Wilhelm Hauff
Novellen
Wilhelm Hauff

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Es entstand eine Pause, als Palvi geendet hatte; es schien niemand zuerst jene Stille stören zu wollen, die unter zwei oder drei heilig und rührend, in größeren Gesellschaften peinigend ist. Doch je erhabener das Gefühl ist, welches zu einer solchen Ruhe zwingt, desto ängstlicher sind die Menschen, mit etwas Gemeinem diese Nachklänge tieferer Empfindungen zu unterbrechen. Sie rennen dann auf allen vieren durch die Speisekammer ihrer Erinnerung, um etwas Feines, Eingemachtes, Kandiertes vorzusetzen, statt ihre frischen natürlichen Gefühle sprechen zu lassen.

»Dieser ganze Roman«, lispelte endlich eine Dame, deren Blässe und feuchte Augen auf zarte Nerven schließen ließen, »kommt mir vor, wie jener Ausspruch Jean Pauls: ›Wie manche stille Brust ist nichts, als der gesunkene Sarg eines erblaßten, geliebten Bildes.‹ Dieser Hüon liebt gewiß unglücklich, und darum gefällt er sich in diesem tragischen Geschick.«

»Gerade dies kommt mir überaus komisch vor«, bemerkte der Hofrat, dem Neid und Verdruß um die Nasenflügel spielten; »dieser Mensch hat zu wenig Tiefe, zu wenig Empfindung, um die Wehmut, das Unglück zu zeichnen, doch ich habe mich an einem andern Ort hinlänglich darüber ausgesprochen. Gewiß, es ist so, wie ich sage. Es steht ja gedruckt, mein Urteil«, setzte er hinzu, indem er sich vornehm in den Stuhl zurücklehnte.

»Doch glaube ich, auch gegen ein gedrucktes Urteil findet noch Appellation statt«, sagte der junge Rempen mit gleichgültiger Miene.

»Wieso?« rief der Hofrat errötend.

Rempen war etwas betroffen, aber die muntern Augen seines Oheims, der hinter dem Stuhl des Hofrates stand, winkten ihm, fortzufahren. »Ich meine, ich habe so etwas gelesen, das Ihr Urteil, bester Hofrat, völlig umstieß«, entgegnete er; »übrigens ist ein gedrucktes Urteil immer nur das Urteil eines einzelnen, und dem einzelnen muß erlaubt sein, dagegen zu streiten. Ich zum Beispiel finde diesen Roman besser, als Sie ihn gemacht haben. Auch glaube ich, Tiefe des Gefühls müsse dem abgehen, der dies in den ›Letzten Rittern von Marienburg‹ nicht findet.«

Der Oheim hatte solches wohl nicht geahnet, denn er und die ganze Gesellschaft schienen erstaunt über die Kühnheit des Stallmeisters.

»Solche historische Romane«, nahm der Professor das Wort, »sind nur Fabrikarbeiten. Die Form ist gegeben, und wie leicht, wie sicher läßt sich diese Form von jedem handhaben! Nehmen Sie irgendeinen Lappen der Welthistorie, zerreißen ihn in kleine Fetzen und kleiden die hergebrachten Personen von A bis Z darein, so haben Sie einen historischen Roman. Die weitere Entwicklung ist leicht, besonders wenn man es sich so leicht macht, wie dieser Hüon, und nur genugsam Floskeln eingestreut sind; wenn das Tränentuch häufig als Panier aufgepflanzt wird, so kann der Eindruck nicht verfehlt werden.«

»Und doch deucht mir«, erwiderte Palvi, »es ist bei weitem schwerer, einen Roman zu dichten, der den Forderungen einer wahren, vernünftigen und billigen Kritik entspricht, als ein Drama zu schreiben.«

»Und was nennen Sie denn eine vernünftige und billige Kritik, Herr Referendärius?« fragte Doktor Zundler mit ungemein klugem und spöttischem Gesicht.

