Wilhelm Hauff
Novellen
Wilhelm Hauff

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11

Es hatte dem General Willi nicht geringe Mühe gekostet, von seinem Sohn das Unglück einer längeren Gefangenschaft abzuwenden. Sein Ansehen war zwar in der Hauptstadt jenes Landes, welchem sein Gut angehörte, durch den Wechsel der Verhältnisse und Meinungen nickt gesunken; man verehrte in ihm einen Mann von hohem Verdienst, militärischer Umsicht und Tapferkeit, und es gab manche, die ihn wegen seiner treuen und ausdauernden Anhänglichkeit an jenen Mann, der einst das Schicksal Europas in der Rechten getragen, bewunderten; es gab viele, die ihm, wenn sie auch diese Bewunderung nicht teilten, doch wegen der Beharrlichkeit und Charakterstärke, die er in den Tagen des Unglücks entfaltet hatte, wohlwollten. Dennoch mußte er sein ganzes Ansehen aufbieten, manche Türe öffnen, um seinem Sohn, den man des Verdachtes, mit Verdächtigen in Verbindung zu stehen, beschuldigte, nützen zu können.

Der General war ein Mann von zu großem Rechtsgefühl, als daß er, wenn er seinen Sohn schuldig glaubte, diese Schritte für ihn getan hätte. Aber es genügte ihm an der einfachen Versicherung seines Sohnes. »Ich teile«, hatte er ihm gesagt, als er verhaftet wurde, »ich teile im allgemeinen die Gesinnungen jener Männer, die man jetzt zur Untersuchung zieht, aber – ich teile weder ihre Pläne, noch die Ansichten, die sie über die Mittel zum Zweck haben. Ich habe nur gedacht, nie gehandelt, habe mir selbst gelebt, nicht mit andern, und Beschuldigungen, welche andere treffen mögen, werden nie auf mich kommen.« So war es denn gelungen, den jungen Willi auf so lange frei zu machen, als nicht stärkere Beweise, die gegen ihn vorgebracht würden, seine Anwesenheit vor den Gerichten notwendig machten, eine Schonung, die er nur der Fürsprache seines Vaters und dem Vertrauen verdankte, das man in die Bürgschaft des Generals Willi setzte.

Sie konnten sich beide wohl denken, welches Aufsehen dieser Vorfall in der Umgegend von Neckareck gemacht haben mußte; hätten sie in einer Stadt gewohnt, so würden sie sich wohl damit begnügt haben, ihren Bekannten von ihrer Rückkunft Nachricht zu geben; aber die Sitte auf dem Land fordert größere Aufmerksamkeit für gute Nachbarn; man mußte fünf oder sechs Familien im Umkreis von drei Stunden besuchen, mußte ihre Neugierde über diesen Vorfall umständlich befriedigen; kurz, man mußte sich zeigen, wie man sich etwa nach einer überstandenen Krankheit bei den Bekannten wieder zeigt und für ihre Teilnahme Dank sagt. Als aber der General mit seinem Sohn am dritten Tag nach ihrer Rückkehr nach Thierberg aufbrach, war es noch ein anderer Grund, als Höflichkeit gegen gute Nachbarn, was sie dorthin zog. Der junge Willi mochte in den einsamen Wochen seiner Gefangenschaft Zeit gefunden haben, über sein Leben und Treiben nachzudenken, er mochte gefunden haben, daß ihn jene politischen Träume, welchen er nachgehängt hatte, nicht befriedigen könnten, daß es ein höheres, reineres Interesse gebe, wodurch sein Leben Bedeutung und Gehalt, seine Seele Ruhe und Zufriedenheit gewänne.

