Wilhelm Hauff
Novellen
Wilhelm Hauff

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4

Mit den Flügeltüren des Speisesaales und dem ersten Blick, den er hineinwarf, hatte sich übrigens dem Gast aus Brandenburg ein weites Feld der Erinnerung geöffnet. Von diesem gemalten Plafond, der die Erschaffung der Welt vorstellte, von dem schweren Kronleuchter, den der Engel Gabriel als Sonne aus den Wolken herabhängen ließ, von den gelben Gardinen von schwerer Seide hatte ihm seine Mutter oft gesprochen, wenn sie von ihrem väterlichen Schloß in Schwaben und von dem ungemeinen Glanz erzählte, welcher einst durch ihre hochselige Frau Großmutter, die Tochter eines reichen Ministers, in die Familie und in die schöneren Appartements zu Thierberg gekommen sei. Schon seine Mutter hatte in ihrer Kindheit diese Prachtstücke mit großer Ehrfurcht vor ihrem Altertum betrachtet, und seit dieser Zeit hatten sie zum mindesten dreißig bis vierzig Jahre gesehen.

»Das ist der Familiensaal«, sagte während der Tafel der alte Thierberg, als er die neugierigen Blicke sah, womit sein Neffe dieses Gemach musterte. »Vorzeiten soll man es die Laube genannt haben, und meine Ahnherrn pflegten hier zu trinken. Mein Großvater selig ließ es aber also einrichten und schmücken; er war ein Mann von vielem Geschmack, und hatte in seiner Jugend mehrere Jahre am Hof Ludwigs XIV. zugebracht. Auch meine Frau Großmutter war eine prächtige Dame, und sie beide haben das Innere des Schlosses auf diese Art eingeteilt und dekoriert.«

»Am Hofe Ludwigs XIV.!« rief der junge Mann mit Staunen. »Das ist eine schöne Zeit her; wie mancherlei Gäste mag dieser Saal seit jener Zeit gesehen haben!«

»Viele Menschen und wunderbare Zeiten«, erwiderte der alte Herr. »Ja, es ging einst glänzend zu auf Thierberg, und unsere Gäste befanden sich bei uns nicht schlimmer, als bei jedem Fürsten des Reichs. Man konnte kein fröhlicheres Leben finden, als das auf diesen Schlössern, solange unsere Ritterschaft noch blühte. Da galt noch unser Ansehen, unsere Stimme; man war ein Edelmann so gut als der König von Frankreich, und ein Freiherr war ein freier Mann, der nichts über sich kannte als seinen gnädigen Herrn, den Kaiser, und Gott; jetzt –«

»Vater!« unterbrach ihn Anna, als sie sah, wie die Ader auf seiner Stirne anschwoll, und wie eine dunkle Röte, ein Vorbote nahenden Sturmes, auf seinen Wangen aufzog. »Vater!« rief sie mit zärtlichen Tönen, indem sie seine Hand ergriff, »nichts mehr über dies Thema; Sie wissen, wie es Sie immer angreift!«

»Törichtes Mädchen!« erwiderte der alte Herr, halb unwillig, halb gerührt von der bittenden Stimme seiner schönen Tochter; »warum sollte ein Mann nicht stark genug sein, nach Jahren von dem zu sprechen, was er zu dulden und zu tragen stark genug war? Der Vetter kennt nur unsere Verhältnisse, wie sie jetzt sind. Er ist geboren zu einer Zeit, wo diese Stürme gerade am heftigsten wüteten, und aufgewachsen in einem Lande, wo die Ordnung der Dinge längst schon anders war; er kann sich also nicht so recht denken, was die Vorfahren seiner Mutter waren, und deshalb will ich ihn belehren.«

Der Freiherr nahm nach diesen Worten sein großes Glas, auf dessen Deckel die sechszehn Wappenschilde seines Hauses, aus Silber getrieben, angebracht waren, und trank, um Kraft zu seiner Belehrung zu sammeln, einen langen, tüchtigen Zug. Doch Fräulein Anna sah an ihm vorüber den Gast mit besorglichen, bittenden Blicken an; er verstand diesen Wink und suchte den Oheim von dieser Materie abzubringen.