»Man muß ein Buch«, erwiderte Palvi mit großer Ruhe, »man muß besonders ein Gedicht zuerst nach den Empfindungen beurteilen, die es in uns hervorruft, denn auf Gefühl ist ja ein solches Werk berechnet; es soll angenehm unterhalten, durch den Wechsel freudiger und wehmütiger Szenen befriedigen. Und dann erst, wenn unser Herz darüber entschieden hat, daß das Buch ein solches sei, das unsere Gefühle erhoben, befriedigt hat, dann erst erlaube man dem Verstand, sein Urteil darüber zu fällen, und ihm bleibt es übrig, nachzuweisen, was in Anordnung oder Stil gefehlt ist.«

»Da müßte man am Ende alle Herzen abstimmen lassen«, sagte der Hofrat mitleidig lächelnd, »müßte umherfragen: hat's gefallen oder nicht? ehe man ein öffentliches Urteil fällt. Aber dem ist nicht so; unsere Journale waren es von jeher, denen zu loben oder zu verdammen zustand, und der gebildete, geläuterte Geschmack ist es, der dort richtet.«

»Überhaupt dächte ich«, setzte Doktor Zundler mit zärtlichem Seitenblick auf Elisen hinzu, »man kann über Dinge dieser Art in Gesellschaft eine gebildete Dame mit Vergnügen hören, wie schon Goethe im ›Tasso‹ sagt, aber ein öffentliches Urteil müssen nur Leute vom Fach fällen, und nur Leute vom Fach können dagegen opponieren.«

»Und halten Sie sich etwa für einen Mann vom Fach?« fragte Palvi mit großem Nachdruck.

Der Doktor verbarg seinen Unmut über diese Frage nur mühsam hinter einem lächelnden Gesicht. »Ich denke, die Welt zählt mich zu Deutschlands Dichtern«, sagte er.

»Die Welt«, antwortete der Referendär, »die betrogene Welt, aber nicht ich; sowenig als ich meinen Dekopisten für ein Genie halte.«

Die Gesellschaft fiel aus ihrer Spannung in eine sonderbare Bewegung. Die Damen sahen unmutig auf Palvi, ein Teil der Männer lachte über des Doktors auffallenden Mangel an Fassung, ein anderer Teil mißbilligte laut solche Reden in einer guten Gesellschaft.

»Herr von Palvi«, rief endlich Zundler bebend, man wußte nicht, ob vor Wut oder Schrecken, »wie soll ich Ihre sonderbaren Reden verstehen?«

»Ja, ja, Doktor«, sagte der Stallmeister laut lachend, »auch mit meiner Bewunderung hat es ein Ende; man sagt, Sie haben sich Ihre Gedichte und sonstigen schönen Sachen machen lassen.«

»Machen lassen?« fragte der Chorus der Literatoren mit Bestürzung.

»Hat sie machen lassen?« rief die Gesellschaft.

»Wer wagt, dies zu sagen?« schrie der Doktor, indem er bleich und atemlos aufsprang.

»Nun, leider derjenige selbst, der sie Ihnen verfertigt hat«, antwortete Rempen mit großer Ruhe, »der Magister Bunker; er logiert oben in Ihrem Hause.«

Der entlarvte Dichter versuchte noch einige Worte zu sprechen; er war anzusehen, wie der Kopf eines Enthaupteten; die Augen drehen sich noch, die Lippen scheinen Worte zu sprechen, aber der Geist ist entflohen, der diesen Organen Leben gab. Eilig drängte er sich dann durch den Kreis, stürzte nach seinem Hut, und verließ den Saal und die vor Verwunderung verstummte Gesellschaft.

»Ist es denn wahr?« sprach endlich die von Angst und Sorge erbleichte Elise, indem sie den Stallmeister sehr ernst ansah.

»Gewiß, mein Fräulein!« erwiderte dieser lächelnd; »ich würde der Gesellschaft diese Szene erspart haben, aber ich war zu tief über die freche Stirne erbittert, womit dieser Mensch mich und Sie alle hinterging. Doch hören Sie von dem wunderlichen Mann, der ihm alles dichtete.«

Man setzte sich schweigend, und Rempen erzählte; während seiner Erzählung schlich sich der Redakteur der »Blätter für belletristisches Vergnügen« aus dem Saal, ihm folgten seine Genossen, beschämt und ergrimmt über sich, den Doktor und die ganze Welt. Der Gesellschaft aber gereichte die Erzählung des Stallmeisters zu nicht geringem Vergnügen. Die gute Stimmung war wieder hergestellt, der Punsch, den der alte Rempen als Nachsatz von gestern gab, löste die Zungen, man fühlte sich weniger beengt, seit die öffentlichen Schiedsrichter hinweggegangen waren, man sprach allgemein das Lob des vorgelesenen Romans aus. Auch die Toasts wurden nicht vergessen, und als Julius von Rempen die Gesundheit aller wahrhaften Dichter und ihrer gründlichen Kritiker ausgebracht hatte, wagte es Elise mit glänzenden Augen, aber tief errötenden Wangen, die Gesellschaft aufzufordern, auf das Wohl des neuen Hüon und »Der letzten Ritter von Marienburg« zu trinken.

