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Es gibt im Leben einzelner Staaten Momente, wo der aufmerksame Beschauer noch nach einem Jahrhundert sagen wird, hier, gerade hier mußte eine Krise eintreten; ein oder zwei Jahre nachher wären dieselben Umstände nicht mehr von derselben Wirkung gewesen. Es ist dann dem endlichen Geist nicht mehr möglich, eine solche Fügung der Dinge sich hinwegzudenken, und aus der unendlichen Reihe von möglichen Folgen diejenigen aneinanderzuknüpfen, die ein ebenso notwendig verkettetes Ganze bilden, als ein verflossenes Jahrhundert mit allen seinen historischen Wahrheiten. Hier zeigte sich der Finger Gottes, pflegt man zu sagen, wenn man auf solche wichtige Augenblicke im Leben eines Staates stößt. Es hat aber zu allen Zeiten Männer gegeben, die, mochte ihr eigener Genius, mochte das Studium der Geschichte sie leiten, solche Momente geahnet, berechnet haben, und sie wirkten dann am überraschendsten, wenn sie sich nicht begnügten, solche Krisen vorhergesehen zu haben, sondern wenn sie Mut genug besaßen, zu rechter Zeit selbst einzuschreiten, Kraft genug, um eine Rolle durchzuführen. Die Geschichte hat längst über die kurze Regierung der Minister Karl Alexanders entschieden. Sie flucht keinem Sterblichen, sonst müßte sie die Tränen und Seufzer Württembergs in schwere Worte gegen die Urheber seines Unglücks im Jahre 1737 verwandeln; aber sie gedenkt mit Liebe einiger Männer, die sich nicht von dem Strome der allgemeinen Verderbnis hinreißen ließen, die ahneten, es müsse anders kommen, die vor dem Gedanken nicht zitterten, eine Änderung der Dinge herbeizuführen, und die auch dann mit Ruhe und Gelassenheit die Sache ihres Landes führten, als ein Höherer es übernommen hatte, einen unerwartet schnellen Wechsel der Dinge herbeizuführen, indem er zwei feurige Augen schloß und ein tapferes Herz stillestehen hieß.
Wer sollte es diesem heiteren Stuttgart und seinen friedlichen Straßen ansehen, daß es einst der Schauplatz so drückender Besorgnisse war? Wie beruhigt über den Gang der Dinge sind die Enkel derer, die in jenem verhängnisvollen März jede Stunde für das Schicksal ihrer Familien, für die alten Rechte ihres Landes, selbst für ihren Glauben zittern mußten.
Wer den übermütigen Süß in seiner Karosse, mit sechs Pferden bespannt, durch die »reiche Vorstadt« fahren sah, wie er stolz lächelnd auf die bleichen, feindlichen Gesichter herabblickte, die ihm überall begegneten; wer den schrecklichen Hallwachs, seinen innigen Freund und Ratgeber, neben ihm sah, und bedachte, wie viele verderbliche Pläne dieser Mann ersonnen, wie viele unerhörte Monopole er eingeführt habe und wie er immer neue zu erfinden trachte; wer das unbegrenzte Vertrauen kannte, das der Herzog in diese Menschen setzte, der mußte wohl an der Möglichkeit der Rettung verzweifeln.
