Wilhelm Hauff
Novellen
Wilhelm Hauff

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5

Als der Gast am folgenden Morgen nach einer sorgfältigen Toilette hinabging, um mit seinen Verwandten zu frühstücken, konnte er sich anfänglich in dem alten Gemäuer nicht zurechtfinden. Ein Diener, auf welchen er stieß, führte ihn dem Saal zu, und an den Gängen und Treppen, die er durchwandern mußte, bemerkte er erst, was ihm gestern nicht aufgefallen war, daß er im entlegensten Teil dieser Burg geschlafen habe. Auf sein Befragen gestand ihm der Diener, daß sein Gemach das einzige sei, das man auf jener Seite noch bewohnen könne, und außer dem Wohnzimmer mit den gewirkten Tapeten, dem Schlafzimmer des alten Herrn, dem Saal, dem kleinen Zimmerchen in einem andern Turm, wo Fräulein Anna wohne, sei nur noch das ungeheure Bedientenzimmer, das früher zu einer Küche gedient habe, und die Wohnung des Amtmanns einigermaßen bewohnbar; die übrigen Gemächer seien entweder schon halb eingestürzt, oder werden zu Fruchtböden und dergleichen benützt. Der stolze Sinn des Oheims und die fröhliche Anmut seiner Tochter standen in sonderbarem Widerspruch mit diesen öden Mauern und verfallenen Treppen, mit diesen sprechenden Bildern einer vornehmen Dürftigkeit. Der junge Mann war, wenn nicht an Pracht, doch an eine gewisse reinliche Eleganz in seiner Umgebung selbst an den Treppen und Wänden gewöhnt, und er konnte daher nicht umhin, seine Verwandten, die in so großer, augenscheinlicher Entbehrung lebten, für sehr unglücklich zu halten. Das romantische Interesse, das der erste Anblick dieser Burg für ihn gehabt hatte, verschwand vor dieser traurigen Wirklichkeit, und wenn er sich dachte, wie die Mauerrisse und Spalten, durch welche jetzt nur die warme Morgensonne hereinfiel, den Stürmen des Winters freien Durchgang lassen mußten, war ihm Annas Furcht vor dieser Jahrszeit wohl erklärlich.

»Und ein so zartes Wesen diesen rauhen Stürmen ausgesetzt«, sagte er zu sich, »ein so reicher und gebildeter Geist ohne Umgang, vielleicht ohne Lektüre, einen ganzen Winter lang in diesen Mauern vom Schnee und Wetter gefangengehalten, einsam bei dem ernsten, feierlichen, alten Mann! Und dieser ehrwürdige Alte, der einst bessere Tage gesehen, durch die Ungunst der Zeit in unverschuldete Dürftigkeit und Entbehrung versetzt!« Von so gutmütiger Natur war das Herz des jungen Mannes, daß er vor der Türe des Saales halb und halb den Entschluß faßte, um die schöne Anna zu freien, sie in die Mark zu führen, oder wenn ihm das Leben in Schwaben besser gefallen sollte, mit ihr in die Residenz zu ziehen und für den Sommer Thierberg wieder instand setzen zu lassen.

Der Alte empfing ihn mit einem herzlichen Morgengruß und derben Händedruck, und Anna erschien ihm heute noch freundlicher und zutraulicher, als gestern. Das Tagewerk der Knechte wurde in seiner Gegenwart angeordnet und mit Wonne sah er Anna eine Geschäftigkeit im Hauswesen entfalten, die er der feingebildeten jungen Dame nicht zugetraut hätte. Auch über ihre eigenen Geschäfte sprachen die Bewohner des Schlosses. Der Alte wollte vormittags mit seinem Verwalter rechnen, Anna den Gast unterhalten und einen Spaziergang mit ihm ins Tal hinab machen. Nach Tisch wollte sie bei einigen Damen in der Nachbarschaft Besuche abstatten, der Alte das Stück Wald, das ihm noch eigen gehörte, mustern und Albert sollte ihn begleiten. Der Abend sollte sie alle zum Spiel vereinigen. So angenehm dem jungen Mann die Aussicht war, einen ganzen Vormittag mit der schönen Cousine zu verleben, so erschreckte ihn doch ein so langer Waldspaziergang mit dem ernsten Oncle, der alle Augenblicke die sonderbarsten, vielseitigsten Kenntnisse verriet und in so hohem Alter noch ein Wortgedächtnis hatte, vor welchem jenem graute. »Wie, wenn er dich den ganzen Nachmittag ausfragte, was du gelernt hast!« sagte er zu sich. »Wie schnöde wird es dann an den Tag kommen, welche Lehrstühle und Säle in Berlin du nicht besucht, und wie schnell wird er ahnen, welche du besucht hast.« Einiger Trost für ihn war seine geläufige Zunge und ein wenig Disputierkunst, das einzige, was ihm von seinem Hofmeister übriggeblieben war. Doch wie einen zum Galgen Verdammten das Henkermahl noch erfreut, das ihm der Nachrichter zu- und anrichten muß, so richtete sich seine geängstigte Seele an der schönen Gegenwart auf. Und welcher Himmel ging ihm erst auf, als der Oncle, nachdem er schon Hut und Stock ergriffen hatte, sich noch einmal zu seinem Neffen wandte. »Noch etwas!« sagte er zu ihm, »solange Thierberg steht, ist es Sitte, daß die nächsten Verwandten gleicher Linie mit du unter sich reden; ich denke du wirst mit Anna keine Ausnahme machen, weil du hundert Meilen nördlicher geboren bist.«