 

Elise hatte dem Stallmeister, als er beim Nachhausefahren neben dem Wagen ritt, erlaubt, sie den andern Tag zu besuchen; er kam, er fand sie allein und gütiger gegen ihn gesinnt, als je. Sie neckte ihn über seine Eingriffe in die literarische Welt und riet ihm, nie etwas drucken zu lassen, denn er habe alle Rezensenten gegen sich aufgebracht.

»Und sind denn nicht auch Sie mir einige Minuten gram gewesen«, fragte er lächelnd, »weil es einer Ihrer Freier war, den ich entlarvte?«

»Einer meiner Freier?« fragte sie hocherrötend, »Zundler? Sie irren sich.«

»Oh, Sie schenkten ihm oft ein geneigtes Ohr«, fuhr er fort, »verabschiedeten mich oft mitten im Gespräch, um auf die Worte dieses großen Dichters zu lauschen!«

»Gewiß nicht, Rempen!« antwortete sie verlegen. »Und einer meiner Freier, sagten Sie? als ob ich deren viele hätte!«

»Ich kenne wenigstens einige«, erwiderte er mit lauerndem Blick.

»Und wen?«

»Zum Beispiel Palvi.«

»Palvi!« rief sie erbleichend. »Was wollen Sie mit Palvi? Ich kenne ihn nicht.«

»Elise«, erwiderte der Stallmeister sehr ernst, »Sie kennen ihn. Der Zufall ließ mich vorgestern hören, daß Sie ihm selbst sagten, wie gut Sie ihn kennen. Sie lieben ihn.«

»Nimmermehr!« rief sie mit glühendem Gesicht. »Er ist ein Abscheulicher! Glauben Sie, ich werde einen Elenden lieben, der – mein Kammermädchen anbetet?«

»Elise! Palvi?«

»Ja, ich gestehe es«,flüsterte sie, in Tränen ausbrechend, »Ihnen gestehe ich es, es gab eine Zeit, wo ich für diesen Menschen alles hätte tun können. Ich kannte ihn noch aus meiner Kindheit und auch später, er war mir wert. Aber hören Sie: schon oft hatte mir mein eingebildetes Kammermädchen von einem schönen Herrn erzählt, der sie immer anrede, ihr von Liebe vorschwatze, und dem sie recht herzlich zugetan sei. Eines Tages stand sie dort am Fenster; auf einmal schlägt sie die Hände zusammen vor Freude, bittet mich, ans Fenster zu treten, und ruft: ›Sehen Sie, der dort in der Türe des Buchladens steht, der ist der schöne Herr.‹ Sie macht mir Platz, ich trete arglos hin, und aus dem Laden tritt in diesem Augenblick –«

»Wie, doch nicht Palvi?« rief der Stallmeister, ergrimmt über das schlechte Betragen eines Mannes, den er geachtet hatte.

»Er selbst«, flüsterte Elise und drückte ihre weinenden Augen in ihr Tuch.

Der Stallmeister überließ das unglückliche Mädchen einige Minuten der Erinnerung an einen tiefen Kummer, hatte er ja doch selbst diese Pause nötig, um sich zu sammeln. Liebe, Mitleiden, so viele andere Empfindungen stürmten auf ihn ein, rissen ihn hin, Elisens Hand zu ergreifen und sie an seine brennenden Lippen zu ziehen. Erschreckt, überrascht blickte sie ihn an; doch schien ein günstiges Gefühl für ihn ihren strafenden Blick zu mildern.

