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Es waren seit jener traurigen Nacht mehrere Wochen verstrichen; sie deuchten der armen Anna ebenso viele Monate. Das Laub der Bäume fing schon an, sich zu bräunen, der Herbst mit seinem fröhlichen Gefolge war in das Tal eingezogen, Gesang und Jubel schallte von den Rebhügeln, schallte antwortend aus dem Fluß herauf, welcher Kähne, mit Trauben schwer belastet, abwärts trug. Als würde einem verwegenen, in diesen Bergen eingedrungenen Feind ein Gefecht geliefert, so krachte Büchsen- und Pistolenfeuer aus den Weinbergen, doch nicht das Wutgeschrei zurückgeworfener Kolonnen, sondern das Jauchzen einer freudeberauschten Menge stieg auf, wenn die Gewehre recht laut knallten, oder wenn die vorspringenden Ecken der Bergreihen die tiefere Stimme eines Pfundböllers zehnfach nachriefen.
Mit verschiedenen Empfindungen sahen die Bewohner des Schlosses Thierberg diesem fröhlichen Treiben von einer altertümlichen Terrasse des Schlosses zu. Der junge Rantow blickte unverwandt und mit glänzenden Augen auf dieses Schauspiel, das ihm ebenso neu als anziehend erschien. Er hatte in seiner Heimat, im Kreise vertrauter Freunde, oft bemerkt, wie der Wein, diese Himmelsgabe, die Wangen freundlicher färbte, die Zungen löste, und zu traulichem Gespräch, wohl auch zum Gesang, selbst die Ernsteren fortriß; doch nie hatte er gedacht, daß eine noch rauschendere Freude, ein höherer Jubel mit der Bereitung des fröhlichen Trankes sich verbinden könnte. Wie poetisch deuchte ihm dieses lebhafte Gemälde! Welch frische, natürliche Bilder zeigte ihm sein Opernglas! Diese Gruppen hatte der Zufall geordnet, und doch schienen sie ihm reizender, als was die Kunst je erfunden. »Siehe«, sagte er zu Anna, die, den schönen Kopf auf den Arm gestützt, ihm gegenüber saß und zuweilen einen ernsten Blick über das Tal hingleiten ließ, »siehe, dort gegenüber jenen Alten mit den silbergrauen Haaren; wie viele solche Herbste mag er schon gesehen haben! Wahrlich, ich könnte an der Gruppe um ihn her seine Lebensgeschichte studieren. Der blonde Knabe, der ihm eben die große Traube brachte, ist wohl sein Enkel; den jungen Burschen, der mit der Pritsche die Mädchen neckt und durch seine Scherze von der Arbeit abhält, indem er sie anzutreiben scheint, halte ich für seinen jüngern Sohn; siehe, jenes Mädchen hat seinen Schlag derb erwidert, sie ist wohl das Liebchen des muntern Burschen, denn sie lachen alle und verspotten ihn. Dieser gebräunte, breite Mann von vierzig, der soeben den ungeheuern, mit Trauben gefüllten Korb auf seine Schultern hob, ist wohl der ältere Sohn und des blonden Knaben Vater. So hast du die vier Altersstufen, die sie wohl alle ohne viele Änderung durchlaufen mögen.«
»Gewiß, ohne viele Änderung und ohne viel Vergnügen«, bemerkte der alte Herr von Thierberg, der gleichgültig hinabblickte, »das ewige Einerlei seit vielen hundert Jahren. Der Kleine dort wird jetzt bald in die Schule getrieben und von seinem Schulmeister täglich geprügelt, gerade wie vorzeiten sein Großvater. Der junge Bursche wird bald Soldat, oder auf ein paar Jahre Knecht in der Stadt. Kömmt er dann nach Hause, und der Vater ist tot, so bekommt er sein kleines Stückchen Erde und glaubt heiraten zu müssen; und hat er vier Kinder, so werden sie, wenn auch er einst stirbt, das armselige Erbe unter sich teilen, und gerade viermal ärmer sein, als er. So treibt es sich herauf und herab; zu dem Pulver, das sie heute verschießen, haben sie ein ganzes Jahr gespart, um doch auch einen Tag zu haben, an welchem sie sich betäuben können; und das nennen sie lustig sein! das nennen die Städter ein Fest, ein malerisches Volksvergnügen!«