Der General lächelte, als ihm Robert sein Verhältnis zu Anna entdeckte, und die Wünsche auszusprechen wagte, die sich mit dem Gedanken an die Geliebte verbanden. Er lächelte und gestand seinem Sohn, daß er längst dieses Verhältnis geahnet, daß er gewünscht habe, das unruhige Treiben des jungen Mannes möchte eine festere Richtung annehmen. »Ich kenne dich«, sagte er ihm, »wärest du zu jener Zeit jung gewesen, wo wir in Europa umherzogen, um Krieg zu führen, so hätte deine Phantasie mit aller Kraft die großartigen Bilder des Krieges ergriffen, ich hätte dir den ersten Raum geöffnet, du selbst hättest dann deine Laufbahn gemacht. Daß du in diesen stillen Feiertagen des Jahrhunderts nicht dienen willst, kann ich dir nicht übelnehmen. Des Umherschweifens in der Welt bist du satt, das Leben in den Salons genügt dir nicht, so bleibe bei mir; besorge an meiner Statt meine Güter, ich kann dabei nur gewinnen; ich gewinne Zeit für mich und meine Erinnerungen, gewinne dich, und –« setzte er mit einem freundlichen Händedruck hinzu, »wenn du anders deiner Sache gewiß bist, gewinne ich Anna.«

Sie besprachen dieses Kapitel auch auf dem Weg nach Thierberg wieder, und Robert gab seinem Vater Vollmacht, bei dem Alten um Anna für ihn zu werben. Sie verhehlten sich nicht, daß eine nicht unbedeutende Schwierigkeit im Charakter des alten Thierberg liegen könne; ihre Gesinnungen hatten so oft die seinigen beinahe feindlich durchkreuzt; man hatte sich wegen Meinungen so oft gezankt, man war oft unzufrieden, beinahe verstimmt auseinandergegangen; aber sie trösteten sich damit, daß er doch nie persönliche Abneigung gezeigt habe, und die Vorteile, die für Thierberg aus dieser Verbindung hervorgingen, erschienen so bedeutend, daß der General, als sie über die Zugbrücke ritten, sich schon im Geiste als Vater der schönen Anna zu sehen glaubte, und vertrauungsvoll auf das Thierbergische Wappen über dem alten Portal zeigte: »›Mut gewinnt‹, führen sie als Symbol im Wappen«, flüsterte er seinem Sohn zu, »das fügt sich trefflich, denn weißt du noch, was der Wahlspruch deiner Ahnen war?«

»Der Will' ist stark!« rief der junge Willi, freudig errötend. »Mut gewinnt – und der Will' ist stark!«

Im Schloßhof empfing Rantow die Angekommenen; er entschuldigte seinen Oheim mit einem kleinen gichtischen Anfall, der ihn verhindere, die steile Treppe herabzusteigen und seinen Gästen entgegenzugehen. Er sagte dies schnell und nicht ohne einige Verlegenheit, die er hinter einem Schwall von Glückwünschen für Robert Willi zu verbergen suchte. Nach den Verhältnissen, die gegenwärtig in den alten Mauern von Thierberg herrschten, konnte nicht leicht etwas störender wirken, als dieser Besuch. Man hatte zwar den Vetter aus der Mark nicht mit in das Geheimnis gezogen; der Vater schien es zu bereuen, daß er sich nur so weit gegen seinen Neffen ausgesprochen habe, und Anna hatte mit ihm seit einigen Tagen nie mehr über Willi gesprochen, sei es auf ein Verbot ihres Vaters, sei es aus Argwohn, er möchte dem Alten ihr Geheimnis verraten haben. Seit jenem Abend jedoch, wo die Rückkehr Roberts angekündigt worden war, herrschte eine Spannung, die um so drückender wurde, da die ganze Gesellschaft zwar aus dreierlei Parteien, aber – nur aus drei Personen bestand.