»Und darf ein Mann«, sprach er bewegt, »zu Ihnen von Liebe reden, nachdem Sie so Bitteres von uns erfahren? Darf er sagen, er würde treu sein bis in den Tod, wenn Sie ihm nur einen Teil jener Liebe schenken könnten, die jener ganz besaß?«

»Julius, was fällt Ihnen ein?« rief sie mit bebenden Lippen, doch ohne ihm ihre Hand zu entziehen. »Wozu –«

»Elise«, fuhr er fort, »ich kann einem so großen und schönen Herzen, wie das Ihrige ist, wenig Trost geben; aber die Zeit mildert, und kann nicht treue und aufmerksame Liebe selbst schönere Vorzüge ersetzen?«

Sie wollte antworten, sie errötete und schwieg, aber ihren Blick voll Liebe und Wehmut durfte er günstig für sich deuten; er schloß sie in seine Arme, und küßte ihren schönen Mund.

»Aber mein Gott, Rempen«, sagte sie, indem sie sich sanft von ihm loszumachen suchte, »was machen Sie doch?«

»Ich habe dich ja längst geliebt«, fuhr er fort, »hatte nur einen Wunsch, ich glaubte dein Herz nicht mehr frei, und zögerte; jetzt, da ich weiß, daß nur Gram, aber keine fremde Liebe in diesem Herzen wohnt, jetzt mußte ich dieses lästige Geheimnis von mir werfen. Aber wie? – zürnen Sie mir vielleicht über alles dieses?«

»Julius!« rief sie erschreckt von dem wehmütigen Ton, womit er die letzten Worte sagte.

Dieser Name, so sanft und wohlwollend ausgesprochen, ihr ängstlicher, zärtlicher Blick sagten ihm mehr, als alle Worte. »Und darf ich mit dem Vater reden, Elise? darf ich?« setzte er hinzu.

Sie errötete und erbleichte ebenso schnell wieder, sie sah ihn eine kleine Weile prüfend an, eine Träne trat in ihre schönen Augen, aber um ihren Mund zog ein flüchtiges, feines Lächeln; sie drückte seine Hand; eine kleine Bewegung des Hauptes und die hohe Röte, die wieder über ihre Wangen ging, sagten ja, und schnell, wie vom Wind hinweggetragen, war sie in ein anderes Zimmer entschlüpft.

Der Stallmeister war in jeder Hinsicht eine so gute und anständige Partie, daß der alte Wilkow, als der Geheimerat von Rempen für seinen Neffen warb, keinen Anstand nahm, seine Zusage zu geben. Der junge Mann selbst war so von seinem süßen Glück erfüllt, daß er lange nicht an die Begebenheiten dachte, die diesem wichtigen Schritt vorangegangen waren. Endlich erinnerte ihn ein Zufall an Palvi; so unangenehm diese Erinnerung war, so fühlte er doch als Mann und als künftiger Gatte Elisens, daß er diesem Menschen, mochte er sich auch wirklich schlecht gezeigt haben, Erklärung schuldig sei. Und wie bebte seine Hand, als er ihm in wenigen Zeilen sagte, daß Elisens Widerwillen unüberwindlich sei, daß er ihn versichern könne, daß sie niemals einen Mann mehr lieben werde, welchen sie aufzugeben nicht unrecht gehabt, daß er selbst versuchen wolle, Palvis Stelle bei ihr zu ersetzen. Ja, seine Hand, sein Herz bebte, als er diese Buchstaben niederschrieb; es konnte ihn nicht beruhigen, daß er sich ins Gedächtnis recht lebhaft zurückrief, wie niedrig und elend dieser Mensch an einer so zarten, heiligen Liebe, wie sie Elise gab, gefrevelt habe. Die edelen Züge, das Auge dieses Mannes standen vor ihm; sein so hoher und liebenswürdiger Geist, so fein in Urteil und Benehmen – und dennoch so wenig sittliche Würde? Die Erinnerung an jenen Abend, wo sich ihm dieser Mann so ernst und doch so herzlich genähert hatte, wo er ihm sein inneres Leben aufschloß, und ein verarmtes Herz bei solchem Reichtum der Gedanken, eine tief verwundete Seele bei solcher Gesundheit des Geistes zeigte, machte ihn so wehmütig, daß er nahe daran war, die kaum geschriebenen Zeilen zu zerreißen; aber der Gedanke an Elise, die Vermutung, daß dieser Palvi so schöne Empfindung, so tiefe Rührung nur geheuchelt haben müsse, erkälteten schnell seine warme Teilnahme. Entschlossen schickte er den Brief ab, und doch deuchte es ihn, als er seinen Boten verschwinden sah, er habe einen Todespfeil auf ein edles Herz entsendet.