Anna lächelte und schien es ganz in der Ordnung zu finden, aber mit freudeglühenden Wangen sagte der junge Mann zu; dankbar blickte er dem alten Oheim nach, der ihm in diesem Augenblick wie ein Bote der Liebe erschien. Leider vergaß er dabei, daß dieses Du nicht das süße, heimliche Du der Liebe sei, und daß ein so nahes Verhältnis zwar der Freundschaft förderlich, für die entstehende Liebe aber ein Hindernis sein könnte.

»Und du wolltest mir gestern abend noch Instruktionen geben«, sagte er, indem er sich in das Fenster zu dem Fräulein setzte. »Es ist mir angenehm, wenn du mir recht viel vom Oncle sagst, ich habe ihn mir durchaus anders gedacht, und daher kam nun wohl gestern abend mein Mißgriff.«

»Wie hast du dir ihn denn gedacht?« fragte Anna.

»Nun, ich setzte mir aus dem, was Mutter und Vater erzählten, ein Bild zusammen, das nun freilich nicht paßt. Seit mein Vater Kammerjunker an eurem Hofe war und nachher die Mutter nach Preußen heimführte, mögen es doch etwa dreißig Jahre sein. Damals war wohl Oncle etwa fünf- bis sechsunddreißig Jahre alt und man nannte ihn noch immer den Junker, denn der Großvater Thierberg lebte noch. Mein Vater beschreibt ihn nun gar komisch, wenn er auf ihn zu sprechen kommt. Er war hier im Schloß aufgewachsen, unter der Aufsicht seines Herrn Papa und seiner Frau Mama. Die guten Großeltern könnte ich malen. Sie müßten in den geblümten und ausgenähten Fauteuils sitzen, aufrecht und anständig frisiert; die Großmama in einem blauseidenen Reifrock, der Großpapa in einem verschossenen Hofkleid. Sie sind die regierende Familie in ihrem Land, der Amtmann und der Pastor ihr Hofstaat. Der Erbprinz lernte hier nicht viel mehr, als sich anständig verbeugen, die Hand küssen, reiten und jagen, und die Prinzessinnen sollen ihn an Bildung weit übertroffen haben. Die zwei Jahre Garnisonsleben bei den Reichstruppen hatten ihn nicht gerade verfeinert, und so soll er immer zur größten Lust der Verwandten gedient haben, wenn er um die Zeit, da man alljährlich die Remontepferde von Leipzig brachte, in die Residenz kam. Meine Mutter wurde damals bei Oncle Wernau erzogen und mein Vater kam täglich in das Haus. Wenn dann dein Vater im Herbst zu Besuch kam, verhehlte er nicht, daß er nur gekommen sei, um die schönen Remontepferde zu betrachten, zog den ganzen Tag bei Bereitern und in den Ställen umher, freute sich, mit seiner großen Pferdekenntnis glänzen zu können, und unterhielt abends die glänzende Gesellschaft bei Wernaus durch sein sonderbares Wesen, das zwar nie linkisch oder unanständig, aber im höchsten Grad naiv, ungezwungen und komisch war. Mein Vater sagte oft: ›Er war ein Bild der guten alten Zeit, nicht jener steifen Zeit, wo man den Hofton und die Reifröcke in jedem Winkel des Landes affektierte, sondern einer viel früheren. Er war das Muster eines schwäbischen Landjunkers.‹«

Der junge Mann hielt inne in seiner Beschreibung, als er sah, daß seine Zuhörerin lächelte. »Du findest vielleicht diese Züge unwahr«, sagte er, »weil sie auf heute nicht mehr passen und doch versichere ich –«

