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VI. Kapitel.
Ein kleiner Schrecken.

Motto:

Wer ist ein Mann? – Der beten kann!

G. M. Arndt.

Im Kontor des Herrn Pilsen ging andern tags alles seinen gewohnten Gang. ›Klappen muß es und fertig gemacht muß die Sache sein,‹ hieß es ja bei Herrn Pilsen heute wie gestern und immer.

Herr Simon war schon der Mann, ihm das wahr zu machen. Energisch, treu, verständig, umsichtig, immer vorne dran in pünktlicher Pflichterfüllung, allen voraus an Arbeitskraft wie an Überblick, war er wirklich nicht zu ersetzen. Dabei freundlich und verbindlich gegen jedermann, wohlwollend und gerecht gegen die Arbeiter, war er so recht die Seele im Haus.

Ohne das wüßten wir nicht, ob nicht bei Herrn Pilsen eine kleine Verstimmung übrig geblieben wäre. Die gestrige Abendgesellschaft hatte doch einige scharfe Kanten geoffenbart. Es war ja alles noch gut abgelaufen, aber es war ihm doch eigentümlich, wie die beiden Herren Ducrot und Simon sich ereifert hatten für eine Sache, welche es doch nicht eigentlich wert wäre, und für Leute, welche nun einmal überall, aber auch überall, sich mißliebig gemacht hatten, – wenn sie überhaupt beachtet worden waren in der großen Gesellschaft. Als er denn das Kontor betrat und den gewöhnlichen Morgengruß von Herrn Otto Simon bekam, da blickte er schon so halb schief auf ihn hin, als wollte er sagen: ›Du, Du! was sind das für Sachen! Mach' mir keine Geschichten! sonst ...!‹ Wie er aber das ehrenfeste und das feste Auge, das treue und schöne Gesicht, den ganzen Mann, sich wieder ansah, wieder ganz im Geschäft, ganz und gar seiner Arbeit hingegeben, da war es eben doch mit einemmal wieder vorbei und er sagte sich: einen treueren Mann, eine tüchtigere Kraft, einen zuverlässigeren Geschäftsleiter könnte er in der That nicht haben. ›Wenn er mir nur nicht gar ein Christenfreund wird, es wäre gar zu toll! es wäre verdammt!‹ sagte er zu sich, – alles aber in den versöhnlichsten Gedanken und wirklich froh, daß der Gruß so ganz wie gewöhnlich, so gar nicht anders als sonst ausgefallen war.

Nachmittags aber kam ein Billet an Herrn Simon, ob er nicht sogleich zu Herrn Ducrot in seine Wohnung kommen wolle, derselbe sei recht krank.

Herr Simon meldete dies sofort dem Chef und bat, eine Stunde abkommen zu können. Natürlich wurde das sogleich gestattet.

»Aber sehen Sie, sehen Sie!« sagte Herr Pilsen, »er hat sich gestern zu sehr erhitzt. Es ist eben nicht gut, so hitzig ins Gefecht zu gehen für Sachen, ... für Leute, ...«

»Bitte!« unterbrach plötzlich Herr Simon, »ganz im Gegenteil! erkältet hat er sich, ganz gehörig erkältet. Ich entsinne mich, daß er gestern Nacht an seiner Straßenecke, die ohnedem sehr zugig ist, fror und da offenbar zu lange stehen blieb.«

»Also!« rief Herr Pilsen, besorglich lächelnd, »vorher erhitzt und dann erkältet! Sehen Sie, da sind Sie auch ein wenig mit schuld. Aber gehen Sie nur und bleiben Sie nur aus, ganz wie es Herrn Ducrot recht ist, ganz wie es unserem lieben Freund recht ist. Grüßen Sie ihn herzlich von mir und ich lasse gute Besserung wünschen. Es wird doch hoffentlich nicht schlimm werden. Gottlob, daß es Doktor und Apotheker giebt, – und einen Curé natürlich,« setzte er bei, als er schon halb weg war.

