Als Rantow sah, daß hier nichts mehr zu tun sei, suchte er einen andern Bedienten auf, und ließ sich die näheren Umstände der Verhaftung erzählen. Er hörte, daß spät abends, in Roberts Abwesenheit, ein Kommissär angekommen sei, der, nach einer kurzen Rücksprache mit dem General, die Papiere des jungen Willi untersucht und teilweise versiegelt habe. Darauf sei Robert nach Hause gekommen und habe sich gutwillig darein ergeben, dem Kommissär zu folgen; er habe seinem Vater das Wort darauf gegeben, daß man ihn unschuldig finden werde; das letztere hatte der General einem Bedienten befohlen, am nächsten Morgen dem Herrn von Thierberg und seiner Familie zu sagen; er habe sich dann zu Pferd gesetzt und sei, nur von einem Bedienten begleitet, vom Schloß weggeritten. Der junge Willi selbst hatte weder nach Thierberg noch sonst wohin Aufträge zurückgelassen.
Soviel erfuhr Albert, und diese Nachrichten waren nicht dazu geeignet, ihn auf dem Rückweg freudiger zu stimmen. Er konnte auf den Trost, welchen Robert seinem Vater gegeben, keine große Hoffnung bauen, und vor allem war ihm vor dem Augenblick bange, wo er die schmerzliche Kunde der trauernden Anna bringen sollte.