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»Diese ›Ritter von Marienburg‹«, nahm der Alte das Wort, »beschäftigen sich mit keinem großartigen historischen Ereignisse. Schon fünfzig Jahre, ehe das Unglück des Ordens in Ostpreußen wirklich hereinbricht, gewahrt man, daß er sich nie mehr zu seinem alten Glanze erheben, daß früher oder später die Elemente selbst, die seine Größe beförderten, seinen Sturz bereiten werden. Er fällt, denn er hat seinen Beruf erfüllt. Aber an die geschichtliche Figur des Großmeisters, an die Täler der Nogat, an die Mauern der erhabenen Burg weiß jener Hüon Fäden anzuknüpfen, woraus er ein erhabenes Gewebe schafft. Ich möchte sagen, er baut aus den Trümmern jenes gestrandeten Schiffes eine Hütte, worin sich bequem wohnen läßt.«
»Nun verstehe ich Sie«, rief der Stallmeister, »und weil sie diesen Standpunkt nicht erreichten, weil sie diese höhere Ansicht nicht erfassen mögen, kämpfen jene Leutchen gegen diesen historischen Roman. Es ist Brotneid, sie wollen ihn nicht aufkommen lassen, weil er die Kunden an sich ziehen könnte.«
»Hat er nicht recht, der Herr Stallmeister?« wandte sich der Magister lächelnd an seinen Nachbar. »Sie schimpfen alle aufeinander und zusammen auf jedes Größere, diese Kleinmeister. Mich freut es nur, daß mein Doktor Zundler auch bei der furchtbaren Freitags-Trias ist.«
»Ihr Doktor Zundler?« fragte Kempen befremdet. »Kennen Sie ihn?«
»Ob ich ihn kenne?« erwiderte der Alte lachend.
»Der Herr Stallmeister macht keinen schlimmen Gebrauch davon«, sagte Palvi zu dem Magister, »und zu größerem Verständnis der Poesie ist es ihm nützlich, wenn er es weiß. Bist du es zufrieden, Alter?«
»Es sei; aber der Herr Stallmeister wird diskret sein«, antwortete der Alte.
»Was werde ich erfahren?« fragte Rempen. »Wie geheimnisvoll werden Sie auf einmal!«
»Sie kennen den Doktor Zundler, einen der ersten Lyriker dieser Stadt«, sprach Palvi, »sein Ruhm war früher gerade nicht sehr groß, doch etwa seit einem halben Jahre regt er die Flügel mächtig. Hier sitzt der Deukalion, der sie ihm gemacht hat.«
»Wie soll ich dies verstehen?« erwiderte der Stallmeister.
»Unser Magister hier ist ein sonderbarer Kauz«, fuhr jener fort, »einer seiner bedeutendsten Fehler ist Ängstlichkeit, sonderbar verschwistert mit Gleichgültigkeit. Er hätte es weit bringen können auf dem deutschen Parnaß, aber er war zu ängstlich, um etwas drucken zu lassen. Doch wie vermöchte ein dichterischer Genius, von diesem Hindernisse sich besiegen zu lassen; er dichtete fort, für sich.«
»Ich machte Verse«, fiel der Alte gleichgültig ein.