 

Der alte Herr von Kempen erinnerte sich mehrerer Fälle, wo die feierliche Verlobung gräflicher, sogar fürstlicher Paare gleich den andern oder dritten Tag, nachdem die Werbung angenommen worden, vor sich gegangen war. Er stand daher um so weniger an, seinen Neffen und Elisens Vater zu gleicher Eilfertigkeit zu treiben, als er selbst gleich nach dieser Szene, wobei, seiner Meinung nach, sein Segen notwendig war, auf mehrere Wochen auf das Land gehen wollte. So kam es, daß sich der Stallmeister durch den verhängnisvollen Zug der Umstände in die ruhige Bucht eines schönen, häuslichen Glückes versetzt sah, als er sich kaum noch auf hoher See glaubte oder wenigstens von Klippen träumte, an welchen seine Hoffnung auf immer scheitern konnte. Am Morgen jenes festlichen Tages, der zu seiner Verlobung angesetzt war, brachte ihm ein Knabe einen Brief; die Hand, die ihn überschrieben, war ihm unbekannt. Er öffnete und fand den Namen des Magister Bunker unterzeichnet. So unangenehm auch die Erinnerungen sein mochten, mit welchen dieser Name in Verbindung stand, so machte doch das Andenken an diesen alten Mann und die wenigen rührenden Worte des Briefes tiefen Eindruck auf ihn; er bat, der Stallmeister möchte dem Knaben zu ihm folgen; er habe ihm notwendig etwas zu eröffnen, und sei selbst zu schwach und angegriffen, als daß er über die Straße gehen könnte. Rempen fürchtete anfangs ein Zusammentreffen mit Palvi. Als aber der Knabe auf seine Frage, ob Herr von Palvi bei dem Alten sei, antwortete: »Ach nein! der ist schnell ganz weggereist und kommt nimmer wieder, und der alte Herr Magister hat geweint wie ein Kind«, nahm er eilends seinen Hut und folgte.

Der Knabe führte ihn durch mehrere Seitenstraßen in einen abgelegenen Teil der Stadt, wo arme Leute und Handwerker wohnten, bis vor ein kleines, aber reinliches Haus. Dort stieg er eine Treppe hinan und öffnete dem Stallmeister eine Türe. Es war ein Zimmer voll Verwirrung und Unordnung, in das sie traten. Papiere und Bücher lagen am Boden zerstreut, und die Trümmer einer Gitarre mischten sich mit ausgeleerten Flaschen und alten Schuhen. Auf den Stühlen lagen Kleidungsstücke, auf dem schlechten Kanapee aber saß, den Kopf in die Hand gestützt, ein Mann, in welchem Rempen den Alten erkannte. Beim Geräusch, das ihr Eintritt verursachte, wandte er den Kopf um und hatte Tränen in den alten Augen.

»Vergeben Sie mir!« sagte er, indem er mit Mühe sich aufraffte. »Meine Füße trugen mich nicht mehr zu Ihnen, und meine Hand zittert – ich mußte meine Botschaft mündlich geben.«

»Was ist vorgegangen!« rief der junge Mann bestürzt. »Sie sind krank, Sie weinen, um wen? und von wem eine so feierliche Botschaft?«

Der Alte trocknete sich die Augen. »Er hat viel auf Sie gehalten«, sprach er, »noch gestern und vorgestern hat er immer von Ihnen gesprochen, und innig bedauert, daß er Sie so spät erst kennengelernt hat. Sie hätten können herzliche Freunde werden, denn Sie sind keiner von den schuftigen Gesellen, die er verabscheute.«

»Mein Gott, Sie sprechen von Palvi? wo ist er?«

»Möge ihn ein gütiger Arm vor den Wellen des Flusses bewahrt haben«, erwiderte der Alte sehr ernst; »doch nicht wahr, junger Mann, es gehört größere Kraft dazu einen Kummer zu tragen, als sich von ihm zerbrechen zu lassen? nicht wahr? ich glaube es wenigstens, und er ist eine kräftige Seele, er kann nicht zum Selbstmörder werden.«

Rempen verhüllte sein Gesicht, er konnte den tiefen Gram des Alten nicht länger sehen. Aber dieser zog ihm ängstlich die Hand von den Augen. »O lesen Sie doch«, sagte er; »lesen Sie genau, prüfen Sie jedes Wort, nicht wahr, es steht nichts darin, daß er sich töten wolle?«

