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Als die beiden Reisenden am Morgen nach dieser gefährlichen Nacht erwachten, sahen sie in geringer Entfernung die Türme von Heilbronn aus dem Nebel tauchen. »Hier endet meine Fahrt«, sagte der Herr im grünen Rock, indem er auf die Stadt deutete, »und Ihnen danke ich es«, setzte er mit einem freundlichen Blick auf seinen Nachbar hinzu, »daß ich diesmal diesen Wagen ungern verlasse. Wie angenehm wäre mir noch ein Tag in Ihrer Gesellschaft vergangen!«
»Es ist mein Los schon seit vierzehn Tagen gewesen«, erwiderte der Brandenburger. »Der enge Raum macht nachbarlich, Menschen, welche vielleicht in einer größern Stadt, selbst wenn sie Zimmernachbarn gewesen wären, jahrelang unter sich kein Wort gewechselt hätten, treten sich nahe durch den so natürlichen Drang nach Mitteilung. Der Platz an meiner Seite wechselte öfter, als in einer Schlacht, doch darf ich mir Glück wünschen, Sie wenigstens so lange zu meinem Nachbar gehabt zu haben, denn so bin ich auf die angenehmste Weise in Ihr Vaterland eingeführt worden.«
»Werden Sie länger in Württemberg verweilen?«
»Ich besuche Verwandte meiner Mutter«, erwiderte der Fremde; »je nachdem sie und die Residenz mir gefallen, werde ich länger oder kürzer verweilen.«
»Wir werden uns schwerlich wiedersehen«, sagte der Grüne, »ich wüßte wenigstens nicht, was mich nach Stuttgart treiben sollte. Vergessen Sie aber nie, was ich Ihnen über den Charakter meiner Landsleute sagte. Können Sie nach ihrer Denkungsart, nach ihren Sitten sich ein wenig richten, so werden Sie überall gesucht und willkommen sein. Unsern Damen sind Sie dann als Fremder nur um so interessanter und unsern Männern – nun da kömmt es immer auf den Zirkel an, in welchem Sie leben; nur müssen Sie«, setzte er mit einem Lächeln hinzu, das zwischen Ironie und gutmütiger Freundlichkeit schwebte, »nie zu deutlich und fühlbar machen –«
»Nun?« rief der Fremde erwartungsvoll, als jener innehielt.
»Daß Sie kein Deutscher, sondern ein Preuße sind.«
Das schmetternde Horn des Postillons und das Rasseln des schweren Wagens auf dem Steinweg übertönte die Antwort des Fremden. Den Passagieren ward in dieser Stadt eine kleine Rast vergönnt, und der Fremde wollte seinen Nachbar vom Eilwagen noch einmal zum Frühstück einladen. Doch schon unter der Türe des Posthauses überreichte diesem ein alter Reitknecht mehrere Briefe; er riß den einen hastig, errötend auf und sein Reisegefährte bemerkte im Vorübergehen, daß es die Handschrift einer Dame sei. Der Fremde trat etwas verstimmt in dem Wirtshaus ans Fenster; er sah den Jäger angelegentlich mit seinem Diener sprechen und bald darauf führte man zwei schöne Pferde vor. In demselben Augenblick trat der grüne Herr eilends in den Saal, seine Augen suchten und fanden den Reisegefährten, er trat zu ihm, doch nur um schnell, aber herzlich von ihm Abschied zu nehmen, und so konnte ihn der Brandenburger zu seinem großen Verdruß nicht einmal nach dem Haus und der Familie Käthchens von Heilbronn fragen, eine Frage, die er sich unter seinen Reisenotizen aufgezeichnet und doppelt unterstrichen hatte. Doch der Anblick des Jägers, wie er sich so leicht in den Sattel des schönen, stolzen Pferdes schwang, wie er so majestätisch über den Markt hin sprengte, söhnten ihn mit der beinahe unhöflichen Hast aus, womit jener von ihm Abschied genommen hatte. Er gestand sich, selten eine so wohlgebaute Gestalt mit einem so schönen, ausdrucksvollen Gesicht vereint gesehen zu haben.
»Wer war dieser Herr im grünen Kleid?« fragte er den Kellner, der am andern Fenster dem Reiter nachblickte.