»Es ist wahr«, fiel er ein, noch ehe jener das Glas wieder auf den Tisch gesetzt hatte, »in Preußen sind die Verhältnisse anders und sind seit langer Zeit anders gewesen. Aber sagen Sie selbst, kann man ein Land in Europa finden, das meinem Vaterland gliche? Ich gebe zu, daß andere Länder an Flächeninhalt, an Seelenzahl uns bei weitem überwiegen, aber nirgends trifft man auf so kleinem Raum eine so kräftige, durch innere Tugend imponierende Macht: es ist das Sparta der neuen Zeit. Und nicht ein glücklicher Boden oder ein milder Himmel bewirkten so Großes; sondern der Genius großer Männer hat ein Preußen geschaffen, weil sie es verstanden, die schlummernden Kräfte zu wecken, dem Volke selbst zeigten, welche Stellung es einnehmen müsse; weil sie Preußen geworden sind, ist auch ein Preußen erstanden.«

Der alte Herr hatte seinem Neffen ruhig zugehört, bei den letzten Worten aber zog sich sein Gesicht zu solcher Ironie zusammen, daß der Brandenburger errötete. »Der Sohn meines Nachbars, des Generals von Willi, würde sagen, wenn er dich hörte: ›O Deutschland, Deutschland, da sieht man, wie dein Elend aus deiner eigenen Zersplitterung hervorgeht! sie wollen nicht mehr Griechen, sondern Platäer, Korinther, Athener, Thebaner und gar – Spartaner heißen!‹ Ich wünsche nur«, setzte er lächelnd hinzu, »daß die Spartaner nicht zum zweitenmal einen Epaminondas im Felde finden mögen. Die Schlacht bei Leuktra war kein Meisterstück der Kriegskunst unserer modernen Spartaner.«

»Unser Unglück bei Jena«, sagte der junge Mann verdrüßlich, »kann man weder dem Volk, noch dem König zuschreiben, und ich glaube, wir haben uns an Napoleon hinlänglich gerächt; wir haben nicht nur Deutschland wieder frei gemacht, sondern ihn selbst entthront.«

»So? Das seid ihr gewesen?« fragte der Oheim; »Gott weiß, ich tat bis jetzt sehr unrecht, daß ich dieses Ereignis der halben Million Soldaten zuschrieb, die man aus ganz Europa gegen ihn zusammenhetzte. Warst du vielleicht selbst mit dabei, Neffe? Du kannst wahrscheinlich als Augenzeuge reden?«

Der Neffe errötete und schickte einen ängstlichen Blick nach Anna, die ihr Lächeln kaum unterdrücken konnte. »Ich war damals noch auf der Schule«, antwortete er, »und es hat mich nachher oft geärgert, daß ich nicht mit dabei war. Ich gebe zu, daß die andern auch mitgeholfen haben, aber in allen Schlachten waren es nur die Preußen, die entschieden haben; denken Sie nur an Waterloo.«

»Sei überzeugt, ich denke daran«, erwiderte der alte Herr mit großem Ernst, »und denke mit Vergnügen daran. Wenn einer ein Feind jenes Mannes ist, so bin ich es; denn er hat uns und alles unglücklich gemacht, und das alte schöne Reich umgekehrt wie einen Handschuh. Aber das mit deinen Landsleuten weißt du denn doch nicht recht. Ich glaube schwerlich, daß eure jungen Soldaten, wenn sie auch wirklich so begeistert waren, wie man sagte, so viele Stöße auf ihr Zentrum ausgehalten hätten, als am achtzehnten Juni jene Engländer, die schon in allen Weltteilen gedient hatten.«

»Nicht die Jahre sind es«, sagte jener, »die in solchen Augenblicken Kraft geben, sondern das Selbstbewußtsein, der Stolz einer Nation und die Begeisterung des Soldaten für seine Sache; und die hat der Preuße vollauf.«

»Ich habe in meiner Jugend auch ein paar Jahre gedient«, entgegnete der Oheim, »Anno 85 bei den Kreistruppen. Damals waren die Soldaten noch nicht begeistert, darum kenne ich das Ding nicht. Nächstens wird mich aber mein Nachbar, der General, besuchen, mit diesem mußt du darüber sprechen.«

»Wie dem auch sei«, fuhr der Gast fort, »es freut mich innig, daß Sie über den Hauptpunkt, über den Unwillen gegen die Franzosen und im Haß gegen diesen Korsen, mit mir übereinstimmen. Bei uns zu Hause behauptet man, daß er in Süddeutschland leider noch immer als eine Art Heros angesehen, und es ist lächerlich zu sagen, von vielen sogar als ein Beglücker der Menschheit verehrt werde.«

»Sprich nicht zu laut, Freund!« erwiderte der alte Herr, »wenn du es nicht mit dieser jungen Dame hier gänzlich verderben willst. Sie ist gewaltig napoleonisch gesinnt.«

»Sie werden darum nicht schlechter von mir denken«, sagte Anna hocherrötend, »weil ich einen Mann nicht geradehin verdammen mag, dessen unverzeihlicher Fehler der ist, daß er ein großer Mensch war.«