Rempen nahm das Blatt. Es war in wenigen Worten ein kurzer, aber ergreifender Abschied an den Alten. Er müsse ihn und diese Stadt verlassen, schrieb er. Als Grund gab er nur flüchtig sein unglückliches Verhältnis zu Elisen an, von welchem der Alte völlig unterrichtet schien. Rempen suchte den Alten zu trösten; es sei so natürlich, sagte er, daß Palvi sich zerstreuen wolle, daß er vielleicht nur eine kleine Reise mache –

Aber der Alte schüttelte mit bitterem Lächeln den Kopf. »Er kommt nicht wieder; und ach! ich habe keine Freude und keinen Freund mehr! Er hat alle seine kleinen Rechnungen bezahlt, und mir« – setzte er weinend hinzu – »mir hat er seine Bücher und alles hinterlassen. – Doch mein Auftrag; Sie sehen, wie sehr er Sie schätzte, hier ist ein Paquet mit Büchern an Sie, die Adresse schrieb er noch heute morgen, und in einem kleinen Zettelchen, das er darauf gelegt hat, bittet er mich Sie bei allem, was heilig sei, zu versichern, daß er kein schlechter Mensch gewesen sei, daß er Sie liebe und in Ihrem Glück sein eigenes finde.«

Indem der Magister noch diese Worte sprach, hörte man ein Geräusch auf der Treppe, eilende Schritte nahten dem Zimmer, die Türe ging auf und ein Zeitungsblatt in der Hand stürzte der Buchhändler Kaper in das Zimmer. »Wo ist er?« rief er erhitzt und atemlos. »Wo ist der große und unvergleichliche Hüon, unser Scott, unser letzter Ritter! Wo ist Blüte und Kern unserer Literatur? Ich meine den Herrn Referendär von Palvi, der hier logiert, wenn ich nicht irre«, setzte er hinzu, als er den Gesuchten nicht im Zimmer fand.

»Er ist verreist«, antwortete der Alte.

»Himmel, komme ich zu spät?« fuhr Kaper fort, »wissen Sie nicht, hat Hüon schon einen Verleger zum nächsten Historischen? daß wir es erst heute erfahren müssen – Ei! ei! gratuliere, Herr Stallmeister, zu meiner schönen Nachbarin – aber wer hätte das gedacht, daß wir den göttlichen Hüon in den eigenen Mauern hätten, daß es dieser Herr von Palvi wäre!«

»Wie!« rief der Stallmeister, indem er den Alten staunend anblickte. – »Er wäre Hüon?«

»Da steht's, da steht's gedruckt im Konversationsblatt«, schrie der Buchhändler, seine Zeitung dem jungen Rempen überreichend.

»Hüon«, sagte der Alte, »er war Hüon. Wohl hat er den Ungläubigen die Backenzähne ausgezogen, und vergebens kämpften sie gegen meinen edlen, jugendlichen Paladin, aber sein Geschick wollte, er sollte Hüon ohne Rezia sein!«

Noch einmal öffnete sich die Türe, und spie, wie das Tor im Löwengarten des König Franz, zwei Leoparden auf einmal aus. Es waren der Hofrat und der dramatische Professor, die hereinstürzten. »Wo ist er?« riefen sie; »vergessen sei alle Fehde! wir hatten ja einen ganz andern im Verdacht, der Autor dieses Romans zu sein; darum, gewiß nur darum haben wir ihn gehauen. Ins Freitagskränzchen soll er kommen, Mitarbeiter soll er werden am ›Belletristischen Vergnügen‹! den Zundler soll er uns ersetzen, der treffliche Hüon.« So schrien sie durcheinander, aber mit Hohn und Verachtung blickte sie der Alte an. »Ihr findet ihn nicht mehr«, sagte er. »Er ist hinweg für immer.«

»Hat er etwa einen Ruf bekommen?« rief der Professor.