»Mit dem Namen kann ich nicht dienen«, antwortete jener; »ich weiß nur, daß man ihn ›Herr Baron‹ nennt, daß sein Vater einige Stunden von hier am Neckar Güter hat, und daß sie sehr reich sein sollen; in die Stadt kömmt er selten.«
Nicht ganz zufrieden mit dieser Erklärung setzte sich der junge Mann wieder in den Wagen. Sein Vater, der früher einmal in diesem Lande gewesen war, hatte ihm so viel Sonderbares von »schwäbischen Baronen« erzählt, daß er in seinem liebenswürdigen und gewandten Reisegefährten keinen solchen vermutet hätte. Sein neuer Nachbar, der ihm gleich in der ersten Viertelstunde vertraute, daß er ein Hopfenhändler aus Bayern sei, machte ihm den Verlust den er erlitten, nur um so fühlbarer, und da er am Hopfenbau wenig Unterhaltung fand, beschäftigte er sich damit, über den Charakter des jungen Mannes, der ihn verlassen hatte, nachzudenken und dann noch einmal alle Erwartungen und Hoffnungen zu durchlaufen, die er sich von seinen Verwandten, zu welchen er reiste, gemacht hatte. Von dem Oheim versprach er sich für seine Unterhaltung wenig; er mußte nach seiner Berechnung ein vorgerückter Sechziger sein; mürrisch, ungesellig und eigensinnig hatte ihn sein Vater schon vor fünfundzwanzig Jahren gekannt, und solche Eigenschaften pflegen sich im Alter nicht zu verbessern. Desto mehr versprach sich der junge Mann von Fräulein Anna, seiner Cousine. Von einem seiner Freunde, der längere Zeit in Schwaben gelebt hatte, war sie ihm als eine Zierde dieses Landes genannt worden. Ein angenehmes, trauliches Verhältnis von fünf bis sechs Wochen schien ihm ganz wünschenswert, und so eifrig war seine Berechnung der Mittel, die ihm zu Gebot standen, sich liebenswürdig zu zeigen, so gewiß war er sich des Eindrucks bewußt, den seine Person, sein Wesen unfehlbar machen müsse, für so leicht zu erobern hielt er das Herz eines »Fräuleins in Schwaben«, daß ihm nicht einmal der Gedanke kam, die schöne Cousine Anna könne sich vielleicht schon versehen haben.
Er ließ sich, in der Residenz angekommen, sogleich nach dem Hause führen, wo sein Oheim sonst gewohnt hatte,
aber mit dem Donnerworte ward ihm aufgetan, die du suchest – |
wohnen schon seit langer Zeit auf einem Landgut, sie werden auch im nächsten Winter nicht zurückkehren, und selbst dies Haus gehört ihnen nicht mehr eigen.
Der Reisende aus Brandenburg war schnell entschlossen. Er benützte diesen Tag, um sich die freundliche Stadt zu betrachten, und eilte dann denselben Weg, welchen er hergekommen war, zurück, nach dem unteren Neckartal, wo der Landsitz seines Oheims lag.
Je näher er dieser reizenden Gegend kam, desto angenehmer war es ihm, daß er einige Wochen auf dem Lande zubringen sollte. Er wußte aus eigener Erfahrung, daß man auf dem Lande, abgeschnitten von den Zerstreuungen der Stadt und jener Formen enthoben, die man dort für schön und notwendig, hier für überflüssig und lästig hält, schnell bekannt und befreundet wird, daß man sich, auf eine kleine Gesellschaft beschränkt, schneller naherückt. – Etwa eine Stunde von dem Gut bog der Weg von der Hauptstraße ab. Der Kutscher, den er gemietet hatte, deutete auf einen Fußpfad, der in den Wald lief; der Fahrweg wende sich um den ganzen Berg her, sagte er, doch auf diesem Pfad könne man zu Fuß in bei weitem kürzerer Zeit zum Schloß Thierberg hinaufgelangen. Der junge Mann stieg aus; er war bisher auf einem Bergrücken gefahren, sah nun eine mäßige, mit Wald bewachsene Anhöhe vor sich, und schloß, weil er gehört hatte, das Schloß seines Oheims liege im Neckartal, man müsse von dieser Höhe eine weite Aussicht in das Tal genießen. Er ließ den Wagen weiterfahren und stieg den Seitenpfad hinan. Ein Wald von prachtvollen Buchen nahm ihn auf. Nie hatte er diesen Baum so kräftig, so majestätisch gesehen, zwischendurch erblickte er hie und da Eichen und schöne Eschen und zu seiner nicht geringen Verwunderung Waldkirschbäume von ungewöhnlicher Höhe. Nach und nach wurde ihm das Steigen schwerer; der Berg schien sich auf einmal steiler zu erheben, und er war oft versucht, die unbequeme Eleganz zu verwünschen, in welche ihn sein Berliner Schneider gekleidet hatte. Endlich hatte er den Gipfel erreicht, aber noch öffnete sich keine Aussicht. Die Bäume schienen dichter zu werden, je mehr sich der Pfad wieder senkte, und als sich, um seine Ungeduld zu vermehren, der kleine Pfad in zwei noch kleinere teilte, die nach verschiedenen Richtungen liefen, schmälte er auf den Kutscher und auf seine eigene Torheit, die ihn verleitet hatten, in einem fremden Wald sich zu verirren. Er schlug endlich den Weg rechts ein und sah, nachdem er einige Hundert Schritte gegangen war, zu seiner großen Freude ein buntes Kleid durch das Laub schimmern.