Anna sprach wenig, hielt sich meist auf ihrem Zimmer auf, wohin Albert noch niemals eingeladen worden war; der Alte war mürrisch, aufbrausender als sonst gegen seine Diener, gegen seinen Gast herzlich, wie zuvor, aber ernster und einsilbiger, gegen seine Tochter kalt und gleichgültig. Er trank, trotz der bittenden Blicke, die Anna zuweilen nach ihm hinzusenden wagte, mehr Wein, als gewöhnlich, schimpfte dann auf die ganze Welt, verschlief den Nachmittag, und ließ sich abends den Amtmann holen, um ein Spiel mit ihm zu machen. Dann setzte sich Anna mit ihrer Arbeit in ein Fenster, ließ sich von dem Vetter etwas vorlesen, aber Tränen, die hin und wieder auf ihre Hand herabfielen, zeigten dem jungen Mann, wie wenig ihr Geist mit dem beschäftigt sei, was er eben las. Der Anfall von Gicht, der über den Alten kam, machte die Sache womöglich noch schlimmer; man sah, wie er alle Kraft aufbot, seine Schmerzen zu unterdrücken, nur um der natürlichen Hülfe seiner Tochter weniger zu bedürfen, und wenn Fälle eintraten, wo er diese Hülfe nicht abweisen konnte, wenn das schöne Kind bleich und mit Tränen im Auge vor ihm kniete, um seine Beine in warme Tücher zu hüllen, da wandte er sich ab, pfiff irgendein altes Liedchen, nannte sich einen Mann, der bald in die Grube fahren müsse, und fand es schön, daß doch ein Enkel der Thierberge zugegen sein werde, wenn man den letzten dieses Namens beisetze.

Rantow wußte zwar, daß sein Oheim das Gastrecht gegen seine Nachbarn nicht verletzen werde, aber diese letzten Tage fielen ihm schwer auf die Seele, als er die Fremden die Treppe hinanführte, und er sah voraus, daß die beiden Willis gewiß nichts dazu beitragen würden, die Verstimmung aufzulösen.

Der Empfang war übrigens herzlicher, als er sich gedacht hatte; es gibt eine gewisse höfliche Freundlichkeit, die man sich angewöhnen kann, ohne sich dessen bewußt zu werden. Besonders auffallend erscheint diese Eigenschaft, wenn sich Männer begrüßen, von welchen wir wissen, daß sie keiner Heuchelei fähig sind, und die dennoch, sei es durch Meinungen, sei es durch Verhältnisse, sich feindlich gegenüberstehen. So schien es auch der alte Thierberg nicht über sich vermögen zu können, sein gewohntes: »Ah! schön, schön! Freut mich – Platz genommen!« diesmal mit einem kälteren und förmlicheren Gruß zu vertauschen, und die fünfhundertjährige Gastfreundschaft dieser Burg schien die unwillkommenen Gäste in ihre schützenden Arme zu schließen. Ein Blick von Anna hatte dem jungen Willi gesagt, was hier vorgegangen sei; er fand sie blaß, ihre Stimme nicht so fest, wie sonst, es lag Kummer um den holden Mund, und ihre Augen schienen weicher geworden zu sein. Er pries im stillen ihren richtigen Takt, daß sie mehr zu dem General sprach, als zu ihm, denn er hätte, von diesem Anblick ergriffen, nicht Fassung genug gehabt, Gleichgültiges mit ihr zu reden. Rantow, der einen ganz andern Auftritt erwartet hatte, wunderte sich, daß auch in diesem »ehrlichen Schwaben«, wo ihm sonst alles so offen und ehrlich deuchte, vier Menschen, die sich so nahestanden, ein so falsches Spiel unter sich spielen könnten, ihre Gedanken, ihre Leidenschaften unter einer so ruhigen Hülle zu verdecken wüßten. Er sah staunend bald den jungen Willi und den alten Thierberg an, die ganz ruhig und abgemessen sich über die Ereignisse der letzten Wochen besprachen; bald hörte er auf das Gespräch zwischen dem General und der Geliebten seines Sohnes, die dasselbe Thema, nur mit Veränderungen, abhandelten, wobei übrigens Anna eine solche Ruhe an den Tag legte, daß sie nie hastig fragte, von nichts mehr, als schicklich, ergriffen war. Der General wandte sich im Gespräch, und ging mit ihr langsam im Saal auf und ab, er stellte sich endlich, wie zufällig, in einen tiefen Fensterbogen, und Albert entging es nicht, daß er sich dort schnell zu dem schönen Mädchen herabbückte, ihr etwas zuflüsterte, was eine tiefe Röte auf ihre Wangen jagte; sie schien erschrocken, sie faßte seine Hand, sie sprach leise aber heftig zu ihm, aber er – lächelte, schien sie zu beruhigen, zu trösten, und so stolz und zuversichtlich war seine Stirne, waren seine Züge, als müßte er in diesem Augenblick seine Division ins Feuer führen, um den schwankenden Sieg zu entscheiden.