»Ha!« rief ihm der Hofrat nach, »das ist ja wohl Zundlers rätselhafter Magister? Herrlicher Fund! wir zahlen 10 Taler per Bogen, Wertgeschätzter; arbeiten Sie mit an unserem Blatt, was Sie wollen; Gedichte, Novellen, Rezensionen, Kunstgefühle, wir nehmen alles auf!«

»Zurück!« entgegnete der alte Mann mit mehr Hoheit, als ihm Rempen zugetraut hatte; »ich habe einen Freund verloren, eine große schöne Seele, und bin nicht gesonnen, ihn mit euch und euren Talern zu ersetzen! Dort am Boden liegen Palvis Papiere – teilt euch unter seinen poetischen Nachlaß.«

Er sprach es, nahm den Stallmeister unter dem Arm und verließ mit ihm langsam das Zimmer. Kaper, der Hofrat und der Professor stürzten wie Drachen auf den Boden und über die Papiere her, und mitten in seinem Kummer mußte der Stallmeister lächeln, als ihm der Alte auf der Treppe entdeckte, jene werden nur Fragmente von juristischen Relationen und unbedeutende Kriminalakten finden. Als aber der Alte an der Türe des Hauses, mühsam und auf seinen Stab gestützt, an den Häusern herschleichen wollte, ergriff Rempen seinen Arm von neuem, und führte ihn trotz seiner Widerrede bis zu seiner Wohnung. Dort setzte sich der Magister auf einen Stein, um Kräfte zu gewinnen, denn sein Stübchen lag fünf Stockwerke hoch.

 

Elise saß zu derselben Stunde vor der Toilette. Gedankenvoll sah sie vor sich hin, indem das Kammermädchen ihre Haare ordnete. Vielleicht hatte der tägliche Anblick dieser Zofe den Stachel entheiligter Liebe nur immer noch tiefer in das Herz gedrückt; und dennoch vermochte sie es nicht über sich, dieses Mädchen wegzuschicken; es war der Stolz einer erhabenen Seele, was sie von diesem Schritt abhielt, der vielleicht auch von ihren Eltern getadelt worden wäre, denn das Mädchen diente treu und geschickt. Doch so tief diese Wunde sein mochte, Elise suchte in diesem Augenblick ihren Schmerz zu übertäuben. Wenn nach den Gesetzen der Natur das Wesen in uns zu derselben Zeit verschiedentlich beschäftigt sein könnte, wenn es möglich wäre, in dem nämlichen Moment in dem Herzen so ganz anders zu fühlen, als man oben, hinter den Augen denkt, so müßte Elisens Seele in dieser Stunde nach verschiedenen Richtungen sich geteilt haben. Im Hintergrund ihres Herzens flüsterten tiefe, wehmütige Töne, die Erinnerung einer schönen Zeit, sie sangen in klagenden Weisen jene Tage, wo Elise auf der ersten Stufe der Jugend das Auge des Geliebten verstand. In volleren Akkorden rauschten diese Erinnerungen, als sie von Stunden seliger Liebe, von Trennung und der Wonne des Wiederfindens sprachen. Verloren, verloren durch seine eigene Schuld, weinte dann ihre Seele; untergegangen ein so großer, schöner Geist in Leichtsinn und Niedrigkeit! Doch diese Gefühle schlichen nur gleich Schatten vorbei; sie suchte mit aller Gewalt des Geistes den Blick von diesen Erscheinungen abzuwenden, sie dachte an das ruhige, klare Wesen ihres zukünftigen Gatten, sein bescheidenes und doch so würdiges Betragen, seine reine Herzensgüte. Sie rief sich alles dies hervor, ja sie versuchte zu lächeln, um freundlichere Gefühle dadurch zu erringen, aber – es gelang ihr ruhig, doch nicht heiter zu werden.

Der Putz war vollendet, sie richtete sich vor dem hohen Spiegel auf, und die Freude an ihrer eigenen hübschen Gestalt verdrängte auf Augenblicke jene düsteren, wehmütigen Bilder. »Nein, und wenn er noch so proper angetan wäre«, sagte in diesem Augenblick das Kammermädchen, »mich soll er nicht mehr anreden dürfen!«

»Ich habe dir gesagt, du sollst nicht mehr von solchen Dingen reden«, rief Elise mit der Röte des Unmutes auf den Wangen.

»Ach Gott! gnädiges Fräulein, ich will ja auch gar nichts mehr von dem schlechten Menschen wissen, aber ich sagte nur so, weil er wieder in Herrn Kapers Laden steht.«

Elise zitterte, sie wollte von dem Spiegel hinwegeilen, aber unwiderstehlich zog es sie an das Fenster. Sie warf einen Blick hinüber, und unter jener Türe stand Zundler.

