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Als ich am Morgen nach dieser Begebenheit erwachte, schien es mir, als hätte mir von diesem allem nur geträumt. Aber Faldner, der bald herbeikam und mich nach seiner zarten Manier zu schrauben anfing, riß mich aus meinem Zweifel. Die Sache schien mir, so recht deutlich am Morgenlicht betrachtet, doch allzu fabelhaft, als daß ich sie dem ungläubigen Freund hätte erzählen mögen. Man ist in neuerer Zeit zu jenem Grad der Sittenverfeinerung gekommen, die schon ins Gebiet der Unsittlichkeit hinüberstreift; man will in manchen Fällen lieber wild, etwas liederlich und schlecht erscheinen, man gibt lieber eine Zweideutigkeit zu, nur um nicht als ein Tor, als ein Sonderling, als ein Mensch von schwachem Verstand und beschränkten Lebensansichten zu gelten.
Im Innern kränkte mich aber noch mehr, als Faldners Schraubereien, ein Etwas, eine Unruhe, was ich nicht zu deuten wußte. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich nicht einmal ihr Gesicht gesehen hatte. ›Wozu‹, sagte ich mir, ›wozu diese übertriebene Diskretion. Wenn ich ein paar Napoleons hingebe, so kann ich doch um die Gunst bitten, den Schleier etwas zu lüften?‹ Und doch, wenn ich mir das ganze Betragen des Mädchens, das, so einfach es war, doch von Gemeinheit auch nicht im geringsten etwas an sich hatte, zurückrief, wenn ich bedachte, wie mich ihre edle Haltung, der gebildete Ton ihrer Antworten anzog, so mußte ich mich, halb zu meinem Ärger, rechtfertigen. Es liegt etwas in der menschlichen Stimme, das uns, ehe wir Züge und Auge, ehe wir den Stand der Sprechenden kennen, den Ton angibt, in welchem wir mit ihm sprechen müssen. Wie unendlich, nicht sowohl in der Form als im Klang der Sprache, unterscheidet sich der Gebildete vom Ungebildeten, und des Mädchens Töne waren so weich und zart, ihre kurzen Antworten oft so aus der tiefsten Seele gesprochen! Den ganzen Tag konnte ich diese Gedanken nicht loswerden, sogar abends, in eine glänzende Gesellschaft von Damen begleitete mich das arme Mädchen mit dem schwarzen Hütchen, dem grünen Schleier und dem unscheinbaren Mantel.
In den nächsten Tagen ärgerte ich mich über meine Torheit, welche schuld war, daß ich das Mädchen erst nach acht Tagen wiedersehen konnte; ich zählte die Stunden ab bis zu dem nächsten Freitag, und es war, als hätte jene Hauptstadt der Welt, wie sie ihre Bewohner nennen, nichts Reizendes mehr in sich, als die Bettlerin vom Pont des Arts. Endlich, endlich erschien der Freitag. Ich brauchte alle mögliche List, um mich auf diesen Abend von Faldner und den übrigen Freunden loszumachen, und trat, als es dunkel wurde, meinen Weg an. Ich hatte über eine Stunde zu gehen, und Zeit genug über meinen Gang nachzudenken. ›Heute‹, sagte ich zu mir, ›heute wirst du ins reine kommen, was du von dieser Person zu denken hast; du wirst ihr anbieten, mit ihr zu gehen, geht sie, so hast du dich schon das erstemal betrogen. Auch das Gesicht muß sie heute zeigen.‹
Ich war so eilends gegangen, daß es noch nicht einmal zehn Uhr war, als ich auf den Place de l'École de Médecine anlangte, und – auf eilf Uhr hatte ich sie ja erst bestimmt. Ich trat noch in einen Café, durchblätterte gedankenlos eine Schar von Zeitungen –; endlich schlug es eilf Uhr.
