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Motto:
Schon reißt der Strom des Lebens
Die dumpfen Schranken ein.
Vertraut euch seinen Wogen
Und sucht ein besser Heil!
Allmächtig angezogen
Zum Ganzen strebt der Teil!
Geibel.
Eine merkwürdige Wandlung begann jetzt bald auch mit den einzelnen Völkern vorzugehen, eine Wandlung, welche zum Teil in geradezu überraschender Weise in die Erscheinung trat. So ganz zwar kam sie erst in den kommenden Jahrzehnten zur Entwicklung; wir erwähnen sie aber doch schon hier, weil auch sie mit den vorhin beschriebenen Erscheinungen des öffentlichen Lebens unmittelbar zusammenhängt.
In früheren Jahrhunderten hätte man meinen können, in einer Zeit des allgemeinen Völkerfriedens werden sich die Völker mehr und mehr ganz miteinander verschmelzen, so daß ein Volkstum um das andere sich auflösen und einem allgemeinen Menschentum Platz machen würde. Man hätte früher denken können, die geistigen wie die äußerlichen Grenzen werden sich verwischen, die Besonderheiten werden verschwinden. Das ist nun aber in der neuen Weltzeit durchaus nicht der Fall.
Allerdings, – um mit diesem Beispiel zu beginnen, – hatte man in früheren Zeiten die äußeren Grenzen viel strenger, selbst im Frieden in oft fast feindseliger Weise bewacht, und ebenso die inneren Besonderheiten in eifersüchtiger, oft fast lächerlicher Manier bewahrt, auch die Sonderinteressen in selbstsüchtiger, oft rücksichtsloser Art betont, – so geschieht das ja natürlich jetzt nicht mehr, man wüßte auch nicht warum? Aber die Grenzen, Besonderheiten und auch Sonderinteressen, wenn man noch so sagen will, bleiben darum doch noch immer in Geltung. Das einzelne Volkstum macht sich nur jetzt nicht mehr mit seinen Eitelkeiten, Fehlern und Lastern breit, es geht aber darum doch noch lange nicht in ein allgemeines Menschentum über, oder in demselben unter. Gerade das Gegenteil ist vielmehr der Fall: die Eigenart eines Volkes wird jetzt nur immer lebenskräftiger offenbar!
Es geht mit dem Volkstum eines einzelnen Volkes, der allgemeinen Menschheit gegenüber, ganz ähnlich, wie auf einer früheren Kulturstufe es mit dem Einzelnen im Verhältnis zu seiner Gattung gegangen ist. Bei unkultivierten Völkern prägte sich ja bekanntlich die Gattung mehr aus, sie war auch in jeder einzelnen Persönlichkeit immer besonders stark ausgeprägt, meistens stärker als die Eigenart des einzelnen Individuums; – je mehr aber die Völker sich kultiviert haben, umsomehr trat dann auch die einzelne Persönlichkeit in ihrer Eigenart deutlicher hervor. Gerade so nun kommt jetzt, wo die ganze Menschheit wie von einem neuen Leben durchströmt und auf eine höhere, ja auf die höchste Kulturstufe emporgehoben ist, die einzelne Völkerindividualität, d. h. das besondersartige Volkstum jedes Volkes, erst recht kräftig zur Erscheinung und zur vollkommenen Ausprägung. Das ist in der That ganz natürlich, es mußte so kommen; es ist aber auch hocherfreulich, es möge nur immer mehr so werden!