»Du hast gedichtet!« sagte Palvi. »Aber seine besten Arbeiten, seine gründlichsten Forschungen hat er um acht Groschen den Bogen in Journale verzettelt, weil er sich scheute, seinen Namen auf ein Titelblatt zu setzen; und von den glühendsten Poesien seiner Jugend fand ich die einzigen Spuren in halbverbrannten Fidibus. In meinen Augen bist du entschuldigt, guter Magister, durch deine Erziehung und die Art und Weise deines Vaterlandes. Wer hat sich dort zu deiner Zeit um einen Geist, wie der deine war, bekümmert? Was hat man für einen Mann getan, der nicht in die vier Kardinaltugenden, in die vier Himmelsgegenden der Brotwissenschaft, in die vier Fakultäten paßte? Haben sie ja sogar Schiller zwingen wollen, Pflaster zu streichen, und Wieland floh das Land der Abderiten, weil es dort keinen Raum für ihn gab, als den Posten eines Stadtschreibers, den er freilich so schlecht als möglich ausgefüllt haben mochte.«
»Mensch, nichts Bitteres gegen mein schönes Vaterland«, sagte der Alte mit sehr ernstem Blick; »es war die Wiege großer Männer.«
»Du sagst es«, erwiderte Palvi, »die Wiege, aber nicht das Grab; und dieser Umstand mag seine eigenen Ursachen haben. Zum mindesten findet man in Odessa wie am Mississippi, in Polen und in Rio Janeiro, und überdies noch auf den Kathedern aller bekannten Universitäten deine Landsleute. Doktor Zundler nun, um von diesem zu reden, hatte das Glück, eines Tages eine Wohnung zu beziehen, in deren Giebel unser Magister ein Freilogis bewohnt, weil er den Knaben des Hausherrn zum Gelehrten bilden soll. Doktor Zundler hat, um sich zum Dichter zu bilden, viel gelesen, und hat den großen Menschenkennern bald abgemerkt, daß sie auf Originale Jagd machen. Er stellt sich daher alle Tage zwei Stunden mit seinem Glas unter das Fenster, und stellt Betrachtungen über die Menschen an, wie der selige Hoffmann in ›Vetters Eckfenster‹, nur, behauptet man, mit verschiedenem Erfolg. Denn der selige Kammergerichtsrat guckte durch das Kaleidoskop, das ihm eine Fee geschenkt, der Doktor Zundler aber durch ein ganz gewöhnliches Opernglas. Da sah er einigemal den Magister und – nun, Bunkerchen, erzähle.«
Ein behagliches Lächeln verbreitete sich über das Gesicht des Alten; er trank in längeren Zügen aus seinem Glas und erzählte dann: »Eines Tages sagte mir meine Aufwärterin, daß sich der wunderschöne, reiche Herr in der Beletage nach mir erkundigt habe, wer ich wäre, was ich treibe und dergleichen. Bald darauf kam ein schön geputzter Herr in mein Stübchen, beguckte mich von allen Seiten, fragte mich allerlei, und wunderte sich ungemein, daß ich ein Gelehrter sei. Er hatte mich, meiner Physiognomie nach, für einen unglücklichen Musiker gehalten. Sein Staunen wuchs, als er einige poetische Versuche, die am Boden lagen, aufnahm und las. Er wollte nicht glauben, daß sie von mir herrühren, und nahm sie endlich ›aus reinem Interesse‹, wie er sagte, mit. Den folgenden Tag schickte er mir ein paar Flaschen Wein. Es freute mich, ich hatte gehört, daß er reich sei; ich bin arm, und trank den Wein. Als ich die erste Flasche hinunter hatte und warm war, ging die Tür auf und mein Doktorchen kam herein. Ein Wort gab das andere; man kam auf Poesie, ich machte wenig daraus, er viel; er schwatzte mir etwas vor von einer Erbschaft, die er gewinnen könne von seinem Oheim, einem portierten Verehrer der Musen. Seine bisherigen Versuche haben aber nur den Unwillen des Erblassers erregt. So machte es sich von