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Wir führen unsere Leser aus dem Offizierszimmer der Hauptwache in Stuttgart nach dem Hause des Landschaftskonsulenten Lanbek. In einem weiten, geräumigen Zimmer, dessen Hausrat nicht überladen und prächtig, aber solid und stattlich ist, finden wir einen ältlichen Mann von mehr als mittlerer Größe. Sein Gesicht und seine Gestalt beweisen, daß er, als er in den Fünfzigen stand, wohlbeleibt gewesen sein mochte, jetzt, zehn Jahre später, hatten sich Falten um Mund und Stirne gelegt, und der weite Schlafrock von feinem grünen Tuch, mit Pelz verbrämt, war für eine reichliche Fülle gefertigt und schlug jetzt weite Falten um den Leib; aber die rötlichen Wangen, die klaren grauen Augen, der feste Schritt, womit er im Zimmer auf und ab ging, ließen, noch ehe man seine volle, sonore Stimme vernahm, ahnen, daß der alte Konsulent an Geist und Körper noch frisch und rüstig sei.
In der Vertiefung des breiten Fensters saßen zwei schöne Mädchen von achtzehn bis zwanzig Jahren, die dem Alten, sooft er ihnen den Rücken wandte, besorglich und ängstlich nachschauten, wohl auch untereinander flüsterten, solange sie von ihm nicht gesehen wurden. Die eine war bemüht, des Vaters ungeheure Allongeperücke in Ordnung zu bringen, und trotz dem Kummer, der aus ihren Blicken sprach, schien sie doch Freude an dem schönen Kontrast zu finden, welchen die schwarzen Locken dieses Haargebäudes mit ihren zarten, weißen Händchen bildeten. Die dunkelblauen Augen der andern jungen Dame schienen mehr mit der Straße als mit der feinen Arbeit, an welcher sie nähte, beschäftigt, doch waren ihre Züge zu ernst, als daß man es müßiger Neugier hätte zuschreiben dürfen.
Sie hatten mehrere Minuten lang geschwiegen, denn die Mädchen waren viel zu streng erzogen, als daß sie den Vater, der seinen Gedanken nachhing, mit Fragen belästigt hätten; plötzlich sprang die junge Nähterin auf, ließ ihre schöne Arbeit zu Boden fallen, beugte den schlanken Hals näher ans Fenster und sah gespannt nach der Straße. Der Vater sah diese Bewegung, hielt seine Schritte an, blickte aufmerksam nach seiner Tochter und fragte nur mit Blicken; Käthchen, die jüngere Schwester, vollendete schnell noch eine Stirnlocke der Perücke, setzte dann das Prachtwerk behutsam auf eine Kommode und kam eben noch zeitig an, um mit Hedwig zu rufen: »Er ist's, er hat heraufgesehen, Vater; er geht sehr schnell; sieh doch, was er für einen sonderbaren Rock anhat!«
»Das ist Blankenbergs Jagdkleid«, sagte Hedwig leise zu ihrer Schwester.
»Geh doch, was weißt du von Blankenbergs Garderobe?« erwiderte die Jüngere, bedeutungsvoll lächelnd.
»Er hat Gustav schon oft in diesem Kleid besucht«, antwortete sie, indem eine dunkle Röte über ihre Wangen flog.
Die Ankunft Gustavs verhinderte seine jüngere Schwester, Hedwig nach ihrer Gewohnheit noch länger zu quälen. Der Vater sah noch ernster aus als vorhin, er hatte sich in seinen Lehnstuhl gesetzt, und die strengen Augen auf die Türe geheftet; bang und ängstlich pochte den Schwestern das Herz, als jetzt die Türe aufging und ihr Bruder hereintrat. – Nach dem ersten »guten Morgen« trat für alle drei Partieen eine peinliche Pause ein; endlich trat der Sohn bescheiden zum Vater. »Sie haben mich wohl diesen Morgen vermißt, Vater?« fragte er. »Es ist allerdings ein seltner Fall in unserm Hause, und Sie wurden vielleicht besorgt um mich.«
»Das nicht«, antwortete der Alte sehr ernst; »du bist alt genug, um nicht verlorenzugehen; aber zweierlei ist mir aufgefallen, nämlich daß man dich nur eine Stunde auf dem Karneval sah, und daß du diese Nacht und ihre Lustbarkeiten so unregelmäßig lang bis morgens neun Uhr ausdehnst; du solltest schon seit einer halben Stunde in deiner Kanzlei sein.«
»Ich bin heute dort entschuldigt«, sagte Gustav lächelnd; »ich habe aber auch seit heute früh ein Uhr so schrecklich geschwärmt und so unordentlich gelebt, daß es kein Wunder ist, wenn man so spät zu Hause kömmt; ratet einmal, ihr Mädchen, wo ich gewesen bin.«
Die Schwestern sahen ihn unwillig an, denn sie befürchteten mit Recht, dieser leichtfertige Ton möchte dem alten Herrn mißfallen. »Wie können wir dies wissen?« erwiderte Hedwig; »ich habe nie darnach gefragt, wo du dich mit deinen Kameraden umtreibst; doch heute, Bruder, bist du mir ein Rätsel.«
»Und in einem Lustschloß bin ich gewesen«, fuhr der junge Mann fort, »wo weder ihr beiden, noch Papa jemals waren; ihr erratet es doch nie – auf der Wache.«
»Auf der Wache!« riefen die Schwestern entsetzt.