Der Gast aus der Mark ahnete, daß dort in jenem Fensterbogen ein Entschluß gefaßt oder mitgeteilt worden sei, der auf Annas Schicksal sich beziehe, und das Herz pochte ihm, wenn er an den eisernen Trotz seines Oheims dachte. Die Diener hatten indessen Wein herbeigebracht, man setzte sich in eines der weiten Fenster, und wenn nur die Gemüter der fünf Menschen, die um den kleinen Tisch saßen, weniger befangen waren, der schöne Tag, der Anblick des herrlichen Tales, das vor ihnen lag, hätte sie zu immer höherer Freude stimmen müssen.

Der General, dem es peinlich sein mochte, daß das Gespräch nach und nach zu stocken anfing, bat Anna um ein Lied, und ein Wink ihres Vaters bekräftigte diese Bitte. Man brachte ihre Gitarre herbei, der junge Willi stimmte die Saiten, aber waren es die Worte des Generals, war es der Anblick ihres Vaters, war es die lang ersehnte Nähe des Geliebten, was sie verwirrte, sie errötete und gestand, daß sie in diesem Augenblick kein passendes Lied zu singen wüßte. Man schlug vor, man verwarf, bis Rantow beifiel, wie man einst in Berlin eine berühmte schöne Sängerin von einer ähnlichen Verlegenheit befreite; er schnitt kleine Zettel und ließ jeden ein Lied aufschreiben; dann faltete er die Papiere geschickt und zierlich zusammen, schüttelte sie als Lose durcheinander und ließ die Sängerin eines wählen.

Sie wählte, sie öffnete das Los und errötete sichtbar, indem sie den General besorgt anblickte. »Das hat niemand anders als Sie geschrieben«, sagte sie, »warum denn gerade dieses Lied? Es ist nicht immer politisch, ein politisches Lied zu singen!«

»Wenn es nun aber mein Lieblingslied ist?« erwiderte Willi; »ich appelliere an Ihren Vater; stand nicht die Wahl durchaus frei?«

»Gewiß!« antwortete der Alte, »du singst Anna; und wenn das Lied Politik enthalten sollte – nun, erdichtete Politik kann man ja immer noch ertragen.«

Sie nickte schweigend Gehorsam zu; aber von jenem Augenblick an, wo sie mit einem kurzen, aber kräftigen Vorspiel den Gesang anhob, schien auf ihren lieblichen Zügen eine Art von Begeisterung aufzugehen; eine zarte Röte spielte auf ihren Wangen, ihre Augen glänzten, und um den schönen Mund, der die Töne so voll und rund hervorströmen ließ, spielte anfangs ein Lächeln, das mehr und mehr in Wehmut überging. Es war eine französische Ode, aus welcher sie einige Stellen vortrug; die Melodie, bald heiter, ermunternd, bald erhaben und triumphierend, bald ernst und getragen schmiegte sich an das wechselnde Versmaß und den Gedankengang der Strophen, und so süß war ihre Stimme, so ausdrucksvoll ihr Vortrag, so hinreißend ihr ganzes Wesen, das mit dem Gesang sich zu verschmelzen schien, daß die Männer, wenn sie gleich über den Gegenstand die verschiedensten Gesinnungen hegten, doch von dem Strom der Töne mit fortgerissen wurden. Wie erhaben war ihr Vortrag, als sie sang:

»Cachez ce lambeau tricolore . . .
C'est sa voix: il aborde, et la France est à lui.«

Ernst, beinahe traurig, doch nicht ohne Triumph, fuhr sie fort:

»Il la joue, il la perd; l'Europe est satisfaite
Et l'aigle, qui, tombant aux pieds du Léopard,
Change en grand capitaine un héros de hasard,
Illustre aussi vingt rois, dont la gloire muette
N'eût jamais retenti chez la postérité;
    Et d'une part dans sa défaite,
Il fait à chacun d'eux une immortalité.«Sept Messéniennes nouvelles par M. C. Delavigne. 1re Le Départ.

Als sie geendet hatte, legte sie die Gitarre nieder und ging, während die Männer noch in verlegener Stille saßen, schnell hinweg.

»Il la joue, il la perd«, sprach der alte Thierberg lachend, »eine große Wahrheit! und dieser Dichter, wer er auch sein mag, konnte jenen Mann nicht besser schildern; seine ganze Größe bestand ja nur darin, daß er das rouge et noir so hoch als möglich spielte, und der alte Satz, daß der kaltblütigste Spieler endlich gewinnt, bestätigte sich an ihm. Der Leopard hat doch die Bank gesprengt, und Wellington wird es eben darum keinen Kummer machen, wenn man ihn héros de hazard nennt.«

»Wie lächerlich sind solche Hyperbeln«, rief Rantow, »als ob zwanzig Könige ihren Nachruhm, ihre Unsterblichkeit diesem Sommerkönig zu verdanken hätten! Was uns betrifft wenigstens, so wird man eingestehen müssen, daß der Ruhm der preußischen Waffen älter ist, als der des sogenannten Siegers von Italien, und nicht erst von der großen Nation geadelt werden mußte.«

»Und dennoch«, erwiderte der General mit großer Ruhe, »dennoch wird man einst nicht sagen, es war Buonaparte, der zur Zeit dieses oder jenes Königs lebte – man wird sagen, Herr von Rantow, sie waren Zeitgenossen Napoleons; doch was den Obergeneral des englischen Heeres in der Bataille von Mont St. Jean betrifft, so möchte es die Frage sein, ob ihm der Titel héros de hazard sehr angenehm ist; so viel ist wenigstens gewiß, daß er jene Schlacht nicht gewonnen, sondern nur – nicht verloren hat.«

»Es ist ein Glück für die Welt«, bemerkte Thierberg lächelnd, »daß man Ihren Satz umkehren kann, und daß er dann noch höhere Wahrheit enthält; Ihr Herr und Meister hat jene Schlacht zwar nicht gewonnen, aber desto gewisser verloren

»Er hat sie verloren«, antwortete der General; »was die Welt damit verlor, will ich nicht aussprechen, aber jene Strophe, womit Anna ihren Gesang schloß, drückt aus, wer noch am Abend jenes unglücklichen Tages, als Cäsar und sein Glück von der Übermacht zerschmettert wurden, als meine braven Kameraden auf Mont St. Jean den letzten Atem aushauchten – der Größere war.«

»Der Größere! und dies können Sie noch fragen, General?« entgegnete heftig der junge Mann aus der Mark. »Als die Strahlen der Abendröte über jenes denkwürdige Feld streiften, beleuchtend die Schande Frankreichs und sein verwirrtes Heer, als blutend, aber unbesiegt, das englische Heer jene Hügel deckte und Deutschlands Völker stolzen Schrittes in die Ebene herabstiegen, um den Kampf siegend zu entscheiden – denken Sie sich, ich bitte, jenen erhabenen Moment, und sagen Sie mir, wer da der Größere war?«