selbst, daß ich ihm meinen ganzen Kram von Poesie anbot; mich selbst amüsierten diese Verse nur solang ich sie entwarf und ausarbeitete; ob sie das Publikum lese, ob es mich dabei nenne, war ja so gleichgültig! Im Scherz ging ich einen Akkord ein, daß ich ihm auch eine Novelle und später einen Roman schriebe. Er gibt mir dafür Wein, Knaster, zuweilen Geld, und ich habe das Bequeme, daß niemand, weder in Lob noch Tadel, meinen Namen nennt, was mir unausstehlich ist, und daß ich mich mit keinem Journalredakteur, mit keinem Buchhändler, keinem Rezensenten herumbeißen muß.«
»Ist dies nicht köstlich, Stallmeister?« fragte Palvi lachend. »Was halten Sie von diesem trefflichen Lyriker, von diesem Zundler, der ohne fremden Stahl und Stein kein Feuer gibt?«
»Ist es möglich!« rief der junge Rempen staunend aus. »Ist eine solche lächerliche Niederträchtigkeit jemals erhört worden! Und diesen Menschen konnte auch ich für einen Dichter halten, konnte den Genius bewundern, der auf einmal über ihn gekommen? Und auch sie, auch sie«, fuhr er in Gedanken versunken fort, »auch sie ehrt und achtet ihn darum, zeichnet ihn aus, spricht mit ihm über seine neuesten Werke. Es ist um rasend zu werden!«
Palvi sah den jungen Mann bei diesen Worten teilnehmend, beinahe gerührt an; er schien mit Mühe eine tiefe Wehmut zu bekämpfen, aber der Alte fuhr fort: »Solch belletristisches Ungeziefer, das sich vom Marke anderer mästet, hätte ich schon längst gern in der Nähe geschaut, und so studierte ich diesen Hohlkopf. Wenn allerlei Mittel von außen her einen Dichter machen könnten, er müßte es längst sein. Denken Sie sich, er trägt, wenn er sich zum Dichten niedersetzt, einen Schlafrock, dessen Unterfutter aus einem Schlafrock gefertigt ist, den einst Wieland trug. Hoffmanns Dintengefäß hat er in Berlin erstanden; von einem Sattler in Weimar aber den ledernen Überzug eines Fauteuil, in welchem Goethe oft gesessen. Mit diesem hat er seinen Stuhl beschlagen lassen, und so will er seine Phantasie gleichsam a posteriori erwärmen. Auch liegt auf seinem Tisch eine heilige Feder, Schiller soll damit geschrieben haben. Er hat gehört, daß große Dichter gern trinken, darum geht er morgens ins Weinhaus und zwingt sich zu einer Flasche Rheinwein. Abends aber, wenn er schon ganz dumm und schläfrig ist, trinkt er schwarzen Kaffee mit Rum, und liegt dann in schrecklichen Geburtsschmerzen und ist gewärtig, irgendeine neue ›Maria Stuart‹ oder ›Jungfrau von Orleans‹ hervorzubringen.«
Während der Magister Bunker also sprach, schlug es eilf Uhr, und nicht sobald hatte er den ersten dumpfen Ton der Glocke vernommen, als er hastig sein Glas austrank, einige Groschen auf den Tisch legte, dem erstaunten Stallmeister mit einer gewissen freundlichen Rührung die Hand bot, und sie ihm und Palvi herzlich drückte. Dann aber rannte er so eilends aus dem »Entenzapfen«, daß Rempen nicht einmal sein freundliches »Gute Nacht« erwidern konnte.
»Sie staunen«, sprach der Referendär, »daß uns der sonderbare Mensch so plötzlich und verwirrt verläßt. Er wohnt bei einem strengen Mann, der immer fünf Minuten nach eilf Uhr die Haustüre schließt. Weil nun der arme Magister eigentlich als Almosen sein Freilogis genießt, darf er keinen Hausschlüssel führen, wie Leute, die ordentlich bezahlen, und so jagt er, wie ein Gespenst, das mit dem Hahnenschrei in sein Grab entweicht.«
»Ist dieser Mensch glücklich oder unglücklich zu nennen?« fragte Rempen nicht ohne Bewegung.