Auf dem Platz waren wenige Menschen, und so weit ich mein Auge anstrengte, kein grüner Schleier zu sehen. Ich hielt mich immer auf der Seite der Arzneischule, weil dort mehrere Laternen brannten. Die Momente solchen Erwartens sind peinlich. Wenn sie an deinem Gold genug hätte und gar nicht käme? wenn sie deine Gutherzigkeit verlachte! dachte ich, als ich den Platz wohl schon zehnmal auf und ab gegangen war. Es schlug halb zwölf, schon fing ich an über meine eigene Torheit zu murren, da wehte im Schein einer Laterne etwa dreißig Schritte von mir, etwas Grünes; mein Herz pochte ungestümer, ich eilte hin – sie war es. ›Guten Abend‹, sagte ich, indem ich ihr die Hand bot, ›schön, daß Sie doch Wort halten; schon glaubte ich, Sie werden nimmer kommen.‹ Sie verbeugte sich ohne meine Hand zu fassen, und ging an meiner Seite hin; sie schien sehr gerührt: ›Mein Herr, mein edler Landsmann‹, sprach sie mit bewegter Stimme, ›ich mußte ja Wort halten, um Ihnen zu danken. Ich komme heute gewiß nicht, um Ihre Güte aufs neue in Anspruch zu nehmen. Ach, wie reich, wie freigebig haben Sie uns beschenkt. Kann Sie der innige Dank einer Tochter, können die Gebete und Segenswünsche meiner kranken Mutter Sie entschädigen?‹
›Sprechen wir nicht davon‹, erwiderte ich; ›wie geht es Ihrer Mutter?‹ ›Ich glaube wieder Hoffnung schöpfen zu dürfen‹, antwortete sie, ›der Arzt spricht zwar nichts Bestimmtes aus, aber sie selbst fühlt sich kräftiger. O wie danke ich Ihnen. Von Ihrem Geschenk konnte ich ihr wieder kräftige Speisen bereiten, und glauben Sie mir, der Gedanke, daß es noch so gute Menschen gibt, hat sie beinahe ebensosehr gestärkt.‹
›Was sagte Ihre Mutter, als Sie zu Hause kamen?‹ ›Sie war sehr in Sorgen um mich, weil es schon so spät war‹, erwiderte sie, ›ach, sie hatte so ungern mir die Erlaubnis zu diesem Gang gegeben, und malte sich jetzt irgendein Unglück vor, das mir begegnet sei. Ich erzählte ihr alles, aber als ich mein Tuch öffnete, und die Gaben, die ich gesammelt hatte, hervorzog und Gold dabei war, Gold unter den Kupfer- und Silberstücken, da erstaunte sie, und –‹ sie stockte und schien nicht weiterreden zu können; ich dachte mir, die Mutter habe sie arger Dinge beschuldigt, und forschte weiter, aber mit rührender Offenheit gestand sie, ›Die Mutter habe gesagt, der großmütige Landsmann müsse entweder ein Engel oder ein Prinz gewesen sein.‹
›Weder das eine noch das andere‹, sagte ich ihr; ›aber wie weit haben Sie ausgereicht? haben Sie noch Geld?‹
›O wir haben noch‹, erwiderte sie mutig, wie es scheinen sollte, aber mir entging nicht, daß sie vielleicht unwillkürlich dabei seufzte.
›Und was haben Sie noch?‹ sagte ich etwas bestimmter und dringender.
›Wir haben eine Rechnung in der Apotheke davon bezahlt, und einen Monat am Hauszins, und der Mutter habe ich davon gekocht, es ist aber immer noch übriggeblieben.‹
Wie ärmlich mußten sie wohnen, wenn sie von diesem Gelde eine Apothekerrechnung, einen Monat Hauszins bezahlen, und acht Tage lang kochen konnten! ›Ich will aber genau wissen‹, fuhr ich fort, ›was und wieviel Sie noch haben.‹
›Mein Herr!‹ sagte sie, indem sie beleidigt einen Schritt zurücktrat.
›Mein gutes Kind, das verstehen Sie nicht‹, erwiderte ich, indem ich ihr näher trat; ›oder Sie wollen es sich aus übertriebenem Zartgefühl nicht gestehen; ich frage Sie ernstlich, wenn Sie mit den paar Franken zu Rande sind, haben Sie Hülfe zu erwarten?‹
›Nein‹, sagte sie schüchtern und weich; ›keine.‹
›Denken Sie an Ihre Mutter und verschmähen Sie meine Hülfe nicht!‹ Ich hatte ihr bei diesen Worten meine Hand geboten; sie ergriff sie hastig, drückte sie an ihr Herz und pries meine Güte.