Dazu kamen noch die sonderbaren und widersprechenden Gerüchte, die im Umlauf waren. Die einen sagten, der Herzog sei nach Philippsburg und Kehl gereist, habe aber das Regiment nicht an den Geheimen Rat, sondern das Siegel dem Juden Süß gegeben; andere widersprachen und behaupteten, man habe den Herzog an einem Fenster des Ludwigsburger Schlosses gesehen, auch seien seine Pferde noch dort und er sei nicht abgereist. In einem Dorf an der österreichischen Grenze im Oberland sollen die Katholiken plötzlich über die protestantischen Einwohner hergefallen sein, und als letztere den Kampfplatz behaupteten, sei eine Kompanie Kreistruppen über die Grenze herein ins Dorf gerückt. Am sonderbarsten klang das Gerücht, das sich überdies noch bestätigte, der Oberfinanzrat Hallwachs habe ein kostbares Meßgewand beim Hofsticker bestellt, und ihm befohlen, es bis zum 18. März fertigzumachen, und wenn er mit fünfzig Gesellen arbeiten müßte; bring er es nicht fertig, so werde er eingesetzt. Ein lutherischer Geistlicher, den man mit Namen nannte, soll den Kindern in der Schule Kreuzchen aus Holz geschnitzt geschenkt haben, mit den Worten: »Nur wenn ihr diese in Händen haltet, könnet ihr recht beten.« Endlich erzählte man sich als etwas Verbürgtes, der Jude habe zum Herzog über der Tafel gesagt: »Ihre Stände, Durchlaucht, sind eigentliche Widerstände; aber sie stehen schon so lange, daß sie müde und matt sind.« Karl Alexander habe ihm lächelnd zur Antwort gegeben: »C'est vrai; allons donc leur donner des chaises, et une fois assis, ils ne se leveront plus.« Auch jene Männer, die entschlossen waren, dem drohenden Verderben zuvorzukommen, hörten diese Gerüchte. Aber sie waren dabei kalt und ruhig; wußten sie ja doch, Württemberg stehe eine solche Veränderung bevor, daß es entweder erleichtert oder so tief ins Unglück gestürzt werden würde, daß der Jammer des einzelnen davor verstummen müßte. Man erzählt sich, sie haben alles, was dazu gehört, einem mächtigen und bösartigen Feind mit Hülfe des Landvolks zu begegnen, vorbereitet gehabt, und wenn ihr Unternehmen gelingen sollte, so verdankten sie es nur den wenigen hellstrahlenden Namen einiger Männer aus der Landschaft; denn an diese war man in Württemberg gewöhnt das Interesse des Landes zu ketten.
Es war spät abends den 11. März, als der Landschaftskonsulent Lanbek mit seinem Sohne und dem Kapitän Reelzingen in seiner Wohnstube beim Wein saß. Die beiden Lanbek waren ernst und düster, der Kapitän aber konnte auch jetzt seinen fröhlichen Lebensmut nicht verbergen, denn er teilte seine Aufmerksamkeit und sein Gespräch zwischen der Fensternische, wo die beiden Schwestern Gustavs saßen, und zwischen den beiden Männern an seiner Seite. Hedwig sah bleich und still vor sich hin auf ihre Nadeln, aber auf Käthchens Gesichtchen lag eine höhere Röte als gewöhnlich, und alle Augenblicke zeigte sie die weißen Zähne und die schönen Grübchen in ihren Wangen, denn der Kapitän wußte wieder wunderschöne »Spaße und Geschichten«.
»Wie ist Euer Pferd, Kapitän?« fragte der alte Lanbek.
»Mein Fuchs ist ein besserer Infanterist als ich selbst«, erwiderte er; »wenn ich die sechs ersten Stunden Trab und bergauf Schritt reite, so kann ich die nächsten sechs bequem Galopp reiten. Er hat nur einen Fehler, den, daß er noch nicht bezahlt ist, und macht mir durch diese Untugend oft großen Jammer.«
»Ihr könnt«, fuhr der Alte fort, »wenn ihr von der Galgensteige an scharf Trab reitet, zwischen eilf und zwölf Ludwigsburg passieren; um vier Uhr müßt ihr in Heilbronn sein, und dort laßt ihr die Pferde ruhen; zwischen acht und zehn Uhr seid ihr morgen in Öhringen.«
»Aber, Vater«, fiel Gustav ein, »wäre es nicht ratsamer, gegen Heidelberg zu reiten? ich wollte darauf wetten, wir sind gegen Öhringen hin nicht mehr sicher. Bedenken Sie, daß der Deutschorden dort tief herein sich erstreckt, daß sie in Mergentheim gewiß von dem Bischof in Würzburg unterrichtet sind, daß –«
»Daß«, fuhr der Vater fort, »ihr auf der Straße nach Heidelberg vielmehr auffallet, und daß ihr, wenn ihr etwa die Gegend nicht mehr rein fändet, eine letzte Zuflucht bei meinem alten Herrn und Gönner, dem Herzog in Neustadt, habt, der euch gewiß in den ersten Tagen nicht herausgibt. Ist dann Karl Alexander zufrieden mit dem, was wir hier getan, so könnet ihr immer zurückkehren, wo nicht, so gehet ihr, wie schon gesagt, weiter nach Frankfurt.«