»Ich denke glücklich«, erwiderte Palvi sehr ernst; »wer wenig hofft, hat nichts zu fürchten; er ist ruhig. Die Zeit mildert ja alles, und für die Erinnerung ist er kalt geworden.«
»Hat er je geliebt?«
»Er hat geliebt, die Tochter jenes Hauses in Kurland, wo er Erzieher war. Er muß sehr liebenswürdig gewesen sein, denn die junge Gräfin starb nachher aus Kummer. Er selbst aber brachte zwei Jahre tiefer Schwermut in einem Irrenhause zu.«
»Gott, welch ein Schicksal!« rief der junge Mann gerührt. »Wer hätte dies ahnen können? er hat uns eine so heitere Außenseite gezeigt.«
»Wozu soll er seinen Schmerz zur Schau tragen?« entgegnete Palvi; »er gehört nur sein, und er verschließt ihn mit den Trümmern besserer Tage in seiner Brust. Ich denke, es ist dies die einzige Art, wie Männer leiden müssen.«
»Es müßte mich alles täuschen«, sagte Rempen nach einer Pause, »oder auch Sie lieben nicht glücklich. Nennen Sie mich nicht unbescheiden. Sie haben mir zuviel Interesse eingeflößt, als daß nicht meine wärmste Teilnahme bei dieser Frage wäre.«
Der Referendär sah ihn überrascht, doch nicht gerade verwundert an; sein ernstes, dunkles Auge schien die Züge des Fragenden noch einmal zu prüfen. »Es gibt wenige Menschen«, antwortete er, »die diese Frage an mich gerichtet hätten. Doch an Ihnen freut mich gerade diese Offenheit. Ich weiß, Sie meinen Elise Wilkow; ich liebe sie.«
»Und werden wiedergeliebt?« fragte Rempen errötend.
»Ich zweifle; doch möchte ich von Ihnen nicht verkannt werden, darum will ich Ihnen die kurze Geschichte dieser Liebe geben. Meine Eltern, sie sind beide tot, lebten in dieser Stadt. Unser Haus war mit den Wilkows sehr befreundet, denn mein und Elisens Großvater sind aus demselben Lande hier eingewandert. Ich bin um so viel älter denn Elise, daß uns unsre Kinderspiele nicht zusammenführten. Wohl aber durfte ich, als auch meine Mutter starb, das Haus hin und wieder besuchen, und ich faßte in einem noch sehr jungen Herzen eine glühende Neigung für das schöne Kind. Nach den ersten Jahren meines Universitätslebens kam ich hieher. Sie war herrlich herangeblüht und gestand mir, daß sie mir recht gut sei. Elise war damals fünfzehn Jahre alt. Ich kam in rohe Gesellschaften. Mein Vermögen und mein Stipendium reichten nur das erstemal hin, meine Schulden zu decken. Das zweitemal drückte mich eine bei weitem geringere Verlegenheit bei weitem unangenehmer, weil ich keinen Rat wußte. Sie hatte es erfahren, und durch fremde Hand wurden meine Schulden getilgt. Mädchen in guten Ständen, in einem soliden Hause aufgewachsen, wissen nicht, wie leicht ein armer Teufel in solche Verlegenheit kömmt. Sie schmälte mich in den Ferien und hielt mich für einen schlechten Menschen. Ich versprach Fleiß und solides Leben. Das Unglück eines meiner Freunde, der einen andern erschoß, riß mich mit fort und wieder ins Elend. Auch da hat sie mir wieder geholfen und mich zu Ehren gebracht. Bei so vielen Wohltaten konnte mich vor mir selbst nur der Gedanke entschuldigen, daß es die Hand der Geliebten sei, die mich gerettet, daß ich diese Hand einst auf immer in die meinige legen werde.
Ich raffte mich zusammen, und bald darauf gelang es mir durch Fleiß, hier angestellt zu werden. Meine Stellung zu Elisen war aber eine ganz andere geworden. Der alte Wilkow hatte erfahren, wie mich seine Tochter unterstützt hatte, und verbot mir schon beim ersten Besuch sein Haus, aus dem einfachen Grunde, weil ich arm und leichtsinnig sei.
Elise selbst lebte in großen, glänzenden Zirkeln, wo ich keinen Zutritt hatte, verkehrte mit allerlei schönen Geistern, und galt für die Krone der jungen Damen. Ich konnte sie höchstens in öffentlichen Gärten, auf Bällen und Konzerten, im Theater sehen. Und nur ihr freundlicher Blick konnte mich für so viel Entsagung trösten, konnte mich von dem beinahe Unbegreiflichen überzeugen, daß dieses allgemein angebetete Geschöpf – mich liebe.«
Der Stallmeister suchte vergebens seine Bewegung zu verbergen. Ein hohe Röte lag auf seinem Gesicht, und sein Auge hing voll Erwartung an den Lippen Palvis.