»Nein! Sie sehen es zu düster an, Oheim!« entgegnete der Gast. »Mir scheint, ich gestehe es, eine wundervolle Poesie in diesem Treiben zu liegen. Diese Menschen sind so behende, so lebendig, so regsam. Stellen Sie einmal meine Märker hieher, wie unbeholfen und ungeschickt sie sich benehmen würden! Ich schäme mich heute noch der Unerfahrenheit, die ich letzthin zeigte; ich nahm in einem Ihrer Weinberge einem hübschen Mädchen das gebogene Messer ab und versprach, sie zu unterstützen; als ich die erste Traube abgeschnitten hatte und sie in das Körbchen legte, betrachtete das Mädchen nur den Stiel der Traube und sagte lächelnd: › Er hat wohl noch nicht oft Trauben geschnitten‹; und siehe, ich hatte, statt schief zu schneiden, gerade geschnitten. Nein! mir scheint diese Weinlese ein fortdauernder Festtag der Natur, eine liebliche, verkörperte Poesie.«
»Poesie?« erwiderte Anna, indem sie einen trüben, wehmütigen Blick auf die Berge gegenüber warf; »eine Poesie, die mir das Herz durchschneidet. Mir erscheint dieses fröhliche Treiben wie ein Bild des Lebens. Unter langem Jammer und Ungemach ein Tag der Freude, der durch seine hellen freundlichen Strahlen das öde Dunkel umher nur deutlicher zeigt, aber nicht aufhellt! Oh, kenntest du erst das Leben dieser Armen näher! Wenn du sie beim ersten Erwachen des Frühlings sehen könntest! Jeder Winter verwüstet ihre steilen Gärten; der Schnee löst sie auf und reißt ihre beste, fruchtbarste Erde mit sich hinab. Aber rastlos zieht jung und alt heraus. Die Erde, die ihnen das Wasser nahm, tragen sie wieder hinauf, und legen sie sorglich um ihre Reben her. Vom frühesten Morgen, in der Glut des Mittags, bis am späten Abend, steigen sie, schwer beladen, die steilen, engen Treppen hinan. Welche Freude, wenn dann der Weinstock schön steht und nach den Blüten treibt; aber wie bitter ist zugleich ihre Sorge, denn der kleinste Frost kann ihre zarte Pflanze vernichten. Und fällt nun der böse Tau oder eine kalte Nacht, wie schauerlich ist dann ihr Geschäft anzusehen. Alle, selbst die kleinsten Kinder, strömen noch vor Tag in den Weinberg. Dort legen sie alte Stücke von Kleidern und Tüchern unter die Rebstöcke und brennen sie an, daß der qualmende Rauch die zarte Pflanze schützen möchte. Wie arme Seelen, ins Fegfeuer verbannt, schleichen sie um die kleinen, zuckenden Feuer und durch die Schleier, die der Rauch um sie zieht. Die Kleinen rennen umher, sie können noch nicht berechnen, welches Unglück sie sehen, aber die Männer und Weiber wissen es wohl; es ist eine kühle Morgenstunde, die das Werk langer, mühesamer Wochen zerstört, und sie ohne Rettung noch tiefer in die Armut senkt.«
»Wahrhaftig! Du bist krank, Anna!« sagte der alte Herr, indem er lächelnd zu ihr trat, und, doch nicht ohne leise Besorglichkeit, seine Hand auf ihre schöne Stirne legte; »du warst ja doch sonst so fröhlich im Herbst, gabst solchen bösen Gedanken niemals Raum und freutest dich mit den Fröhlichen. Bist du krank?«
Anna errötete und suchte fröhlicher zu scheinen, als sie es war. »Krank bin ich nicht, lieber Vater«, erwiderte sie, »aber ich bin doch alt genug, um sogenannte Herbstgedanken haben zu dürfen. Man kann doch nicht immer fröhlich sein, und – mein Gott!« rief sie, indem sie errötend aufsprang – »ist er es nicht? – seht dort! –«
»Willi?« – rief Rantow verwundert, und wandte sich nach der Seite, wohin Anna deutete.