»Das ist mir sehr unangenehm, Gustav«, setzte der Landschaftskonsulent hinzu; »meines Wissens bist du der erste Lanbek, den man auf die Wache setzte.«
»Mir ist es doppelt unangenehm«, antwortete sein Sohn, indem er den Vater fest anblickte, »weil es im Grunde eine Namensverwechslung zu sein scheint; denn meines Wissens bin nicht ich jener Lanbek, der die Szene an dem Tisch des Juden aufführte.«
Der Alte sah ihn bleich und betroffen an. »Gehet ins Nebenzimmer, Mädchen!« rief er, und als sich die Schwestern staunend, aber schnell und gehorsam zurückgezogen hatten, faßte er die Hand seines Sohnes, zog ihn auf einen Stuhl neben sich nieder und fragte hastig, aber mit leiser Stimme: »Was ist das? woher weißt du? wer sagte dir davon?«
»Er selbst«, antwortete der Sohn. »Der Jude?« fragte der Alte, »wie ist dies möglich?«
»Er war bei mir auf der Wache; ich sehe, wie Sie staunen, Vater, aber bereiten Sie sich auf noch wunderlichere Dinge vor.« Der junge Mann hielt es für das beste, seinem Vater so viel als möglich zu entdecken; er erzählte ihm also, wie aufgebracht der Minister auf den Konsulenten und seine Partei sei, wie der Sohn ihm widersprochen, wie der Minister, statt in heftigeren Zorn zu geraten, ihn plötzlich zum Expeditionsrat ernannt habe. Nur Leas erwähnte er mit keiner Silbe, der Kapitän hatte ihm dies geraten, und er beschloß davon zu schweigen, bis er seine Maßregeln getroffen hätte oder die Entdeckung des unglücklichen Verhältnisses unvermeidlich wäre.
»Ich sehe, was ich sehe«, sprach der Konsulent nach einigem Nachdenken. »Meinst du, wenn er uns nicht gefürchtet hätte, er würde mich geschont und dich dafür ergriffen haben, um mich gleichsam durch seine Gnade zu beschämen? Er hat mich gefürchtet, und er hat alle Ursache dazu. Ich bin ihm zu populär, und auch du wirst ihm nach und nach zu bekannt mit den hiesigen Bürgern weil du jetzt statt meiner die Armenprozesse führst. Der Expeditionsrat ist – eine Falle, die er uns beiden legen wollte, der kluge Fuchs.«
»Wie verstehen Sie dies, Papa?« fragte Gustav, dem es leichter ums Herz wurde, seit er ahnete, wie sein Vater die Sache aufnehme.
»Sieh Freund«, sprach der Alte zutraulicher, als er je getan, »du wirst das Opfer dieser Kabale, aber so wahr ich dein Vater bin, du sollst es nicht lange sein. Dieser Jude denkt aber also: Verwehre ich dir, diese Stelle anzunehmen, weil du dadurch in übeln Geruch kommen könntest, so macht er es zu seiner Ehrensache, beklagt sich beim Herrn und ergreift die einzige Gelegenheit, die sich bot, mich zu zwingen auch mein Amt aufzugeben. Er kennt mich, er weiß, daß er sowenig als der Herzog mich absetzen kann, er weiß auch, wer der alte Lanbek ist, nämlich – sein Feind. Nehmen wir die Stelle an, kalkulierte er weiter, so werden wir verdächtig bei allen, die das Bessere wollen. Der Vater, Konsulent der Landschaft, würde man denken, der Sohn – Expeditionsrat; gekauft hat ihm der Alte die Stelle nicht, und der Süß gibt bekanntlich nichts ohne großen Gewinn an Geld oder geheimem Einfluß, folglich – sind wir übergetreten zu dem Gewaltigen. So glaubt er, werden die Leute urteilen, und er hat es recht klug gemacht, aber er kennt mich nicht ganz; noch weiß ich, gottlob! ein Mittel, uns das Vertrauen der Bessern zu erhalten, und du – wirst und bleibst Expeditionsrat; ändern sich die Verhältnisse, so wirst du wieder Aktuarius, und die Menschen erkennen dann deine Unschuld.«
»Aber Vater!« sagte der junge Mann zaudernd, »Ihr Ruf ist felsenfest, aber der meinige? wie lange wird es noch anstehen, bis die Verhältnisse sich ändern!«
»Sohn!« erwiderte der Alte nicht ohne Rührung, »du siehst, wie dieses schöne Land bis in sein innerstes Mark zerrüttet ist; meinst du, es könne immer so fortgehen? – Glaube mir, ehe der Frühling ins Land kommt, muß es anders werden; schlechter kann es nimmer werden, aber besser. Darum glaube mir und vertraue auf Gott!«