»Beruhigen Sie sich«, sagte dieser, als er den unangenehmen Eindruck bemerkte, den seine Erzählung auf den jungen Mann machte. »Fürchten Sie nichts, ich werde bald zu Ende sein. Ich war glücklich und zufrieden; ich kannte ihre Vorliebe für Poesie, und die Liebe ermutigte mich, einen Versuch zu wagen, der mich ihr noch werter machen sollte. Ich strengte alle meine Kräfte an, um sie mit etwas Gelungenem zu überraschen. Da brachte man mir eines Tages einen Brief. Ich erkannte ihre Züge, ich riß ihn auf und – sie schrieb mit kurzen, aber heftigen Worten, daß sie sich auf ewig von mir lossage, daß sie mich in tiefer Seele verachte; warum? werde mir mein eigenes Gewissen sagen. Ich versuchte mancherlei Wege, um mich ihr zu nahen, mein Gewissen sprach mich von irgendeinem Fehler gegen die Geliebte frei, darum wollte ich mir Gewißheit über das Warum verschaffen. Sie wich überall aus, und noch heute – heute abend in jenem Zirkel hat sie alle meine Hoffnungen zertrümmert.«
In dem edelmütigen Herzen des jungen Rempen siegte Mitleiden über jedes andere Gefühl. Er faßte die Hand des unglücklichen, ihm so interessanten Mannes; er gelobte ihm bei Elisen für ihn zu sprechen, sie um die Ursache ihres Betragens zu befragen.
Aber jener erwiderte mit dem Stolze, den unverdiente Kränkung gibt: »Vertrauen ist die erste Bedingung der Liebe. Wo Vertrauen fehlt, da war nie Liebe, oder sie ist jedem Zufall ausgesetzt. Ich habe Elise auf immer verloren, selbst wenn sie mich wieder lieben würde.«
»Und in diesem Zustand wollen Sie hier fortleben?« fragte Kempen seine Hand ergreifend; »wollen Elisen sehen und dabei immer fühlen, daß Sie verachtet sind!«
»Nein, gewiß nicht«, erwiderte jener mit düstrem Lächeln; »mein Geschäft in dieser Stadt ist zu Ende. Es bleibt mir nur noch übrig, die Geliebte vor Menschen zu warnen, die ihrer nicht wert sind. Diesen literarischen Pöbel, der ihr so unendlich wert scheint, will ich noch vor ihren Augen entlarven; und ich glaube ihr damit nützlich zu sein, denn die Stellung, die Elise jetzt eingenommen, würde sie später nimmer glücklich machen. Sie selbst werden mir dazu helfen, mein Freund; schlagen Sie ein, wir wollen unsere Penelope von diesen Freiern erretten.«
»Wohlan!« rief der Stallmeister, indem er aufbrach, »vielleicht findet sich morgen schon Gelegenheit, wenn uns ›Die letzten Ritter von Marienburg‹ versammeln; aber dann«, setzte er entschlossen hinzu, »noch einen Versuch, um auch Sie glücklich zu machen!«
Der schöne Frühlingstag und die Furcht, für ungebildet zu gelten, wenigstens durch ihr Nichterscheinen geringes Interesse an der schönen Literatur zu verraten, vereinigte den größten Teil des Rempenschen Klubs in dem Gartensaal, den man zum Sammelplatz bestimmt hatte. Der junge Rempen war zu Pferd herausgekommen, geraume Zeit vor den übrigen Gästen, gedankenvoll setzte er sich auf den Altan des Hauses und schaute in den Fluß hinab. Wie so gern hätte er sich schon heute am frühen Morgen Gewißheit verschafft, warum Elise so plötzlich mit Palvi gebrochen, auf eine Weise gebrochen, die notwendig, er gestand es sich mit Schmerz, auf den Charakter des jungen Mannes einen düstern Schatten werfen mußte. Oft verwünschte er den gestrigen Tag, und daß er diesen Menschen kennengelernt habe, nur um ihn heute unaussprechlich zu achten, und vielleicht morgen zu verlieren, zu – bedauern; denn verachten? nein, es konnte keinen Fall geben, der ihm diesen Mann hätte verächtlich machen können. War es denn möglich, daß eine so großartige Seele etwas Gemeinem, Niedrigen sich hingeben konnte? »Er ist arm«, sagte der gutmütige Rempen zu sich, »er muß dürftig sein, denn seine Stelle kann ihn nicht ernähren; vielleicht hat er wieder Schulden gemacht, sie hat es erfahren, und deutet als Leichtsinn, was vielleicht Not ist? Aber kann, selbst wenn es Leichtsinn wäre, dieser den Geliebten in ihren Augen verächtlich, elend machen?