»Und einen Herrn Gott!« – sagte Herr Simon mit Nachdruck.

»Natürlich, natürlich! das meine ich ja!« sagte Herr Pilsen noch, ohne umzuwenden, schon in seinem Zimmer. Herr Simon aber eilte, sich zurecht zu machen und sogleich zu gehen. Er war ohne Frage in einer gewissen Sorge. Das Wort ›erhitzt‹ hatte ihn zuerst gelächert, denn es war doch offenbar eine Erkältung; aber daß er auch an der Erkältung eine gewisse Mitschuld trage, das fiel ihm doch schwer aufs Herz, zumal Herr Ducrot sich seiner gestern Abend so sehr warm angenommen hatte. Doch dabei konnte er sich jetzt nicht aufhalten.

»Wenn es nur wieder gut wird, dann ist ja alles eins,« dachte er und eilte, so sehr er konnte.

Er traf Herrn Ducrot tief im Bett; der Doktor war, schon in der Nacht gerufen, auch heute schon zweimal dagewesen und hatte eine sehr heftige Lungenentzündung auf beiden Lungenflügeln konstatiert; von der Apotheke stand auch schon etwas da. Er grüßte Herrn Simon sehr freundlich mit den Augen, er hatte offenbar sehnlich gewartet und war hoch erfreut, daß dieser so bald schon komme.

»Ich bin ganz frei für Sie, Herr Ducrot.«

»Ach, das ist mir lieb!« hauchte er heraus, »das ist mir lieb! Sie lieber Herr Simon Sie!«

»Von Herrn Pilsen auch einen Gruß und er lasse gute Besserung wünschen.«

»Von dem? – danke! – O, Herr Simon, diesmal wird es schlimm. Ich werde nicht durchkommen, ich glaube wirklich nicht. Unser lieber Doktor hat auch ein böses Gesicht gemacht, als er mich untersucht hatte. Und ich spüre noch gar keine Besserung auf alle Mittel!«

»Das kann aber alles noch kommen, Herr Ducrot! Jetzt ist es eben der erste Sturm,« sagte Herr Simon, teilnehmend sich bei ihm niederlassend, nachdem er langsam an das Bett getreten war und vorher sorgfältig den Überzieher abgelegt und sich am Ofen erwärmt hatte, um ja keine Kälte herzubringen und keinen Hustenreiz zu erwecken.

»Der erste Sturm?« antwortete Herr Ducrot. »Ja, der erste in meinem ganzen Leben sogar, ich bin immer ganz gesund gewesen. Ich habe recht regelmäßig gelebt. – Aber vielleicht auch der letzte Sturm, Herr Simon, der letzte; und dann?«

»Das wollen wir nicht hoffen, Herr Ducrot; es wird doch so schlimm nicht werden. Beruhigen Sie sich nur und sprechen Sie nicht zu viel.«

»Ich spreche nicht zu viel. Ich kann schon so viel; ich muß sprechen, mit Ihnen muß ich!« Dann sagte er nach einigem Ausruhen: »Ich habe alles für Sie aufgespart und eigentlich mich darauf ausgeruht und gerüstet, Herr Simon. Ihnen muß ich alles sagen. Sehen Sie, es kann wohl zum Ende gehen, es kann wohl! und wenn man auch ordentlich gelebt hat, – ach! man hat doch viele Sünden gethan. Jetzt muß ich Hilfe haben; Doktor und Apotheker helfen jetzt nichts mehr.«

»Wollen Sie nicht Ihren Curé kommen lassen, Herr Ducrot, soll ich es ihm nicht sagen lassen?«

»Jetzt nicht, – später! Jetzt kann ich ihn noch nicht brauchen. Bleiben nur Sie da bei mir sitzen.«

»Herzlich gern, Herr Ducrot, ich bin ganz für Sie da. Wenn ich Ihnen nur helfen könnte! wenn ich Ihnen nur etwas thun könnte! Vielleicht etwas Wasser gefällig? – oder hier etwas Saft, Herr Ducrot?