Er verdoppelte seine Schritte und war nicht wenig betroffen, als er plötzlich vor einer jungen Dame stand, die im Schatten einer alten Eiche auf einer Bank saß. Sie hatte ein Buch in der Hand, von welchem sie, als sein Schritt in den abgefallenen Blättern rauschte, langsam und ruhig ihre schönen Augen erhob; doch auch sie schien betroffen, als es ein junger, städtisch gekleideter Herr war, den sie in dieser Einsamkeit vor sich sah; sie errötete flüchtig, aber sie senkte ihren Blick nicht, der fragend an dem unerwarteten Besuch hing. Der junge Mann verbeugte sich einigemal, ehe er recht wußte, was er sagen wollte. Ist wohl das schöne Mädchen Cousine Anna? war alles, was er in diesem Augenblick zu denken und sich zu fragen vermochte, und erst als er sich diese Frage schnell bejaht hatte, trat er näher zu der jungen Dame, die indessen ihr Buch schloß und von ihrem Bänkchen aufstand. »Bitte um Vergebung«, sagte er, »wenn ich Sie gestört haben sollte; ich fürchte von dem Wege abgekommen zu sein. Kann ich hier nach dem Schloß des Herrn von Thierberg kommen?«
»Auf diesem Fußpfad nicht wohl, wenn Sie hier nicht bekannt sind«, erwiderte sie mit einer tiefen, aber klangvollen Stimme; »Sie haben oben einen Fußpfad links gelassen, der nach dem Schloß führt.« Sie verbeugte sich nach diesen Worten, und der junge Mann ging seinen Weg zurück; doch kaum hatte er einige Schritte gemacht, so zog ihn ein unwiderstehliches Gefühl zurück. Das schöne Mädchen stand noch einmal von ihrem Sitz auf, als sie ihn zurückkehren sah, doch diesmal schien Bestürzung ihre Wangen zu färben, und eine gewisse Ängstlichkeit blickte aus ihren großen Augen. Auf die Gefahr hin für unbescheiden zu gelten, fragte der Reisende, ob er vielleicht die Ehre gehabt habe, mit Fräulein von Thierberg zu sprechen?
»Ich heiße so«, antwortete sie etwas befangen.
»Eh bien, ma chère cousine!« sagte er lächelnd, indem er sich artig verbeugte; »so habe ich das Vergnügen, Ihnen Ihren Vetter Rantow vorzustellen.«
»Wie, Vetter Albert!« rief sie freudig, »so haben Sie endlich doch Wort gehalten? Wie wird sich der Vater freuen! Und was macht Onkel und die liebe Tante, und wie sind Sie gereist?« so drängte sich eine Frage nach der andern über die schönen Lippen, und Vetter Rantow fand, verloren in sein Glück eine schöne Muhme zu besitzen, keine Worte, alle nach der Reihe zu beantworten. Wie reizend, wie naiv klang ihm die Sprache! Er konnte nicht sagen, daß sie gegen irgendeine Regel des Stils gesündigt hätte, und doch deuchte es ihm, es seien ganz andere Worte, ganz andere Töne, als die er in seinem Vaterland gehört hatte. Er fühlte, er sei zu schnell gereist, als daß er allmählich auf diesen Kontrast vorbereitet worden wäre.
»Dies ist mein Lieblingsspaziergang«, sagte sie, indem sie langsam neben ihm herging. »Zwar ist der Weg im Tal noch angenehmer, der Neckar macht schöne Windungen, alte Burgen schmücken die Höhen – und die unsrige spielt dabei nicht die schlechteste Rolle, wenigstens was das Altertum betrifft – Dörfer und sogar ein Städtchen sieht man Tal auf und ab; aber der Rückweg ins Schloß hinauf ist dann so steil und mühsam, und auf der Straße gehen mir zu viele Leute. Der Wald hier liegt nicht höher als das Schloß, in einem halben Stündchen geht man herüber und ist dann so köstlich einsam, als säße man in seinem Boudoir bei verschlossenen Türen.«
»Bis dann der Zufall einen Vetter aus Preußen hereinwehen muß, der die köstliche Einsamkeit stört«, unterbrach sie Rantow.
»Im ganzen genommen«, fuhr sie fort, »ist es im Schloß gerade auch nicht geräuschvoll. Es ist so einsam als irgendein bezaubertes Schloß in ›Tausendundeinenacht‹. Außer der Dienerschaft und im hinteren Flügel dem Amtmann, den man nie zu sehen bekömmt, sind wir, der Vater und ich, die einzigen Bewohner; ja die Einsamkeit im Schloß ist oft so schrecklich und traurig, daß ich mich lieber in die Waldeinsamkeit flüchte, wo das Rauschen der Bäume und der Gesang der Vögel doch noch einiges Leben verkünden.«