« Wie ergrimmte er in seiner Gedankenfolge über jene Schranken, welche das Herkommen und die »gute Sitte« um vornehme Häuser und ihre Töchter gezogen, wie unnatürlich erschien es ihm, daß der Geliebte die Zürnende nicht in ihrem Hause, auf dem Wege, überall befragen, vielleicht versöhnen konnte, daß vielleicht ein kleines, aber sichtbares Ausweichen, eine scharfe und laut gesprochene Rede dazu gehörte, ihn, nach den Sitten der Gesellschaft, auf immer von sich zu entfernen! »Oder wie? sollte sie ihn vielleicht nie geliebt haben?« setzte er getrösteter hinzu. – »Es wäre möglich, daß ihm diese Gewißheit weniger schmerzlich wäre, als ihr Haß; aber – darf sie ihn deswegen hassen?«
Ein großer Zug von Damen und Herren hatte während dieser Gedanken des jungen Rempen den Berg erstiegen, und war jetzt in den Gartensaal getreten.
Noch fehlte Elise, aber man konnte nur um so ungezwungener ihren Geschmack und ihre Belesenheit bewundern. Auch Palvi wurde gebührendes Lob gespendet; man hatte selten mit dieser Gewandtheit, mit diesem Ausdruck etwas vorlesen gehört, und die Bewunderung stieg, als man sich sagte, daß er wahrscheinlich diesen Roman nicht zuvor gelesen habe. Elise kam mit Onkel und Tante Rempen angefahren, und Julius vergaß so ganz seine vorigen Gedanken, seine Vorsätze, daß er vor Freude errötend herbeisprang, sie aus dem Wagen zu heben, daß er halb unbewußt ihre Hand drückte, und dies erst erkannte, als er diesen Druck erwidert fühlte. Alle jene düstern Bilder, die auf dem Altan vor seiner Seele vorübergezogen, verschwanden vor dem Glanz ihrer Schönheit. Er hatte sie nie so reizend, so wundervoll gesehen, wenigstens so huldreich war sie nie gegen ihn gewesen. Den Grund davon gestand ihm in einer Ecke des Saals die Tante. Er hatte den Zirkel gestern abend so bald verlassen, daß Elise glaubte, sie habe ihn gekränkt. Dieser Gedanke erfüllte ihn jetzt so ganz, daß er in ihre Nähe eilte, daß er mit ihr sprach und scherzte, und erst durch die wiederholte Mahnung seines Onkels darauf aufmerksam gemacht werden konnte, daß die Gesellschaft sich bereits im Kreise gesetzt habe, und die Erzählung des Fräuleins Wilkow erwarte.
»Mein Unfall«, sprach sie mit leichtem Erröten, »hat mich gestern, wenn ich nicht irre, gerade bei der Zusammenkunft der Ritter mit dem Fräulein, getroffen. Des Fräuleins Vater, der nicht nur von außen, sondern auch im Innern dem Orden durch Zwischenträgerei und Uneinigkeit zu schaden sucht, hat überall Spione. Erwünscht ist ihm, daß ihm einer die Anzeige von jenem nächtlichen Rendezvous macht. Er denkt keinen Augenblick daran, daß es seine Tochter sein könnte, sondern schleicht sich mit Knechten in jene Ruinen und überfällt zuerst den Freund; die Dame und ihre Amme, die immer zugegen war, entfliehen; es kommt zum Gefecht, die Knechte werden in die Flucht geschlagen, und auch der Alte zieht sich zurück, doch nicht ohne sich vorher mit einem Zeichen von seinem Gegner versehen zu haben.