»Ja, aber nur wenig.«

Die Haushälterin ließ sich in der Thüre sehen und gab es ihm, wahrscheinlich besser, als Herr Simon es gekonnt hätte.

»So, – danke!« sagte Herr Ducrot dann und legte sich wieder keuchend zurecht. »Danke herzlich! jetzt bleiben Sie nur ganz ruhig draußen im Zimmer und weinen Sie nicht so! Herr Simon ist ja jetzt bei mir, es wird alles recht werden.« Und als sie still weinend hinausgegangen war, sagte der alte Herr noch: »Mein Testament ist längst gemacht, sie kann ohne Sorgen sein, sie kann leben. Sie war immer brav und treu. – Aber jetzt weiter, Herr Simon! Ach, Sterben ist schwer. Sterben ist ein Ernst!«

Und er blickte Herrn Simon mit seinen schönen Augen gar wehmütig an, so daß es diesem recht schwer wurde. Er wußte aber jetzt gar nichts zu sagen.

»Herr Simon, der gestrige Abend ist mir sehr wichtig geworden. Wir haben eine böse Zeit, eine böse Zeit! Und wir sind alle miteinander Sünder, Verführte, Verwirrte und Verirrte! Was ist doch das, wie man diese Sachen in Todes Angesicht ganz anders ansieht als vorher?«

»Aber Sie haben es gestern schon ganz anders angesehen als die andern Herren.«

»Ja, aber jetzt vollends! Herr Simon, jetzt erst!! Kriegt man denn den Verstand erst, wenn man stirbt?! Was ist doch das? was ist das?!« – Dann nach kurzer Pause: »Herr Simon, eine Bitte!«

»Alles, was Sie wollen, Herr Ducrot! wie froh bin ich, wenn ich Ihnen etwas helfen kann!«

»Könnten Sie nicht ein wenig mit mir beten?«

Herr Simon war in großer Verlegenheit. Was hätte er nicht diesem lieben, lieben Freund, diesem lieben alten Herrn zu lieb gethan! Aber das konnte er nicht! vollends mit einem andern beten! und mit einem Sterbenden beten, so wie es recht ist! jetzt plötzlich im Angesicht des Todes oder vielmehr vor Gottes Angesicht sich hinstellen und beten! nein, das konnte er nicht. – »Herr Ducrot, wollen wir nicht Ihren Herrn Curé kommen lassen? Es ist ja ein so freundlicher Mann.«

»Nein, jetzt noch nicht. Das kommt zuletzt. Ich sage Ihnen offen: der ist mir auch nicht ernst genug; der war gestern auch wie die andern. – Könnten Sie nicht?«

»Ach nein, Herr Ducrot, da bin ich zu ungeschickt!« – und er war nie in seinem Leben in einem solchen Gedränge gewesen. Am Strom stehen und einem Ertrinkenden sagen: ich kann Dir nicht helfen, ich will aber zu einem anderen schicken, – was ist doch das?! An dem rauschenden mächtigen Strom stehen, in die trüben schwarzen Fluten selbst hineinsehen, eine ausgestreckte Hand sehen und sagen müssen: Du dauerst mich, aber helfen kann ich Dir nicht, – was ist doch das?! Ein starker Mann, ein mutiger Mann, ein geschickter Mann sein, sonst immer vorne dran, hier aber sagen: ich kann Dir nicht helfen; – ist das nicht schrecklich, wirklich schrecklich? Mit einem Wort: ein Mann sein und nicht beten können, was ist doch das?! – Er schämte sich wie ein Kind, wie ein Kind! Er wußte aber noch nicht um das Wort dessen, der gesagt hat: ›Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so könnt ihr nicht in das Reich Gottes kommen.‹ Jetzt stand er davor.