»Wer denn?« sagte der Alte, indem er bald seine zitternde und verwirrte Tochter, bald seinen Gast ansah. »Wie kömmst du nur auf Willi? Wer soll denn kommen? So sprechet doch!«
Aber in diesem Augenblicke trat auch schon der, dem Annas Ausruf gegolten hatte, herein, es war der alte Gardist. Er war noch nicht ganz auf die Terrasse getreten, als schon Anna, jede andere Rücksicht vergessend, zu ihm hinflog, seine Hand ergriff und eine Frage aussprechen wollte, zu welcher ihr der Atem fehlte. Der alte Soldat zog lächelnd seine Hand zurück, grüßte mit militärischem Anstand, und berichtete, in Form eines militärischen Rapports, daß der General noch diesen Abend zu Hause eintreffen, und –«
»Ist er frei?« unterbrach ihn Anna.
»– und seinen Sohn mitbringen werde, der auf sein Ehrenwort und die Kaution, die der Herr General gestellt habe, aus der Haft entlassen worden sei.«
In Annas Augen drängten sich Tränen, sie zitterte heftig und setzte sich nieder; der alte Thierberg, durch diesen Anblick überrascht, preßte die Lippen zusammen und blickte seine Tochter unwillig an, und Albert, der in den Zügen seines Oheims las, daß jener ein Geheimnis ahne, dessen Teilnehmer er bis jetzt allein gewesen war, fühlte sich befangen; er fürchtete für Anna, und erst in diesem Augenblick wurde es ihm deutlich, daß es für ihn selbst besser gewesen wäre, sich nie in diese Angelegenheit zu mischen. »Ich lasse dem Herrn General danken und Glück wünschen«, sagte nach einer peinlichen Pause Herr von Thierberg zu dem Grenadier und winkte ihm, zu gehen. »Wünsche nur«, fuhr er fort, indem er auf der Terrasse mit heftigen Schritten auf und ab ging, »wünsche nur, daß die paar Wochen Gefängnis eine gute Wirkung auf den Herrn Weltstürmer gehabt haben mögen! Ein paar Monate hätten nicht schaden können, wäre es auch nur gewesen, um das heiße Blut abzukühlen und die vorschnelle Zunge zu fesseln. Aber das alles ist das Erbteil seiner hochweisen Frau Mama! Ein junger Mann von unbeflecktem Adel hätte sich so weit nicht verirrt; aber das gewinnt man bei solchen Heiraten; weil sie sah, daß man in unserm Zirkel ihre Abkunft nicht vergessen habe, hat sie ihrem Sohn solche tolle, republikanische Ideen eingeprägt und ihn zu einem Toren, wo nicht zu einem verderblichen Menschen gemacht.« Diese und andere Worte stieß er schnell und heftig aus, und plötzlich blieb er vor seiner Tochter stehen, sah sie mit grimmigen Blicken an und sagte dann: »Ich glaube jetzt in der Tat, daß du kränker bist, als ich dachte; geh auf dein Zimmer! – ich werde mit dem Vetter diesen Abend allein speisen; geh!«
Das arme Kind ging hinweg, ohne ein Wort zu sagen; sie mochte die Natur ihres Vaters kennen und wissen, daß jeder Widerspruch seinen Zorn steigere, sie mochte auch fühlen, was in diesem Augenblick in seiner Seele vorgehe, wo sie zu wenig Macht über sich besaß, um ihr Geheimnis zu verbergen.