»Mir fiel nur«, erwiderte sie, »als du dies das Bild eines schwäbischen Landjunkers nanntest, jenes Buch ein, das beinahe mit denselben Zügen einen Landjunker in – Pommern schildert. Du versetzt nun dieses Bild in mein Vaterland, in dieses Schloß sogar; sonderbar ist es übrigens, daß beinahe kein Zug mehr zutrifft. In dem gut gemalten Bild eines Jünglings muß man sogar die Züge des Greisen wiedererkennen, doch hier –«

»Das wollte ich ja eben sagen; ich fand den Oncle so ganz und durchaus anders, daß ich selbst nicht begreifen konnte, wie er einst jener muntere, naive Junge habe sein können.«

»Ich spreche ungern mit Männern über Männer, ich meine, es passe nicht für Mädchen«, nahm Anna das Wort, »über meinen Vater vollends habe ich nie – beinahe nie gesprochen«, setzte sie errötend hinzu, »doch mit dir will ich eine Ausnahme machen. Ich zwar kenne den Vater nicht anders, als wie er jetzt ist; es ist möglich, daß er vor dreißig Jahren etwas anders war, aber bedenke, Vetter Albert, durch welche Schule er ging! Alles, alles was ihm einst lieb und wert war, hat diese furchtbare Zeit niedergewühlt. Oder meinst du, jene Verhältnisse, so sonderbar und unnatürlich sie vielleicht erscheinen, seien ihm nicht teuer gewesen? Wie oft, wenn die alten Herren von der vormaligen Reichsritterschaft im Saal waren und sich besprachen über die gute alte Zeit, wie oft hätte ich da weinen mögen aus Mitleid mit den Greisen, die sich nun so schwer in diese neuen Gestaltungen finden!«

»Aber ging es ganz Europa besser? denke an Spanien, Frankreich, Italien, Polen und das ganze Deutschland«, erwiderte der Gast.

»Ich weiß, was du sagen willst«, fuhr sie eifrig fort, »man soll über dem Unglück und der Umwühlung eines Weltteils so kleine Schmerzen vergessen; aber wahrlich, so weit sind wir Menschen noch nicht. Auf diesen Standpunkt erhebe sich wer kann, und ich meine, er wird auch in seiner Großherzigkeit wenig Trost, weder für sich noch für das Allgemeine finden. Und ich möchte überdies noch behaupten, daß unter allen, die überall gelitten haben, vielleicht gerade diese Ritterschaft nicht am wenigsten litt. Andere Wunden, die man nur dem Vermögen schlägt, heilen mit der Zeit, doch wo, nicht durch Revolution, sondern im Namen gesetzlicher Gewalt, so alte, lang gewöhnte Bande zersprengt, und Formen, die auf ewig gegründet schienen, zertrümmert werden, das eine Stück hierhin das andere dorthin gerissen – da werden die teuersten Interessen in innerster Seele verwundet. Wenn so die alten Hauptleute und Räte der Ritterschaft, einige Komturs und deutsche Ritter um die Tafel sitzen, so glaubt man oft Gespenster, Schatten aus einer andern Welt zu sehen. Doch wenn man dann bedenkt, daß dies alles, was sie einst erfreute, so lange vor ihnen zu Grabe ging, und diese Titel von der jungen Welt nicht mehr verstanden werden, so kann man mit ihnen recht traurig werden.«

»Es ist wahr«, bemerkte der Gast, »und man muß gerecht sein; sie wurden von früher Jugend in der Achtung und im ritterlichen Eifer für jene alten Formen erzogen, glänzten vielleicht eben im ersten Schimmer einer neuen Amtswürde, als das Unglück hereinbrach und alles auflöste; und wie schwer ist es, alten Gewohnheiten zu entsagen, alte Vorurteile abzulegen!«

»Um so schwerer«, setzte Anna hinzu, »wenn man ein Recht und gesetzliche Ansprüche darauf zu haben glaubt. Hätte man jene Bande sanft gelöst, man würde sich nach und nach gewöhnt haben; so aber war es das Werk eines Augenblicks. Vermögen, Ansehen und Würden gingen zugleich verloren und mancher wurde geflissentlich gekränkt. So wurde der Unmut über die Veränderungen zur Erbitterung. Der Vater hat oft erzählt, wie sie ihm an einem Tage alle Familienwappen von den Wänden gerissen, das Vieh geschätzt, Pferde weggeführt, die Braupfannen versiegelt und für Staatseigentum erklärt haben; die Mutter war krank, der Vater außer sich gebracht durch höhnische Behandlung der neuen Beamten, und um das Unglück vollkommen zu machen, legten sie fünfundsiebzig Franzosen in dieses Schloß, die nicht plündern, aber ungestraft stehlen durften, und wenn sie weiterzogen, nur ebenso vielen neuen Gästen Platz machten.«