Herr Ducrot lag jetzt sehr hilflos da; der kalte Schweiß, das Taschentuch des Todes, lag schon auf seiner Stirne; er ruhte ein wenig.

»Was machen wir?« sagte er halb fragend, halb irre, wie es schien. Und dann: »Herr Simon, ich weiß was! lassen Sie den Matthi kommen, den Arbeiter in Ihrer Fabrik!«

Herr Simon wurde ganz unruhig. »Was soll das?« dachte er, »den kennt er ja doch gar nicht! was will er ums Himmels willen? er wird ganz irre, er phantasiert.« Und er wußte nicht zu antworten.

»Seien Sie nur ganz ruhig, Herr Ducrot,« suchte er in möglichst ruhigem Tone zu sagen.

»Herr Simon, er hat mir schon Holz gespalten!« sagte er nun.

»Jetzt kommt lauter Wirrwarr,« dachte Herr Simon, »das Fieber steigt, man sieht es sogar: seine Schläfe klopfen. Nun meint er offenbar, er höre den Holzspälter! Was doch so ein armer Kranker aushalten muß! – Wenn doch nur der Doktor endlich wieder käme! Aber ich mag jetzt nicht vom Bett weg, daß er nicht noch unruhiger wird. Ich will nur ganz stille sitzen bleiben.« Und er hängte den Kopf, indem er die Ellenbogen auf die Kniee stützte.

»Herr Simon! sind Sie da?«

»O ja, lieber Herr Ducrot, ich bin immer da, ich bleibe ganz bei Ihnen.«

»Haben Sie mich denn nicht gehört, haben Sie mich nicht verstanden?«

»O ja, ich habe Sie wohl gehört und habe alles verstanden, Herr Ducrot.«

»Bitte, dann schicken Sie doch fort und lassen Sie den Matthi kommen – aus Ihrer Fabrik, – ich kenne ihn, – er hat mir in früheren Jahren – das Holz gespalten, – er ist auch katholisch, – ich habe mich oft mit ihm unterhalten, – und wissen Sie: das ist ein Christ, – der kann beten!«

Jetzt stand Herr Simon schnell auf, nun war ihm alles klar: er hatte den Wirrwarr gemacht in seinem eigenen gesunden Hirn, nicht der Kranke, der Sterbende, – der sah klar! Es war ihm unsäglich beschämend und schmerzlich, daß er auch nur zwei Minuten verloren hatte, zwei kostbare Minuten für einen vielleicht Sterbenden und für einen so lieben Freund!

»Es ist recht, ich lasse ihn sogleich kommen,« sagte er schnell und ging zur Thüre.

»Kann er doch sicher abkommen?«

»Warum denn nicht, Herr Ducrot! er wird bald da sein!«

In größter Eile lief jemand hin, Herrn Ducrot's Bitte auszurichten: der Arbeiter Matthi möge sogleich zu Herrn Ducrot kommen, derselbe sei schwer krank.

Das erschien dort aber als ein so sonderbarer Auftrag, daß man es Herrn Simon in das Kontor melden lassen wollte. Als sich aber zeigte, daß Herr Simon gar nicht da sei, so lief der Vorarbeiter direkt zu Herrn Pilsen hinein und richtete den Auftrag und die Bitte aus.