»Wie!« rief sie, kaum ihrer Worte mächtig, der Zofe zu, »ist es denn dieser?«

»I, freilich! aber werden Sie mir nur nicht böse!«

»Und dieser auch, den du damals meintest?« fuhr sie mit bebenden Lippen fort.

»Wer denn anders?« entgegnete jene ruhig; »aber ich weiß jetzt, er ist ein schlechter Mensch, und jetzt weiß ich auch, wie er heißt: Doktor Zundler.«

»Geh, geh, bringe die Kleider weg«, flüsterte Elise, indem sie ihr glühendes Gesicht halb bewußtlos in die Kissen des Sofas drückte; das Mädchen eilte erschrocken hinweg, und die unglückliche Braut war mit ihrem Gram allein. Welche Gefühle stürmten auf sie ein! Beschämung, Liebe, Unmut über sich selbst. Sie sprang auf; ein Gang durch das Zimmer machte sie mutiger. Sie wollte Rempen alles gestehen, sie war einen Augenblick überzeugt, er werde so edel sein, zurückzutreten, Palvi werde leicht zu versöhnen sein. Aber die Stadt wußte, daß heute ihre Verlobung sei; ihr Vater hatte dem Geliebten sogar das Haus verboten, würde er jemals einwilligen, sie glücklich zu machen? Nein! Scham vor der Welt, Reue, Angst warfen sie nieder. Bleich, erschöpft und zitternd fand sie der Stallmeister, als er bald darauf ernster, als zu diesem fröhlichen Tag sich schickte, in Elisens Zimmer trat.

»Ich muß Ihnen eine sonderbare Nachricht geben«, sagte er bewegt, indem er sich zu ihr setzte, und beschäftigt mit seinen Gedanken, ihre Verwirrung nicht bemerkte. »Palvi ist weggereist und zwar auf immer.«

»Er ist tot!« rief sie; »gewiß, schnell, sagen Sie es nur heraus, er hat sich getötet!«

»Nein«, erwiderte Rempen, »er hat mir einen Brief zurückgelassen, worin er Sie und mich zum letztenmal begrüßt; er ist nach Frankreich gegangen, dorthin lautet auch sein Paß, wie mir soeben mein Onkel erzählte.«

Elise schwieg. Sie fühlte, daß sie in diesem Augenblick erst ihn ganz verloren habe; aber sie hatte Kraft genug, jeden Laut des Kummers zu unterdrücken.

»Doch was Sie noch mehr befremden wird«, fuhr er fort, »jenen Roman, den Sie uns letzthin erzählt haben, hat uns der Autor selbst vorgelesen.«

»Palvi!« rief sie in so eigenem Ton, daß der Stallmeister erschrak. »Er wäre –«

»Hüon, der Autor der ›Letzten Ritter von Marienburg‹. Es steht schon in öffentlichen Blättern, und hier schickt er mir und Ihnen dieses Werk.« Der Stallmeister öffnete ein Paquet und gab Elisen die Bücher. Sie öffnete eines derselben; ihr Blick fiel auf das Märchen, woraus Palvi mit so sonderbarem Accent einige Worte gelesen, und jetzt erst stieg eine längst verbleichte Erinnerung in ihr auf. Es war ein Märchen, das Palvis Vater den Kindern so oft erzählt hatte.

Eine große Träne schwamm in ihrem schönen Auge und fiel herab auf diese Zeilen.

In diesem Augenblick öffneten sich die Flügeltüren; mit feierlichem Gesicht und überladen mit seinen Orden, trat der Geheimerat von Rempen herein. Mit Anstand trat er vor das Fräulein, ihr den Arm zu bieten. »Die Familien sind im Salon versammelt«, sprach er; »ist es gefällig die Ringe zu wechseln? Doch wie! sind Sie so sehr in unsere Literatur verliebt, daß Sie sogar gerade vor der Verlobung Lesestunden mit meinem Neffen halten? Was lesen Sie denn, wenn man fragen darf?«

Mit einem schmerzlichen Lächeln stand Elise auf und nahm seinen Arm. »Etwas Altes in neuer Form«, erwiderte sie, »ein Märchen von untergegangener Liebe!«

»Ei! ei!« setzte der Oheim lächelnd und mit dem Finger drohend hinzu; »etwas solches vor der Verlobung; und wie heißt denn der Titel?« fragte er, indem er sie in den Saal führte.

»›Die letzten Ritter von Marienburg‹.«


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