Den andern Tag versammelt der Großmeister ein Kapitel. Er entdeckt den Rittern diesen Vorfall und beschwört die Schuldigen, sich zu nennen. Sie schweigen. Noch einmal fordert er sie vergebens auf, und zeigt dann der Versammlung eine goldne Kette, woran ein Siegelring befestigt ist. Das Wappen wird erkannt, und der Freund sieht sich genötigt, zu gestehen. Er übersieht mit klarem Blick seine Lage; die geschärften Gesetze müssen ihn schuldig sprechen, darum ist für ihn keine Rettung. Doch glaubt er, da er selbst verloren ist, seinen Freund retten zu können. Er gesteht, in den Ruinen mit einer Dame gesprochen zu haben. Der Meister ist tief ergriffen von diesem Geständnis; es ist ein tapferer, junger Mann, den das Urteil trifft, er wurde von vielen geliebt. Peinlich ist die Lage des Helden selbst, und treffend die Beschreibung, wie die Furcht vor Entehrung, die Hoffnung, der Freund könne gerettet werden, ihn bald zur Entdeckung antreiben, bald davon zurückhalten. Das Urteil der Ritter wird gesammelt. Es lautet: ›Entehrender Ausschluß aus dem Orden.‹ Jetzt aber erzählt der Meister, daß noch ein zweiter Johanniter diesen Fehltritt geteilt habe; er verspricht, die Strafe in Entlassung zu mildern, wenn der Schuldige den Mitschuldigen entdecke. Jener schweigt und verratet ihn nicht. Da stürzt der Neffe des Meisters hervor, und bekennt seine ganze Schuld. Diese Szene, der Schmerz des alten Ulrich von Elrichshausen und der Wettstreit der Freunde, von welchen jeder der Schuldige sein will, ist so treffend, daß man sie hören muß.«
Jetzt erst sah man sich nach dem Vorleser um. Doktor Zundler sprang nach dem Buch, das auf dem Tische lag, um zu lesen, und hatte sich schon mit freundlichem, zuversichtlichem Lächeln Elisen genähert, als der alte Rempen plötzlich aus den dichten Reihen der Männer Palvi hervorführte. »Nein, nein«, sagte er, »hier steht der Mann, der uns gestern gezeigt hat, wie gut er einen Roman vorlese; ich denke, bester Doktor, Ihre Stimme paßt mehr zum Leichten, Lyrischen.« Mit spöttischem, halb verlegenem Lächeln reichte der Doktor das Buch hin, und Palvi las, wenn es möglich war, noch schöner als am gestrigen Abend. Diese erhabene und so unglückliche Freundschaft, die Zeremonien ihrer Ausstoßung aus dem Orden, ihre letzten Worte, als sie das Schloß verlassen, lockten in manches Auge Tränen der Wehmut, und Elise selbst schien so gerührt, daß Palvi mehrere Kapitel weiterlas, um ihr Fassung zu geben. Unsern Lesern ist dieser Roman zu bekannt, als daß wir nicht besorgen müßten, sie durch längere Auseinandersetzung zu ermüden. Jene interessanten Abteilungen, wo die beiden verstoßenen Ritter an den romantischen Ufern der Nogat umherstreifen, jene glücklichen Schilderungen eines schönen Landes, die Nachrichten über die alten Preußen, in deren Mitte der Orden zwei Jahrhunderte zuvor den Samen der Kultur getragen hatte; ihre altertümlichen Gebräuche, die unverkennbaren Spuren heidnischer Sitten, auf sonderbare Weise mit christlichem Ritus vermischt, dies alles, getragen und veredelt von der tiefen Melancholie Kunos, von seines Freundes Seelenstärke und heiterm, unverzagtem Mut, spannte die Zuhörer und riß sie hin.