»Was?!« rief Herr Pilsen, bald das Billet der Haushälterin, bald den Vorarbeiter ansehend, »was?! Der Arbeiter Matthi soll zu Herrn Ducrot kommen? Was soll das heißen? Freilich kann er gehen, wenn er soll, – natürlich doch! aber was soll das heißen?! Der braucht den Doktor und den Apotheker und im schlimmsten Fall den Curé, – aber doch nicht den Matthi, den Matthi!« lachte Herr Pilsen. »Das ist irgend eine Verwechslung. Da hat wieder ein ängstliches Frauenzimmer irgend eine Dummheit oder einen Schreibfehler gemacht! Was es doch Dummheiten giebt, wenn es so pressiert! – Oder nein! richtig! jetzt fällt mir etwas ein: er kenne ihn schon, heißt es ja da in dem Billet, – er wird den Nachttopf ausleeren und dergleichen Dienste thun sollen, weil Herr Ducrot ganz allein lebt. Wie ungeschickt ich war! Aber das Billet ist auch sehr hastig geschrieben, da hat man nicht dran denken können, daß das so gemeint war. Also natürlich, Matthi kann gehen. Laufen Sie und sagen Sie es ihm! und er soll schnell laufen, man warte auf ihn! – und er könne bleiben, bis ihn Herr Ducrot nimmer brauche! – An seiner Löhnung werde nichts abgezogen, er könne ruhig sein,« rief Herr Pilsen dem schon davonlaufenden Vorarbeiter nach.

Weil jetzt alles sehr hastig ging, merkten alle Arbeiter etwas davon und fragten einander. Einer machte den Spaß: »Ach, der Herr Doktor Matthi! große Ehre! Doktor Matthi!« und die andern lachten. »Gute Geschäfte, Herr Doktor Matthi!« rief ihm ein anderer nach.

Matthi kränkte es, aber er ging still. Er wußte rein nicht, was das bedeuten solle. Er wußte von Herrn Ducrot's Befinden gar nichts, überhaupt weiter nichts von ihm. Den Namen kannte er ja wohl, aber das war schon sehr lange her, daß er ihm früher, vor Jahren schon, ehe er in die Fabrik gegangen war, je und je das Holz gespalten hatte.

»Ein guter, lieber alter Herr,« dachte Matthi; »kann ich ihm geschwind etwas besorgen, so geschieht es ja herzlich gern. Aber sonderbar, daß man mich da aus der Arbeit kommen läßt, und mich gerade.«

Als er aber an das Haus gelaufen kam, schnappte die Thüre schon auf, so daß er gar nicht zu klingeln brauchte, und als er drin an die Glasthüre kam, stand die Haushälterin schon da, diese ihm zu öffnen.

Er sagte bescheiden: »Es thut mir leid, wenn ich vielleicht zu spät komme, ich bin aber gleich gelaufen.«

»Es ist nicht zu spät, er lebt noch.«

»Was?« rief Matthi ganz erschrocken, »was ist es denn? – und was soll ich?«

»Er hat die Lungenentzündung und ist schwer, sehr schwer krank und möchte Sie sprechen, – weiter weiß ich nichts. Gehen Sie nur gleich hinein, man hat schnell nach Ihnen geschickt.«

»Ja, was will er denn von mir?«

»Ich weiß gar nichts, – gehen Sie jetzt nur hinein.«

Und sie schob ihn zur inneren Thüre hinein.

Da stand er nun – an einem Sterbebett! soviel sah er auf den ersten Blick. Da lag er ja, der liebe Herr Ducrot, mit hochgerötetem Gesicht und blassen Flecken auf Stirne und Wangen, in starkem Schweiß und hartem Kämpfen. Aber noch hell, ganz hell dreinblickend, und sogleich winkend, er möge näher kommen. – Aber ›näher?‹ – da saß ja Herr Simon, – ganz zusammengeknickt, und blickte ganz freundlich, fast demütig zu dem nur mittelgroßen Matthi hinauf und lud ihn auch ein, nur näher zu kommen.

»Ach, Herr Ducrot,« sagte jetzt Matthi, »Sie sind krank, das thut mir leid. Kann ich etwas helfen? ich thue es herzlich gern!«

»Ja, Matthi, Sie können mir helfen; Sie sollen mir helfen! Beten Sie mit mir, dazu habe ich Sie rufen lassen!«