Als sie weggegangen war, schritt der Alte wieder eine Zeitlang schweigend hin und her; dann trat er zu seinem Neffen und fragte mit bewegter Stimme: »Was sagst du zu dem Auftritt, den wir da gesehen haben? Meinst du wirklich, es wäre möglich?«
»Ich kann Sie nicht verstehen, lieber Oheim.«
»Nicht verstehen, Junge? so soll ich es denn selbst in den Mund nehmen? Wisse – ich habe entdeckt, daß Anna den – den von drüben – nun daß sie den Sohn des Generals liebt. Zum Teufel, Junge! Du erwiderst nichts? wie magst du so – so gleichgültig aussehen, wenn von der Ehre deiner Familie die Rede ist? Rede!«
»Ich kann nichts hierin sehen«, entgegnete der junge Mann trotzig, »was etwa der Thierbergschen Ehre zu nahe treten könnte. Der alte Willi ist von Adel, ist ein berühmter General, ist reich –«
»Also abkaufen sollen wir uns unsere Ehre lassen, abhandeln? – Bursche, wenn du nicht mein Neffe wärest – Gott strafe mich, aber ich kenne mich selbst nicht, wenn ich in Wut bin. – Reich? Siehe, für so schlecht und niederträchtig halte ich mein Kind selbst nicht, daß es daran gedacht haben sollte. Siehe dich um – so weit du sehen kannst, war einst alles – alles mein; ich habe nichts mehr, als diese verfallenen Türme und eine Hufe Landes, wie der gemeinste Bauer, aber auch dieses soll diese Nacht noch hinfahren, in den Schuldturm soll man mich werfen, mich auspfänden, mein altes Wappen entzweischlagen, wenn ich je zugebe –«
»Oheim!« fiel ihm der Neffe erbleichend ins Wort: »Bedenken Sie sich zuvor, ehe Sie einen solchen Frevel aussprechen! Was kann dieser junge Mann dafür, daß sein Vater reich ist? beträgt er sich denn aufgeblasen? macht er Ansprüche auf seinen Reichtum? Ich sagte es ja vorhin nur so in der Übereilung.«
»Nein, das tun sie nicht die Willis«, antwortete nach einer Pause der Alte; »das ist noch ihre gute Seite. Aber das macht ihn nicht besser. Seine Grundsätze sind es, die ich hasse; er ist mein bitterster Feind!«
»Wie wäre dies möglich?« erwiderte Rantow beruhigend; »wie könnte er Ihr persönlicher Feind sein!«
»Was persönlicher Feind!« rief Thierberg heftiger, »solche Feindschaft kenne ich nicht, und mein Feind müßte ein anderer sein, als dieser Knabe; aber ein Todfeind bin ich all diesem Wesen, diesen Neuerungen, diesem Deutschtum, Bürgertum, Kosmopolitismus, und welche Namen sie dem Unsinn geben mögen, und dessen treuester Anhänger eben dieser junge Mensch da ist. Das ganze erste Viertel des neunzehnten Jahrhunderts hatte den verdammten Geschmack dieses Unwesens, und man wird sehen, wohin es im jetzigen kömmt, wenn diese Menschen und ihre Gesinnungen um sich greifen; aber, so wahr Gott lebt, man soll von dem letzten Thierberg nicht sagen können, daß er in seinen alten Tagen einem dieser Weltverbesserer die Hand zur Unterstützung gereicht hätte!«
»Aber, Oheim!« fiel Albert ein, dem es in diesem entscheidenden Augenblicke keine Sünde deuchte, gegen seine eigene Überzeugung zu sprechen, »gibt es denn in diesem Jahrhundert auch nur eine Familie, die nicht, wenn man sie einzeln durchginge, die verschiedensten Gesinnungen in sich schlösse? Wird denn der einzelne Mann dadurch schlechter, daß er eine andere Meinung hat, als wir? Ist nicht Protestant und Katholik in den Augen des Vernünftigen gleich viel wert? Denkt nicht der General selbst ganz verschieden von seinem Sohn?«
»Laß mir den Glauben aus dem Spiel, Neffe!« entgegnete jener; »darüber zu richten geht weder dich noch mich an. Aber dieser General vollends, der meinen Todfeind als Schutzpatron anbetet, und diesen Buonaparte für den heiligen Georg hält, der den Lindwurm des veralteten Jahrhunderts tötete; diesen in meiner Familie! Es würde mich töten.«
»Aber wissen Sie denn, ob auch der junge Willi Ihre Tochter liebt? Hat denn Anna irgend etwas gestanden?«
Der Alte sah seinen Neffen bei dieser Frage lange und erschrocken an; dann fuhr er nach einigem Nachsinnen gefaßter fort. »Nein! einer solchen Schmach halte ich sie nicht fähig; meinst du, meine Tochter werde sich in einen solchen – Menschen verlieben, ohne daß er sie zuvor mit tausend Künsten dazu verlockte? Nein! dazu ist sie mir noch immer zu gut; aber – ich will mir Gewißheit verschaffen!«
Er sprach es, und noch ehe ihn Rantow aufhalten konnte, eilte der alte Mann hinweg, um seine Tochter zur Rede zu stellen. Düster schaute ihm der Gast aus der Mark nach. »Wahrlich, wenn die Aktien so stehen, werde ich weder Brautführer noch Hochzeitgast in Thierberg sein«, sprach er, »der Alte müßte sich denn durch ein Wunder in einen Demagogen, oder der Demagoge in einen rechtgläubigen Verehrer der alten Reichsritterschaft verwandeln.«