›Nun wohlan, so kommen Sie‹, fuhr ich fort, indem ich ihren Arm in den meinigen legte; ›ich kam leider nicht gerade von Hause, als ich hieher kam, und hatte mich nicht versehen; Sie werden daher die Güte haben, mich einige Straßen zu begleiten bis in meine Wohnung, daß ich Ihnen für die Mutter etwas mitgebe.‹ Sie ließ sich schweigend weiterführen, und so angenehm mir der Gedanke war, sie noch ferner unterstützen zu können, so war doch mein Gefühl beinahe beleidigt, als sie so ganz ohne Sträuben mitging, nachts in die Wohnung eines Mannes; aber wie ganz anders kam es als ich dachte. Wir mochten wohl etwa zwei- oder dreihundert Schritte fortgegangen sein, da stand sie stille und entzog mir ihren Arm. ›Nein, es kann, es darf nicht sein‹, rief sie in Tränen ausbrechend. ›Was betrübt dich auf einmal?‹ fragte ich verwundert, ›was darf nicht sein?‹
›Nein, ich gehe nicht mit, ich darf nicht mit Ihnen gehen.‹
›Aber mein Gott‹, erwiderte ich, indem ich mich etwas aufgebracht stellte; ›Sie haben doch wahrhaftig sehr wenig Vertrauen zu mir; wenn nicht Ihre Mutter wäre, gewiß ich ginge jetzt von Ihnen, denn Sie kränken mich.‹
Sie nahm meine Hand, sie drückte sie bewegt. ›Habe ich Sie denn beleidigt?‹ rief sie, ›o Gott weiß, das wollte ich nicht; verzeihen Sie einem armen unerfahrenen Mädchen; Sie sind so großmütig, und ich sollte Sie beleidigen?‹
›Nun denn so komm‹, sagte ich, indem ich sie weiterzog, ›es ist keine Zeit zu verlieren, es ist spät und der Weg ist weit.‹ Aber sie blieb stehen, weinte und flüsterte: ›Nein, um keinen Preis gehe ich weiter.‹
›Aber vor wem fürchtest du dich denn? Es kennt dich ja kein Mensch, es sieht dich ja keine Seele; du kannst getrost mit mir kommen.‹
›Ich bitte Sie um Gottes willen, lassen Sie mich. Nein, nein, es darf nicht sein, dringen Sie nicht weiter in mich.‹ Sie zitterte; ich fühlte wohl, wenn ich ihr die Not der Mutter noch einmal recht dringend vorstellte, so ging sie mit, aber die Angst des Mädchens rührt mich tief.
›Gut, so bleiben Sie hier‹, sprach ich; ›aber sagen Sie mir, können Sie vielleicht arbeiten?‹
›O ja, mein Herr‹, erwiderte sie, ihre Tränen trocknend.
›Könnten Sie vielleicht meine feinere Wäsche besorgen?‹
›Nein‹, antwortete sie sehr bestimmt. ›Dazu sind wir nicht eingerichtet.‹
›Hier ist ein weißes Tuch‹, fuhr ich fort; ›können Sie mir vielleicht ein halb Dutzend besorgen und fertig machen?‹
Sie besah das Tuch und sagte: ›Mit Vergnügen, und recht fein will ich es nähen!‹ Zu meiner eigenen Beschämung mußte ich jetzt dennoch Geld hervorziehen, obgleich ich es vorhin verleugnet hatte.
›Kaufen Sie sechs solcher Tücher‹, fuhr ich fort, ›und können Sie wohl drei davon bis Sonntag abend fertig machen?‹ Sie versprach es; ich gab ihr noch etwas für die Mutter, und sagte ihr, daß ich heute darauf nicht eingerichtet sei, aber Sonntag mehr tun könne. Sie dankte innig; es schien sie zu freuen, daß ich ihr Arbeit gegeben, denn noch einmal plauderte sie davon, wie schön sie die Tücher machen wolle, ja wenn ich nicht irre, so fragte sie mich sogar, ob sie nicht einen englischen Saum einnähen dürfe? Ich sagte ihr alles zu, aber als sie nun Abschied nehmen wollte, hielt ich sie noch fest. ›Eines müssen Sie mir übrigens noch zu Gefallen tun‹, sprach ich, ›Sie können es gewiß und leicht.‹
›Und was?‹ fragte sie; ›wie gerne will ich alles für Sie tun.‹
›Lassen Sie mich diesen neidischen Schleier aufheben, und Ihr Gesicht sehen, daß ich doch eine Erinnerung an diesen Abend habe.‹
Sie wich mir aus und hielt ihren Schleier fester; ›Bitte, lassen Sie das‹, erwiderte sie, und schien ein wenig mit sich selbst zu kämpfen; ›Sie haben ja die schöne Erinnerung an Ihre Wohltaten; die Mutter hat mir streng verboten, den Schleier zu lüften, und ich versichere Sie‹, setzte sie hinzu, ›ich bin häßlich wie die Nacht, Sie würden nur erschrecken!‹
Aber dieser Widerstand reizte mich nur noch mehr; ein wirklich häßliches Mädchen, dachte ich, spricht nicht so von ihrer Häßlichkeit, ich wollte den Schleier fassen, aber wie ein Aal war sie entwischt; ›Dimanche! à revoir!‹ rief sie; und eilte davon. Erstaunt blickte ich ihr nach, etwa fünfzig Schritte von mir blieb sie stehen, winkte mir mit meinem weißen Tuch, und rief mit ihrer silberhellen Stimme: ›Gute Nacht.‹