Da war Matthi ganz erschrocken! Er sollte mit Herrn Ducrot beten, dem er nur das Holz gespalten hatte vor Jahren, den er eigentlich nur kannte von ein paar Gesprächen her, weiter nicht! Als er aber in das bittende Gesicht sah, in die fast flehenden Augen des lieben alten Herrn und in das verlegene, aber gleichfalls bittende Gesicht seines Herrn Simon, – da überschaute und erkannte er mit einemmal die Lage des Kranken. So klar wie irgend ein Arzt oder ein Seelsorger an einem Krankenbett sich schnell zurechtfinden kann, sah der schlichte Christenmensch alles! Er war wohl jetzt innerlich bedrängt, beschämt, verzagt, aber er faßte sich bald, im Angesicht des Todes oder vielmehr vor Gottes Angesicht faßte er sich bald, – die heilige Majestät des Todes ward ihm jetzt zum Befehl und die heilige Majestät Gottes war ihm Hilfe zugleich. Er faltete seine Hände, der schlichte Mann, der einfache Arbeiter, und betete so herzlich und innig, so schlicht und demütig, nur ganz kurz und einfach, aber mit soviel Glauben und Flehen, daß er zum Priester Gottes und das Krankenzimmer zu einer heiligen Tempelstätte wurde mit einem Male und Herr Simon tief ergriffen dasaß.

Herr Ducrot aber sagte: »Ich danke Ihnen viel tausendmal, ich danke Ihnen. Und jetzt sagen Sie mir auch noch etwas, Matthi! – Wissen Sie, Sterben ist ein Ernst!«

»Ja, das glaube ich wohl, Herr Ducrot,« sagte Matthi, »aber befehlen Sie sich nur in die Gnade und Barmherzigkeit Gottes, er wird es wohl mit Ihnen machen!«

»Glauben Sie das?«

»Ja, das glaube ich, Herr Ducrot! ich weiß noch, wie Sie früher mit mir öfters gesprochen haben. Sie sind ein Mann, der Gott sucht, und Gott läßt sich finden.«

»Aber ich habe ihn nicht ernst genug gesucht, sonst hätte ich ihn schon lange gefunden. Ich habe immer wieder gewartet und gezweifelt und nach anderem geschaut! Ach, und jetzt giebt es gar nichts mehr für mich als Tod und Ewigkeit, sonst gar, gar nichts anderes mehr!«

»Ja, Herr Ducrot! aber befehlen Sie sich nur in die Gnade Gottes, er wird es gewiß wohl mit Ihnen machen.«

»Ja, das will ich thun, das will ich thun.«

»Soll ich nicht den Curé für Sie holen?«

»O ja, jetzt gehen Sie zu ihm und sagen Sie, er möge schnell kommen, ich werde bald nicht mehr da sein.«

Matthi ging. »Der Herr segne Sie, Herr Ducrot, und behüte Sie!« sagte er noch und ging, auch Herrn Simon höflich grüßend. –

Matthi, der verachtete Matthi, der freiwillige Bote zu dem Curé! Die Kirche geehrt von ihren Verstoßenen, von ihnen mehr als von andern! Ihre Verstoßenen die Tröster am Krankenbett, die Priester Gottes für die Sterbenden im Angesicht des Todes! – Was ist doch das?

Als Matthi zum Curé kam und seinen Auftrag treulich ausrichtete, frug dieser eilig: »Herrn Ducrot kenne ich wohl, – sind Sie bei ihm angestellt?«

»Nein, Herr Curé, ich war nur gerade bei ihm und da habe ich mich erboten, den Boten an Sie zu machen.«

»Ach so! ich danke Ihnen. Wie heißen Sie denn?«

»Matthi! Ich bin Arbeiter in der Fabrik des Herrn Pilsen.«

»So? den kenne ich auch wohl. – Und wer sind Sie denn eigentlich?«

»Ich bin alle Sonntage in der Messe, Herr Curé,« sagte Matthi bescheiden.