»Großer Mensch!« rief der Alte mit blitzenden Augen, »den Teufel auch, großer Mensch! was heißt das? Daß er den rechten Augenblick erspähte, um wie ein Dieb eine Krone zu stehlen? Daß er mit seinen Bajonetten ein treffliches Reich über den Haufen warf, seine herrliche, natürliche Form zertrümmerte, ohne etwas Besseres an die Stelle zu setzen, großer Mensch!«

»Sie sprechen so, weil –«

»Anna, Anna!« fiel er seiner Tochter in die Rede, »meinst du, ich spreche nur darum so, weil er uns elend machte? weil er dieses Tal und diesen Wald mir entriß, weil er diese Menschen, die mir und meinen Ahnen als ihren Herren dienten, an einen andern verschenkte? Weil die ungebetenen Gäste, die er uns schickte, das bißchen aufzehrten oder einsteckten, was mir noch geblieben war? Es ist wahr, an jenem Tage, wo man ein fremdes Siegel über das alte Wappen der Thierberge klebte, wo man mein Vieh zählte und schätzte, meine Weinberge nach dem Schuh ausmaß, meine Wälder lichtete und die erste Steuer von mir eintrieb, an jenem Tage sah ich nur mich und den Fall meines Hauses; aber ging es der ganzen Reichsritterschaft besser, mußten wir nicht sogar erleben, daß ein Mann von der Insel Korsika erklärte, es gebe keinen deutschen Kaiser und kein Deutschland mehr?«

»Gott sei es geklagt«, sagte der junge Rantow, »und uns wahrhaftig hat er es nicht besser gemacht.«

»Ihr, gerade ihr seid selbst schuld daran«, fuhr der alte Herr immer heftiger fort. »Ihr hattet euch längst losgesagt vom Reich, hattet kein Herz mehr für das Allgemeine, wolltet einen eigenen Namen haben und tatet euch viel darauf zugut. Ihr sahet es vielleicht sogar gern, daß man uns Schaft für Schaft entzweibrach, weil man uns fürchtete, solange die übrigen Speere ein Band umschlang. Habt ihr nicht gesehen, wie weit es kam, als man in Sparta jeden Griechen einen Fremden nannte? Verdammt sei dieses Jahrhundert der Selbstsucht und Zwietracht, verdammt diese Welt von Toren, welche Eigenliebe und Herrschsucht Größe nennt!«

»Aber lieber Vater –« wollte das Fräulein besänftigend einfallen, doch der alte Herr war nach seinen letzten Worten schnell aufgestanden, und der kleine Mensch in der thierbergischen Livree eilte auf seinen Wink mit zwei Kerzen herbei.

»Gute Nacht«, wandte er sich noch einmal zu seinem Neffen; »stoße dich nicht daran, wenn du mich zuweilen heftig siehst; 's ist so meine Natur. Schlafet wohl, Kinder!« setzte er ruhiger hinzu, »wenn die Gegenwart schlecht ist, muß man von besseren Zeiten träumen.« Anna küßte ihm gerührt die Hand, und die erhabene Gestalt des alten Herrn schritt langsam der Türe zu. Rantow war so betroffen von allem, was er gehört und gesehen, daß es ihm sogar entging, welche komische Figur der Diener machte, der seinem Herrn zu Bette leuchtete. Die weite Staatslivree, die er trug, hing beinahe bis zum Boden herab, und die langen bortierten Aufschläge bedeckten völlig die Hände, welche die silbernen Leuchter trugen. Er war anzusehen wie ein großer Pilgrim, der einen Kalvarienberg hinan auf den Knien rutscht. Um so erhabener war der Kontrast des Mannes, der ihm folgte; er erschien, als er durch den altfränkischen Saal unter den Familiengemälden seiner Ahnen vorbeischritt, wie ein wandelndes Bild »der guten alten Zeit«.

Als der alte Herr das Gemach verlassen hatte, stand das Fräulein mit einer Verbeugung gegen ihren Gast auf und trat in ein Fenster. Der junge Mann fühlte an ihrem Schweigen, daß er diesen Abend Saiten berührt haben müsse, die man anzutasten sonst vielleicht sorgfältig vermied. Sie blickte hinaus in die Nacht und Rantow trat an ihre Seite; er hatte oft erprobt, wie sich Mißverständnisse leichter lösen, wenn man sie in einen Scherz kehrt, als wenn man mit Ernst oder Wehmut darüber spricht. Mit solch einem Scherz wollte er Anna versöhnen; doch als er zu ihr ans Fenster trat, war der Anblick, der sich ihm darbot, so überraschend, daß kein heiteres Wort über seine Lippen schlüpfen konnte. Das tiefe, schwärzliche und doch so reine Blau, das nur ein südlicher Himmel im Mondlicht zeigt, hatte er noch nie gesehen. Über Wald und Weinberge herab goß der Mond seltsame Streiflichter und im Tal schimmerten seinen Glanz nur die zitternden Wellen des Neckars und die Spitze des dunkeln Kirchturms zurück. Der falbe Schein dieses Lichtes der Nacht hatte Annas Züge gebleicht und in ihren schönen Augen schwamm eine Träne. Jetzt erst, als alles so still und lautlos war, vernahm man aus der Ferne die gehaltenen Töne einer Flöte, und diese Klänge verbanden sich so sanft mit dem milden Schimmer des Mondes, daß man zu glauben versucht war, es seien seine Strahlen, die so melodisch sich auf die Erde niedersenkten. Ein seliges Lächeln zog über Annas Gesicht; ihr glänzender Blick hing an einer Waldspitze, die weit in das Tal vorsprang und ihre tieferen Atemzüge schienen der Flöte zu antworten.