In den früheren Jahrhunderten war es ja anders. Die Volkseigenart trat da zwar wohl auch stark hervor, aber es war damit gerade so wie mit den äußeren Grenzen und mit den Sonderinteressen. Jedes Volk hatte seine Eitelkeiten, seine Fehler und meist auch seine Lasier. Seine Laster zwar mochte es vielleicht erkennen und nur etwa gern verdecken, seine Fehler aber wußte es oft kaum und beschönigte sie noch, seine Eitelkeiten vollends gar hegte und pflegte es. Die besten und edelsten Geister eines Volkes mochten an ihm ziehen und erziehen, mochten es mahnen und warnen, strafen und bedrohen, es half oft alles nichts! man meinte ja nur seine Besonderheit verteidigt, seine berechtigte Eigenart bewahrt, sein Volkstum heilig gehalten zu haben, wenn man das erste Gesetz des geistigen Lebens: ›Erkenne dich selbst‹ – ›blindlings‹ beiseite setzte! Kamen dann vollends Zeiten des Niedergangs für ein Volk, gewannen dabei schlechte Elemente die Oberhand, welche den Volkseitelkeiten noch schmeichelten, die Fehler eines Volks systematisch zudeckten, die Volksleidenschaften sogar noch aufstachelten, so war es um eine solche Nation geschehen. Ein Volk hat ja wohl ein langes Leben, – zählte eines Menschen Leben schon in den alten, oft so verderbten Zeiten nach Jahrzehnten, so das Leben eines Volkes natürlich nach Jahrhunderten, – aber gar manche Nation ist doch auch zu Grunde gegangen; und zu Grunde gehen konnte ein Volk, wenn es auch nicht geradezu ausgerottet wurde oder an Zahl bedeutend zurückging. Je verdorbener dann oft die Zustände wurden, umsomehr Geschrei wurde immer noch von seinem Volkstum, von dem besonderen Beruf dieses Volkes, von seiner ›höheren Mission‹ gemacht, während doch in Wahrheit gleichzeitig nicht das Volk, nur seine Laster Zunahmen, nicht das Volkstum, nur dessen Fehler sich bewahrten, nicht seine Art, nur seine Unart groß blieb und immer größer wurde! Das ist jetzt doch alles ganz anders geworden! In der neuen Weltzeit, wo gerade die besten Elemente die Führerrolle, die edelsten Geister das geistige Übergewicht haben, da kommen überhaupt unter allen Völkern die Ideale hoch empor. Der Volksgeist schöpft nun wieder aus seinen ureigensten Tiefen, und in dem Jungbrunnen seiner edelsten Urkraft erfrischt und erneuert er sein Leben so vollständig, daß nunmehr die Individualität eines jeden Volkes sich erst recht ausprägt, seine Originalität kraftvoll hervortritt und seine höhere Mission im wahren Sinne des Wortes zur Geltung kommt.
Der edelste Wetteifer, mit seinen Kräften und Gaben dem Ganzen der Menschheit zu dienen, beseelt nun auch jedes einzelne Volk. Es ist keine Rede mehr von engherzigem Sichabschließen, von selbstsüchtigem Verfolgen eigener enger Interessen oder von eifersüchtigem Sichhervordrängen vor andere, – geschweige denn von Kriegslust oder Kriegsgeschrei, woran ja natürlich vollends gar nicht mehr gedacht werden kann, sondern es offenbart sich nun überall bei allen Völkern ein wirkliches Bedürfnis nach Ausgleichung der eigenen Begabung durch die erfrischenden Kräfte und ergänzenden Fähigkeiten der Nachbarvölker, eine treugemeinte, wenn es sein müßte auch opferwillige Bereitschaft, mit den besonderen Kräften seines Landes und dem eigenartigen Reichtum seines Bodens ausgleichend zur Hand zu sein, überhaupt ein dienstwilliger Wetteifer, dem allgemeinen Besten der Menschheit sich gerne ganz und gar zur Verfügung zu stellen. Ja, man möchte sagen, die uralten und schönsten Ideale wahrer Volksgemeinschaft und glühender Vaterlandsliebe, sie haben sich jetzt verallgemeinert oder vielmehr erweitert und vertieft zu jenen verheißungsvollsten und gewiß allerschönsten Idealen einer lebenswahren Völkergemeinschaft und einer begeisterten Menschheitsliebe, – wogegen die früheren schönen Worte von dem ›allgemeinen Völkerfrieden‹ und von der ›allgemeinen Völkerverbrüderung‹ doch in der That nur leere Worte waren. –
Aber merken wir es also wohl: das schöne Ziel ist in der neuen Weltzeit nun nicht nur Völkergemeinschaft oder lebenskräftige Verbindung aller Völker untereinander, sondern allein schon Volksgemeinschaft für jedes einzelne Volk für sich, – und wieder: nicht nur um die staatliche Wiedergeburt eines Volkes handelt es sich dabei, sondern um eine innereWiedergeburt jeden Volkes handelt es sich jetzt. Eine ›staatliche‹ Wiedergeburt haben auch in früheren Jahrhunderten schon manche Völker erlebt, und es ist eine wahre Freude, in der alten Geschichte der vergangenen Weltzeit zu sehen, wie mit staatlicher Wiedergeburt vielfach auch eine innere Erneuerung der Volkskräfte Hand in Hand ging. Doch war dies leider durchaus nicht immer der Fall, und wenn es nicht der Fall war, wenn vielmehr innere Fäulnis trotz äußeren politischen Aufschwungs andauerte, so konnte es geschehen, daß ein solches Volk dann nur um so schneller auch dem äußeren Verfall entgegenreifte. Das ist ja leider so häufig die Tragödie in der Geschichte der Völker gewesen. Viel besser war es da doch, wenn eine innere Erneuerung des Volkslebens sich vollzog und damit eine staatliche Erneuerung, wenn auch noch langsam, richtig vorbereitet wurde. Dann verjüngte sich doch wenigstens innerlich die Volkskraft und konnte das Leben des betreffenden Volkes wieder neu gefristet und gekräftigt werden. So wichtig ist die innere Wiedergeburt eines Volkes!