»Gott! daß ich euch in einer solchen Krisis zurücklassen soll!« rief Gustav mit Tränen; »daß ich vielleicht an eurem Unglück schuld bin; daß alles schlecht gehen kann, wenn Süß meine Flucht erfährt und sich an Ihnen, Vater, rächt! Nein, ich kann, ich darf nicht gehen!«
»Nein, Vater«, fiel Hedwig ein, indem sie noch bleicher als zuvor herbeieilte und ihres Vaters Hand ergriff, »er darf uns nicht verlassen; oh, ihr habt schreckliche Dinge vor, ich weiß es wohl, ihr wollt eine Verschwörung gegen die mächtigen Menschen machen. Lassen Sie ab davon, Vater, Süß und die andern werden Ihnen verzeihen; ach, mich tötet die Angst!«
»Geh, Mädchen«, sprach Käthchen, die auch herangetreten war; »was Männer tun und was unser Vater tut, geht uns nicht an. Aber warum soll denn gerade jetzt Gustav so schnell hinweg? Er könnte uns allen so nützlich sein.«
»Weil ich keine Jüdin zur Tochter mag«, sagte der Alte streng, »darum soll er fort. Weil ich ein Briefchen seiner Charmanten aufgefangen und mit Protest an den Juden geschickt habe, und weil dieser jetzt wütet und euren Bruder mit Gewalt zum Schwager haben oder auf Neuffen setzen will, darum soll und muß er ihm jetzt aus dem Wege gehen. Doch, ich wollte dir in dieser Stunde nicht wehe tun, Gustav; wir scheiden als Freunde, und alles andere soll vergessen sein; wer weiß, wann und wo wir uns wiedersehen!«
Indem der Alte die letzten Worte sprach und seinem Sohn die Hand reichte, wurde schnell und heftig an der Türe gepocht, und ehe noch jemand antwortete, trat plötzlich eine Gestalt in einen Mantel gehüllt ein. »Was soll dies?« fuhr der alte Lanbek auf, »wer drängt sich so bei Nacht in mein Haus, wer sind Sie?«
»Blankenberg!« rief Hedwig, als jener den Mantel abwarf, und trat schnell und errötend einige Schritte vor.
»Verzeihung, Herr Konsulent«, sprach der junge Mann eilend, »die Not muß mich entschuldigen. Gustav, du mußt im Augenblick fort; der Lieutenant Pinassa schrieb mir soeben, daß er dich auf Befehl des General Römchingen heute nacht zwischen eilf und zwölf Uhr aufheben müsse. Der ehrliche Junge möchte dich nicht gern im Nest treffen.«
»Dank, Dank«, erwiderte der Alte, indem er Blankenberg die Hand drückte. »Trinket aus, Kinder, und macht den Abschied schnell; hier, mein lieber Reelzingen«, fuhr er fort, und drückte dem überraschten Kapitän einen großen Beutel in die Hand; »man kann nicht wissen, ob sich euer Weg nicht teilt. Sie sind so edelmütig, meinen Sohn zu begleiten.«
»Und mit Geld wollen Sie dies lohnen?« unterbrach ihn der Kapitän unmutig; »Parole d'honneur, Herr! ich begleite meinen Bruder, weil wir alte Amicisten sind, und nicht wegen Ihrer Spießen. Da soll mich doch –«
»Reelzingen«, sagte Käthchen mit ihrer süßen Stimme, »Ihr versteht doch gar keinen Scherz; es sind lauter Kupfermünzen, und ich habe dem Vater den Beutel gegeben, Euch in April zu schicken.«
»Ich verstehe«, flüsterte der Kapitän, indem er errötend dem schönen Mädchen die Hand küßte. »Ich will Euch dafür etwas Schönes von Frankfurt mitbringen.«
»Bringet mir«, antwortete sie, indem sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, »nur unsern Gustav wohlbehalten zurück, und«, sie setzte durch Tränen lächelnd hinzu, »machet mir keine tollen Streiche, die Euch verraten könnten.«
»Die Pferde sind vor dem Seetor«, sprach der Alte zu Reelzingen und seinem Sohn; »ihr dürft nicht das Tor selbst passieren, denn die erste Runde ist schon vorüber. Begleiten Sie meinen Sohn, Herr von Blankenberg, durch die Gärten und bringen Sie mir Nachricht, wie sie fortgekommen sind.«
Der junge Lanbek umarmte Vater und Geschwister, die Schwestern folgten ihm und seinen Freunden weinend bis unter die Gartentüre, und als nachher Hedwig ihre jüngere Schwester bitter tadelte, weil sie erlaubt habe, daß der Kapitän sie auf den Mund küsse, antwortete jene: »Du hast gefehlt, nicht ich, daß du es unterlassen hast; solche Höflichkeit waren wir einem Manne schuldig, der für unsern Bruder so viel tut.«
»Ei«, erwiderte Hedwig errötend, »Blankenberg hat ihn eigentlich doch auch gerettet.«