»So, das ist recht.«

»Kann ich sonst noch etwas thun?«

»Ja, wenn Sie eilig zum Küster gehen wollen, er soll schnell mit Allem kommen, es handle sich um die Sterbsakramente bei Herrn Ducrot, – aber nur schnell!«

»Gut, ich will sogleich gehen.«

»Danke!«

*

Matthi ging, der Küster kam, der Curé eilte jetzt sehr und kam auch gerade noch recht. Herr Ducrot war zwar sehr schwach, aber still und getrost; Herr Simon stand auch noch da und schaute zu.

»Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie krank sind! ich bedaure das sehr, Herr Ducrot,« sagte der Curé.

»Es ist schnell gegangen, der Tod kommt schnell, Herr Curé! Man sollte sich immer viel mehr bereit halten,« sagte Herr Ducrot mit schwacher Stimme.

»Ja, das ist schon wahr,« antwortete der Curé, er hatte aber jetzt Eile, er nahm die heilige Handlung an dem Sterbenden vor und war froh, noch zeitig damit gekommen zu sein. Darnach machte er noch einige teilnehmende Fragen und sagte schließlich:

»Aber Sie müssen jetzt ausruhen, wir müssen Sie allein lassen; leben Sie wohl, Herr Ducrot!«

»Ich danke Ihnen, Herr Curé, ich danke Ihnen!«

Der Curé verließ das Zimmer, von Herrn Simon hinaus begleitet.

»Wie ist das nur so schnell gekommen! Gestern noch so frisch und munter und jetzt so!« sagte der Curé draußen.

»Er hat sich gestern Nacht erkältet. Er sagte mir aber vor einer Stunde, er sei schon vorher nicht mehr recht wohl gewesen.«

Inzwischen kam auch der Doktor noch einmal. Die drei grüßten sich mit ernsten Blicken im Vorzimmer, der Arzt verließ den Kranken ›ohne die geringste Hoffnung‹, wie er draußen zu Herrn Simon sagte. Als aber Herr Simon wieder hineinkam, sagte Herr Ducrot ganz zufrieden: »Der Matthi, der Matthi! was mich der getröstet hat! – Herr Simon, vergessen Sie nicht: Das ist auch einer von denen, das ist auch einer von denen! Haben Sie es nicht auch denken müssen: was der zu einem sagt, das ist Überzeugung; jetzt bin ich doch getröstet; Gott wird sich meiner erbarmen.«

Herr Otto Simon konnte nicht mehr viel sagen. Er war noch immer ganz ergriffen von dem Gebet des schlichten Mannes, von dem Blick seiner klaren, friedlichen, flehenden, gläubigen Augen, von seinem bescheidenen, fast schüchtern bescheidenen, aber siegesgewissen Wort, als er von Gottes Erbarmen sprach. Er sagte nur: »Ja, das ist ein Trost gewesen; auch für mich ist es einer gewesen.«

»Und den will ich festhalten bis an's Ende. Denn jetzt kommt es bald. Ich spüre es, es wird Nacht, es wird Nacht, und – Herr Simon! es kommt die Mitternacht, die Mitternacht kommt in die Welt!« Damit wurde er ganz matt und still; so lag er noch lange, noch eine Stunde fast; aber bald schon schien er unfähig zu werden, zu sprechen. Herr Simon blieb immer bei ihm; wie hätte er weggehen mögen, ob er schon nicht helfen konnte! Warum auch? Der Tod hatte alle seine Schrecken verloren, auch als es dunkel wurde, – alle! Des Todes Majestät war geblieben, aber es war so etwas wie das: ›Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?‹

Herr Ducrot schlief ganz sanft ein und es brauchte ihm niemand auch nur die Augen zuzudrücken. Er schloß sie selbst. Der Tod ist sein Schlaf worden. –

Eine schöne Leiche, wenn man so sagen darf, ein friedliches, stilles Angesicht, ernst, aber fast freundlich, – so lag er da. Lange sah Herr Simon noch in dieses Gesicht. Der heutige Tag war für ihn ein Erlebnis sondergleichen, – dieser Tag mit dem gestrigen Abend zusammen! – –