In der That! die Wiedergeburt des Staates konnte den Verfall eines Volkes oft gar nicht aufhalten! Man denke sich einmal zurück in die früheren Jahrhunderte. Wenn da die einzelnen Landschaften und Stämme eines Volkes nach oft langem Ringen mit inneren oder äußeren Feinden sich endlich zu einem großen Volksganzen fest und auf die Dauer zusammengeschlossen hatten, da war es ja nur notwendig und ganz natürlich, daß sie ihre Vereinzelung aufgeben, ihre Selbständigkeit nach außen an das große Ganze abtreten und einzelnen Besonderheiten um des Ganzen willen entsagen mußten; – vielfach aber litt dadurch auch ihre berechtigte Eigenart, ihre Originalität, ja selbst ihre Freiheit Not, und diese nicht etwa nur zu eigenem Mißvergnügen, sondern auch zum Schaden des großen Ganzen. Denn das hinderte dann die Entwicklung des Eigenartigen im Volksleben, in welchem doch immer viel Kraft verborgen war, und es zehrte an der Volkskraft überhaupt, weil am gegenseitigen Vertrauen, sodaß dann der Bestand des Ganzen durch innere und äußere Feinde nur immer neu bedroht war.
In unserer neuen Weltzeit nun vollzieht sich der Verjüngungsprozeß der Volksgemeinschaften ja überhaupt unter weit günstigeren Bedingungen von außen und von innen, als das in den vergangenen Jahrhunderten der Fall war. Bei weitem die Hauptsache ist dabei aber das, daß es sich ja jetzt überhaupt nicht mehr erst um das handelt, was man in früheren Jahrhunderten die Entwicklung eines Staats unter einem Volk geheißen hat, nicht mehr erst um Staatenbildung, sondern um einen von diesen Fragen ganz unabhängigen innerlichen Gesundungsprozeß, welcher das Volksganze mit aller Kraft erfaßt und durchdringt, und zwar so durchgreifend und so vollständig, daß sich dieses Neuwerden nun in allen Teilen und Provinzen eines Volkes, in allen seinen Stämmen und Geschlechtern offenbart. Siehe da! da ist also entfernt kein Auflösen der Besonderheiten, sondern eine Wiederherstellung aller seiner Originalität in vollkommenster Harmonie mit dem großen Ganzen, – das ist jetzt das höhere Ziel und der schöne Erfolg! –
Was wir vorhin sagten von dem Gewinn, den nun die einzelnen Völker einander bieten und von einander empfangen, ganz das gilt auch von den einzelnen Provinzen und Landschaften unter sich, von den verschiedenen Stämmen und Geschlechtern untereinander, – sie lieben einander und sie lernen voneinander, aber sie achten einander und sie respektieren einander auch in ihren Verschiedenheiten.
Und dieser innere Gesundungsprozeß geht bis auf die äußeren Sitten und Volksgewohnheiten, bis auf die allerlei Gebräuche und die mannigfaltigen Trachten hinaus! Was abgeschmackt oder unschön, was ärmlich oder unwürdig ist, wird abgethan und bleibt abgethan. Was dagegen wahrhaft volkstümlich und edel originell, was ernstlich lebenskräftig und wirklich ideal ist, das bleibt und wird geehrt, ja es wird gesucht und blüht nun erst recht neu empor. So freut man sich des Alten und des Neuen zugleich, mau freut sich aneinander und man lernt voneinander. Man lebt nicht mehr nur im Wahn moderner Bildung, sondern man lebt und erstrebt eine Welt von Idealen, ja mehr als das, – man erlebt und lebt eine wirkliche Welt von wirklichen Idealen! –
Gerne und mit Absicht betonen wir aber auch hier, worauf wir schon einmal am Schluß des letzten Kapitels hingewiesen haben, daß sich das alles doch nicht recht denken ließe ohne ganz besondere Vorgänge unter der Menschheit, wobei wir nicht nur äußere Ereignisse, sondern vielmehr innerliche Erlebnisse im Auge haben. Die Wiedergeburt eines Volkstums hat eine sichernde Grundlage doch nur in dem religiösen Aufschwung eines Volks und der religiöse Aufschwung eines ganzen Volks wieder nur in dem seiner einzelnen Persönlichkeiten.
Das beides wurde nirgends deutlicher offenbar als unter dem Volk Israel. Denn die neuesten Ereignisse fanden kein Volk in so großer, innerster Bedrängnis, wie dieses Volk, kein Volk als Ganzes trafen sie so tief ins Herz, wie dieses Volk in allen seinen Gliedern, und davon möchten wir noch Näheres erzählen.