Elise hatte sich bald wieder so weit gefaßt, daß sie mit Ruhe weitererzählen konnte. Sie erzählte, wie die beiden Vertriebenen die Verräterei des Ordenskastellans entdecken, der die Polen heimlich nach Marienburg rief; wie sie unter Gefahr und Beschwerden sich durch die aufrührerischen Preußen nach Marienburg durchschlagen, den Meister warnen und verborgen auf Gelegenheit harren, dem Orden zu nützen. Mit großer Begeisterung las Palvi jene Schlachtszenen, worin der Meister, bei einem Ausfall auf die Polen, von seinem Neffen gerettet wird, wo der Freund die heilige Fahne des Ordens, der ihn verstoßen, aus dem dichtesten Haufen der Feinde zurückbringt, und diese erhabene Tat mit einer tödlichen Wunde zahlt. Tiefe Rührung brachten jene Stellen hervor, wo der Sterbende seinem Freund so manches Rätselhafte in seinem Betragen auflöst, und ihm gesteht, daß auch er selbst Wanda aufs innigste geliebt habe. Der Schmerz um den Sterbenden bewegt Kuno zu dem romantischen Entschluß, seiner Liebe auf immer zu entsagen, besonders da ein Verdacht in ihm keimt, daß sie ihn weniger geliebt, als den Freund. Die nächtliche Bestattung dieses edeln Menschen, die Wiederaufnahme Kunos in den Orden waren von ergreifender Wirkung, nicht minder rührend Wandas Versuche, den Geliebten noch einmal zu sprechen, und als sie sich vergessen glaubt, ihr schnelles Hinwelken.
Der Kastellan ist von dem Czirwenka, dem Hauptmann der böhmischen Besatzung, der dessen Geständnis fürchtet, selbst getötet worden; verlassen, verwaist, auch von der Liebe verlassen, will sie nur so lange noch in der Nähe des Geliebten weilen, bis der Frühling heraufkommt; doch nicht nur diese zarte Blume, auch der Orden trägt den Tod im Herzen, und beide sollten den letzten Frühling in Marienburg sehen.
Der Großmeister Ulrich von Elrichshausen kann sich mit seinen Rittern nicht mehr gegen den Aufstand der Preußen und gegen seine eigenen Söldner halten. Er will den Orden nach Deutschland führen, und bedingt sich von den Verrätern freien Abzug. Schon sind die Pferde gerüstet, der Zug will aufbrechen, und die Ritter nehmen mit blutenden Herzen von den Hallen dieser Burg Abschied. Und als alle noch einmal ihr Teuerstes mustern, was sie verlassen sollen, kann Kuno dem letzten Ruf der Geliebten nicht widerstehen; er will zu ihr und – findet sie sterbend. Sie schien nur noch so viel Leben in sich zu tragen, um ihn von ihrer Treue, ihrer Liebe zu versichern. Indessen hat Czirwenka die Tore geöffnet. Sechshundert Polen ziehen ein, und, statt dem Orden freien Abzug zu gönnen, wird der Großmeister vom Pferde gerissen, verspottet und verhöhnt. Kuno verläßt die sterbende Geliebte, um ihm beizuspringen; ein heftiges Gefecht entspinnt sich in den Höfen; einem großen Teil der Ritter, den Meister in der Mitte, gelingt es, zu entkommen, aber Kuno mit sechs andern tapfern Ordensbrüdern, welche die Fahnenwache bildeten, werden von den übrigen abgeschnitten; kämpfend ziehen sie sich über die breiten Stufen bis in den großen Rempter zurück, wo sonst die Ordensfahne stand. Der Entschluß, sie lebend nicht zu übergeben, beseelt sie, sie pflanzen das Panier an seinem alten Standpunkt auf und umgeben es. Lange gelingt es ihnen, das Siegeszeichen so vieler Schlachten zu verteidigen. Aber die Polen dringen immer heftiger ein; Übermacht und Verrat siegen, und über ihre Fahnen gebreitet, sterben die letzten Ritter von Marienburg.