»Der Gott des Zufalls«, erwiderte der General. »Mächtiger war er wenigstens als jener alte Held, der auch noch an seinem letzten Schlachttage zeigte, welche mächtige Kluft zwischen dem Genie und roher, wohlgenährter, tierischer Kraft befestigt sei. Er ist gefallen, nicht, weil ihm England oder Deutschland gewachsen war, sondern, weil er früher oder später fallen mußte, weil er einen Vertilgungskrieg gegen sich selbst führte, der seine Kräfte aufrieb, oder können Sie mir beweisen, daß an jenem Tage von Waterloo das Genie des englischen Feldherrn oder gar Ihres Blücher ihn besiegte?«

»Seien wir gerecht«, nahm der junge Willi das Wort; »geben wir zu, daß ihm keiner seiner militärischen Gegner gewachsen war, so beweist dies noch immer nicht für jene innere Größe, für jene moralische Erhabenheit, welche die Mitwelt mit sich fortreißt, ihr Jahrhundert bildet, und Segen noch auf die späte Nachwelt bringt. Napoleon war ein großer Soldat – aber kein großer Mensch.«

»Sohn!« erwiderte der General, »wie kannst du in irgendeinem Fach des Wissens groß, größer als sonst ein Mann des Jahrhunderts werden, ohne ein großer Mensch zu sein? Die Maschine ist es nicht, nicht dieser Körper ist es, was sie groß macht, es ist der Geist. Jene veralteten Formen Europas, von klugen Männern vor tausend Jahren ausgedacht, stürzten zusammen, weil es Formen waren, die der Geist verlassen hatte; sie brachen ein vor den Blitzen seines Genies, sie hatten das Schicksal jener Leichname, die in Grüften eingeschlossen, in ihren fürstlichen Leichenprunk gehüllt, Jahrhunderte überdauern, weil sie die Kerkerluft ihres Grabes nicht vermodern läßt. Berühre sie mit lebendiger Hand, hauche sie an mit freiem Odem und – sie zerfallen in Asche!«

»Dies beweist nicht gegen mich«, sagte Willi –

»Und wo ist denn das große und feste Reich, das der große Mann gründete?« unterbrach ihn Thierberg; »Sie vergleichen unsere schönen, alten Institutionen, Gott möge es Ihnen verzeihen, mit einem Leichnam, aber was war denn jener korsische Kaiserthron, was sein Staatsgebäude, als ein Kartenhaus?«

»Ich habe nie gesagt, daß Napoleon der Mann war, einen großen Staat zu gründen«, antwortete der alte Willi; »Frankreich war unter ihm ein Lager, dessen erste Posten die Rheinbundstaaten bildeten. Er hätte vielleicht ein Ende genommen, das seiner oder Frankreichs unwürdig gewesen wäre, wenn er einige Jahre in beständiger Ruhe und Frieden regiert hätte.«

»So war also das Ende, welches er nahm, seiner würdig?« fragte Rantow lächelnd.

»Nicht der Platz, auf welchem wir stehen«, versetzte der General, nicht ohne Wehmut, »nicht der Raum, sei er groß oder klein, gibt uns Würde oder Schmach. Wir sind es, die uns und unseren Posten adeln oder schänden. Die Welt hat gelacht und gehöhnt, als man den größten Geist des Jahrhunderts auf eine öde Insel verbannte. Dort, an der höchsten Felsenspitze, haben sie den alten Adler angeschlossen, wo er nur in die Sonne, auf den weiten Ozean und in einige treue Herzen sah. Aber man hat nicht bedacht, wie vielen Stoff zum Lachen man der Nachwelt gebe; es war nicht Strafe, was ihn dorthin verbannte, wer in Europa konnte ihn strafen? Es war – Furcht. So mußte es kommen, daß man in ihm noch immer den Gefürchteten sah; und manche Herzen, die sich von ihm abgewendet hatten, fingen an, ihn wieder zu lieben; pflegt doch das Unglück die Menschen zu versöhnen und – es war ja nichts an seine Stelle getreten, was ihn hätte vergessen machen können.«