»Wie prachtvoll ist selbst die Nacht in Ihrem Tal«, sprach nach einer Weile der Gast. »Wie schön wölbt sich der Himmel darüber hin, und der Mond scheint nur für diesen stillen Winkel der Erde geschaffen zu sein.«

Anna öffnete das hohe Bogenfenster. »Wie warm und mild es noch draußen ist!« sagte sie, indem sie freundlich in das Tal hinabschaute. »Kein Lüftchen weht.«

»Aber die Bäume neigen sich doch her und hin«, erwiderte er, »sie rauschen, gewiß vom Wind bewegt.«

»Kein Lüftchen weht!« wiederholte sie und hielt ihr weißes Tuch hinaus. »Sehen Sie, nicht einmal dieses leichte Tuch bewegt sich. Und kennen Sie denn nicht die alte Sage von den Bäumen? Nicht der Nachtwind ist es, der ihre Blätter bewegt, sie flüstern jetzt und erzählen sich, und wer nur ihre Sprache verstünde, könnte manches Geheimnis erfahren.«

»Vielleicht könnte man dann auch erfahren, wer der Flötenspieler ist«, sagte der Vetter, indem er Anna schärfer ansah; denn schon war er so eifersüchtig auf seine schöne Base geworden, daß ihm die süßen Töne vom Wald her und ihr Tuch, das sie noch immer aus dem Fenster hielt, in Wechselwirkung zu stehen schienen.

»Das kann ich Ihnen auch ohne die Bäume verraten«, erwiderte sie lächelnd, indem sie das Tuch zurücknahm. »Das ist ein munterer Jägerbursche, der seinem Mädchen einen guten Abend spielt.«

»Dazu ist aber die Entfernung doch beinahe zu groß«, fuhr er fort, »manche Töne werden nicht ganz deutlich.«

»Im Dorf unten hört man es besser als hier oben«, sagte sie gleichgültig und schloß das Fenster; »überdies sagt ja das Sprichwort: das Ohr der Liebe hört noch weiter als der Argwohn.«

»Schön gesagt«, rief der junge Mann, »doch das Auge des Argwohns sieht weiter, als das der Liebe.«

»Sie haben recht«, entgegnete sie, »aber nur bei Tag, nicht bei Nacht.«

Diese, wie es schien, ganz absichtlos gesagten Worte überraschten den jungen Mann so sehr, daß er beschämt die Augen niederschlug. Er warf sich seine Torheit vor, daß er nur einen Augenblick glauben konnte, es sei ein Liebhaber dieses arglosen Kindes, der dort im Walde musiziere.

»Und nun gute Nacht, Vetter«, fuhr Anna fort, indem sie eine Kerze ergriff. »Träumen Sie etwas recht Schönes, man sagt ja, der erste Traum in einem Hause werde wahr; Hanns! leuchte dem Herrn Baron ins rechte Turmzimmer! Und dies noch«, setzte sie auf französisch hinzu, als der Diener näher trat; »vermeiden Sie mit meinem Vater über Dinge zu sprechen, die ihn so tief berühren. Er ist sehr heftig, doch gilt sein Zorn nie der Person, sondern der Meinung. Es war meine Schuld, daß ich Sie nicht zuvor unterrichtet habe, morgen will ich nähere Instruktionen erteilen; – gute Nacht!«

Sinnend über dieses sonderbare und doch so liebenswürdige Wesen folgte der Gast dem Diener, und die dumpfhallenden Gänge und Wendeltreppen, das vieleckigte, in wunderlichen Spitzbogen gewölbte Gemach, das altertümliche Gardinenbette, so manche Gegenstände, die er sonst aufmerksam betrachtet hätte, blieben diesmal ohne Eindruck auf seine Seele, die nur eifrig beschäftigt war, den Charakter und das Benehmen Annas zu prüfen und zu mustern.


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