Nach zwei Tagen trug man die Leiche hinaus; die ganze ›Harmonie‹ ging mit, – auch der Doktor und der Apotheker, – Karl und Eugen mit Franz, Herr Pilsen mit Herrn Simon, und der evangelische Pastor ging auch mit. Der Curé aber hielt die heilige Ceremonie und sprach den Segen über dem Grabe. Die Freunde waren also alle miteinander vollzählig dabei. Im übrigen hatte der ältere, allein lebende Herr nicht mehr so sehr viele Bekannte. Aber Matthi war auch dabei. Den sah natürlich eigentlich nur Herr Otto Simon. Die andern sahen ihn wohl kaum oder gar nicht, höchstens noch Herr Pilsen. Doch gingen sie alle still vom Grabe weg und es war für einen jeden von ihnen ein ernstes Ereignis.

»Für den Tod ist kein Kraut gewachsen,« sagte der Apotheker.

»Mir ist es auch sehr schmerzlich, daß ich nicht mehr habe helfen können,« sagte der Doktor.

»Wenn ich es nur früher gewußt hätte,« bemerkte nachher der Curé seinem Kollegen gegenüber, »es ist schlimm, wenn man so spät gerufen wird.«

»So geht es mir immer auch,« erwiderte der Pastor.

Herr Simon aber sagte: »Und ich danke Gott, daß ich dabei gewesen bin.«

Das verstanden nun Karl, Eugen und Franz ganz und gar nicht.

»Auch noch gar dabei sein! Nein, darnach lüstet es mich wirklich nicht,« sagte Eugen nachher zu Franz, – »sterben, das ist ein Ernst!«

Heute schwieg Franz; seine Redensarten waren zu klein gegenüber der Größe des Todes, oder zu groß gegenüber der Enge des Grabes.

Francois aber sagte zu den älteren Herren: »Meine Herren, das war doch für uns alle miteinander kein kleiner Schrecken!« worauf der Doktor erwiderte: »Das will ich meinen! Und denken Sie sich: für mich erst! Kaum war man Donnerstag auseinander gegangen, und kaum war ich zu Bett, so wurde ich zu Herrn Ducrot gerufen um Mitternacht! und von der ersten Stunde an war es ein schwerer Fall. Viermal war ich an seinem Sterbetag bei ihm, es war eine rechte Verantwortung für mich. Sie haben alle miteinander keine solche Verantwortung, wie unsereiner sie hat.«

Herr Francois erwiderte: »Heute ist uns allen unsere Verantwortung gepredigt worden.«

Als man sich aber nahe bei der Stadt voneinander trennte, da trat Herr Simon offen an Matthi heran, welcher weit hinten ganz allein daherkam, schüttelte ihm beide Hände und sagte zu ihm: »Ich danke Ihnen viel tausendmal im Namen des Toten, – und für mich zugleich auch viel tausendmal.«

Die andern Herren von der ›Harmonie‹ sahen es wohl und hörten es zum Teil auch; es fiel ihnen jedenfalls allen auf und einer sagte: »Was hat denn der? .« – worauf Herr Pilsen sagte:

»Ach, er wird ihm eben gedankt haben für einige untergeordnete Dienste bei Herrn Ducrot; hätte es der nicht gethan, so hätte er es thun müssen!«

Matthi aber sagte zu Herrn Simon: »Herr Simon, Sie thun mir da recht wohl, aber das bin ich nicht wert, das bin ich wirklich nicht wert;« worauf Herr Simon erwiderte: »Dem Entschlafenen sind Sie vorgestern viel wert gewesen, Matthi, und mir ganz gewiß auch viel wert, bis in die Ewigkeit hinein.«

Matthi aber antwortete: »Herr Simon! nicht wahr? wenn man sich an den Glauben hält, dann ist der Tod nur ein kleiner Schrecken, oder er verliert gar allen Schrecken.«

»Mag wohl sein,« sagte Herr Simon, – »wenn es nur bei mir auch einmal so wäre!«


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