»Glauben Sie etwa, Herr Nachbar«, sagte Thierberg, »es hätte wieder ein solcher Attila auftreten müssen, nur um die Zeitungsschreiber zu unterhalten? Vergessen wird man wohl jenen Namen noch lange nicht, aber – man wird ihn verdammen.«

»Mancher hat ein persönliches Recht dazu, und ich kann ihn darum nur beklagen, nicht entschuldigen, daß sein Gang über die Erde nicht die gebahnte Straße ging. Aber man wird auch mit andern Gefühlen sich seiner erinnern. Die Großen der Erde scheinen zwar nicht viel von ihm gelernt zu haben, desto mehr vielleicht die Kleinen. Er hat sich seine Bahn so erhaben aufgerissen, als Alexander, er hat sie verfolgt wie Cäsar, man hat ihm gedankt, wie dem Hannibal, auf jenem Felsen hat er gelebt, wie Seneca, und seine letzten Tage waren eines Sokrates würdig.«

»In diesem Punkt werden wir nimmer einig«, erwiderte der alte Thierberg; »was mich betrifft, so kömmt er mir vor, als habe er seine Laufbahn eröffnet wie ein Aventurier, habe sie verfolgt, wie ein Räuber, habe mit seinem Raub verfahren, wie ein verzweifelter Spieler, und habe geendet, wie ein – Komödiant!«

»Wir sind noch nicht seine Nachwelt«, bemerkte Robert Willi. »Erst wenn alle Parteien, die persönliches Interesse aussprachen, von der Erde verschwunden sind, dann erst wird man mit klarem Auge richten. Mein Held ist er nicht, aber in seinen italienischen Feldzügen erscheint er wie ein Wesen höherer Art, und dies wenigstens werden auch Sie zugeben, Herr von Thierberg.«

»Es ist möglich«, versetzte der Alte, »er hat damals mein Staunen, meine Bewunderung erregt; aber wie schnell wurde ich von meiner Vorliebe geheilt! Wenn er damals den Bourbons den Thron zurückgegeben hätte – die Macht hatte er dazu – so wäre er mir wie ein Engel erschienen.«

»Dies war wegen seiner Armee, die anders dachte, unmöglich«, antwortete der General.

»Sie erinnern sich«, fuhr der Alte fort, »daß ich Ihnen öfter von einem französischen Kapitän erzählte, der mich in der Schweiz aus großer Verlegenheit rettete; – der einzige Franzose, den ich achte, und für den ich noch jetzt alles tun könnte. Mit diesem sprach ich damals auch über diesen Punkt. Ich sagte ihm, daß Frankreich ohne Rettung verlorengehe, wenn es in der ewigen, sich immer von neuem gebärenden Revolution fortfahre. Nur ein König an der Spitze könne es retten. – Er gab es zu; er sagte mir, daß die Bourbons eine große Partei in Paris hätten und daß mein Gedanke vielleicht erfüllt würde. Ich fragte ihn, wie der Konsul Buonaparte, der damals an der Spitze stand, darüber dächte. ›Er äußert sich nicht‹, erwiderte mir der Kapitän, ›aber wenn ich ihn recht verstehe‹, setzte er lächelnd hinzu, ›so wird Frankreich bald nur einen Meister haben.‹ Ich deutete dies Wort meines neuen Freundes damals auf die Zurückkunft der Bourbons, leider ist es an Buonaparte selbst in Erfüllung gegangen.«