»Wahrhaftig!« rief Albert, »ein solches Schicksal hätte wohl auch den fröhlichsten Junker ernst machen müssen!«

»Wie es ging, weiß ich nicht; nur so viel nahm ich mir aus Gesprächen ab, daß er seit jener Zeit ganz verändert sei. Er hielt sich meistens zu Hause, las viel und studierte manches. Er gilt jetzt in der Gegend für einen Mann, der viel weiß, und muß in manchen Fällen Rat geben. Doch um auf die Instruktionen zu kommen, die ich dir erteilen wollte, so kannst du sie aus dem, was ich dir erzählte, selbst abnehmen. Berühre nie die früheren politischen Verhältnisse, wenn du ihn nicht wehmütig machen willst, sprich nie von dem Kaiser –«

»Von welchem Kaiser?« unterbrach sie der Vetter.

»Nun von Napoleon, wollte ich sagen; er sieht ihn als den Urheber aller seiner Leiden an, und wenn etwa der General in diesen Tagen kommen sollte, laß dich in keinen politischen Diskurs ein; sie sind schon oft heftig aneinandergeraten.«

»Wer ist denn der General«, fragte Albert, »hat nicht dein Vater mich gestern aufgefordert mit ihm über die neuere Kriegszucht zu sprechen?«

»Der General Willi ist unser Nachbar«, erwiderte Anna, »und wohnt eine halbe Stunde von hier, den Neckar abwärts. Er gehört so sehr der neueren Zeit an, als der Vater der alten, und ich kann ihm seine Art zu denken ebensowenig verargen, als meinem Vater. Er machte in den früheren Feldzügen eine sehr schnelle Karriere und der Kaiser selbst soll ihn im Feldzug von 1809 beredet haben, unsern Dienst zu verlassen und in die Garde zu treten. Er war mit in Rußland, wurde bei Chalons gefangen und zog sich nachher gänzlich zurück. Hier hat er nun ein Gut gekauft, ist ein sehr vermöglicher Mann und lebt im Stillen seinen Erinnerungen. Du kannst dir denken, daß ein Mann, der in solchen Verhältnissen seine schönsten Jahre lebte, wohl auch noch heute von der Sache, für welche er einst focht, eingenommen ist; er ist, was man so nennt, ein eigensinniger Napoleonist, und hat wenigstens so gut als irgendeiner Grund dazu.«

»Wenn er ein Franzose wäre«, entgegnete Albert, »dann möchte es ihm hingehen. Aber für einen Deutschen schickt es sich doch wahrhaftig nicht. Es war keine Sache, für welche er focht, sondern ein Phantom.«

»Streiten wir nicht darüber«, fiel ihm Anna ins Wort. »Ich bin überzeugt, wenn du diesen liebenswürdigen, edlen Mann kennenlernst, wirst du ihm seinen Enthusiasmus vergeben.«

»Wie alt ist er denn?« fragte jener befangen.

»Ein guter Fünfziger«, erwiderte Anna lächelnd. »Mir aber scheint er, wie gesagt, für seine Gesinnungen ein so gutes Recht zu haben als der Vater. Wurde ja doch auch, was ihm groß und erhaben deuchte, zerstört und verhöhnt, und du weißt, daß dies nicht der Weg ist, die Menschen mit dem Neueren auszusöhnen. Die beiden Herren haben große Zuneigung zueinander gefaßt, obgleich sie in ihren Meinungen so schroff einander gegenüberstehen. Oft kömmt es unter ihnen zu so heftigem Streit, daß ich immer einmal einen wirklichen Bruch der nachbarlichen Verhältnisse voraussehe. Ich glaube, wenn mehr Damen zugegen wären, würde es nie so weit kommen, aber leider hat auch der General vor einigen Jahren seine Frau verloren. Sie war eine treffliche Frau, und meine Mutter schätzte sie sehr; der Vater konnte es ihr aber nie vergeben, daß sie eine Bürgerliche war, und seine Schwester, die jetzt eben bei ihm ist, pflegt immer nur auf kurze Zeit einzukehren.«

Der alte Thierberg, der in diesem Augenblick von seinem Amtmann zurückkam, unterbrach dieses Gespräch, das der junge Mann noch lange hätte fortsetzen mögen, denn Base Anna erschien ihm, wenn sie lebhaft sprach, wenn ihre Augen während ihrer Rede immer heller glänzten, und ihre zarten Züge jede ihrer Empfindungen abspiegelten, immer reizender, liebenswürdiger zu werden, und er glaubte aus dem Vergnügen, das ihr die Unterhaltung mit ihm zu gewähren schien, nicht mit Unrecht einen günstigen Schluß für sich ziehen zu dürfen.


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