Der junge Willi war schon zu Anfang dieser Rede aufgestanden; er hatte Annas Vater die Geschichte von seinem Kapitän schon einige dutzendmal erzählen gehört, und sein Blut wallte in diesem Augenblick noch zu unruhig, als daß er sie von neuem anhören mochte; er ging mit zögernden Schritten im Saal auf und nieder; als aber der alte Thierberg im Gespräch mit dem General auf die jetzigen Verhältnisse Frankreichs einging, ein Punkt, über den sie niemals in Streit gerieten, gesellte sich auch Rantow zu dem jungen Willi. Er ließ sich von ihm die Geschichte der letzten Wochen noch einmal wiederholen, führte ihn unbemerkt in das nächste Zimmer und dann auf die breite Hausflur. Dort hielt er plötzlich inne und flüsterte dem erstaunten jungen Mann ins Ohr: »Sie dürfen vor mir kein Geheimnis mehr haben; Anna hat mir alles entdeckt und auf meinen Beistand können Sie sich verlassen.« Noch einen Augenblick zweifelte Robert, weil ihm diese Nachricht zu neu und unerwartet kam; als aber Rantow ins einzelne einging und ihm erzählte, was in jener Schreckensnacht vorgefallen sei, als er ihm entdeckte, wie ungünstig gegenwärtig die Verhältnisse seien, da stand jener nicht länger an, die Hülfe, die ihm geboten wurde, anzunehmen, er bat Albert, ihm, wenn es möglich wäre, Gelegenheit zu verschaffen, mit Anna zu sprechen.

Der Gast aus der Mark dachte einige Augenblicke nach, ob er dies möglich machen könnte. Anna hatte ihn selbst zwar nie auf ihr Boudoir im Turm eingeladen, aber er hoffte in solcher Begleitung nicht unwillkommen zu sein; das einzige, was ihn hätte abhalten können, war die Furcht vor dem Zorn seines Oheims, im Fall diese Zusammenkunft entdeckt würde, aber die Lust, wo er nicht selbst die Rolle übernehmen konnte, wenigstens die Intrige zu unterstützen, siegte über jede Bedenklichkeit; er winkte dem jungen Willi, ihm zu folgen. Der Gang nach Annas Turm war ihm bekannt. Nach der Lage ihrer Fenster mußte ihr Gemach noch zwei Stockwerke höher liegen, als der Saal. Sie stiegen eine enge, steile Treppe von Holz hinan, die unter jedem Tritte, so behutsam sie auch stiegen, ächzte. Zum nicht geringen Schrecken begegnete ihnen auf dem ersten Stock der alte Hanns, der sie verwundert ansah. Albert winkte seinem Gefährten, nur immer voranzugehen, er selbst nahm, ohne in seiner Bestürzung zu bedenken, ob es klug sein möchte, den alten Diener auf die Seite: »Hanns!« sagte er, »wenn du deinem Herrn ein Wort –« »Oh«, erwiderte jener schlau lächelnd, »da hat es gute Wege, sowenig als in jener Nacht, da Sie mich beinahe in den Neckar warfen, ich bin so still wie ein toter Hund.« Beruhigt folgte Rantow dem Liebhaber; sie hatten bald das Ende der Treppe erreicht und standen nun auf einer Art von Vorsaal; die Reinlichkeit und Zierlichkeit, die hier herrschte, ließ ahnen, daß man sich nicht mehr weit von Annas Gemach befinde. Zwei Türen gingen auf diesen Vorplatz; sie wählten auf gutes Glück die nächste, pochten an – keine Antwort. Sie pochten wieder; jetzt tat sich die zweite Türe auf, und Anna erschien auf der Schwelle.

Sie errötete, als sie die beiden jungen Männer sah, doch, als habe dieser Besuch nichts Auffallendes an sich, lud sie dieselben durch einen freundlichen Wink ein, näher zu treten. »Ihr kommt wohl um die schöne Aussicht von meinem Turm zu betrachten?« sagte sie; »jetzt erst fällt mir bei, daß du nie hier warst, Albert, aber so ganz bin ich schon an diesen herrlichen Anblick gewöhnt, daß es mir nicht einmal einfiel, dich hieher einzuladen.«


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