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Motto:
Da verband sich das Herz Jonathans mit dem Herzen Davids und Jonathan gewann ihn lieb wie sein eigen Herz. Und Jonathan und David machten einen Bund miteinander; denn lieb hatte er ihn wie sein eigen Herz.
1. Sam. 18, 1. 3.
Herr Otto Simon und Herr Kuno Brünné waren jetzt fast alle Tage beisammen. Kuno that dies innigst wohl. Seit sein Bruder Gefangener war – und er war es ja noch immer, – kam er sich so allein vor, so ganz verlassen in der Welt. In der That, nichts hätte ihn mehr trösten können als das, daß Herr Simon gerade so überaus herzlich mit ihm war. Es lag für ihn hierin eine Genugthuung, welche einer wirklichen Rechtfertigung seines Bruders vor aller Augen gleichkam. Übrigens blieb diese Freundschaft mehr in der Stille. Entweder kam Herr Simon abends zu ihm, sich dann jedesmal, ohne das zu wissen, gerade an dem Platz niedersetzend, an dem sonst Leon gesessen hatte, – oder mußte er, Kuno, zu Herrn Simon kommen und dort war es ihm jetzt auch so herzlich behaglich wie bei einem Bruder.
Denn Herr Simon betrachtete diese neue Freundschaft durchaus nicht etwa als Herablassung, er teilte sie ganz entfernt nicht etwa nur wie eine Gnade aus, sondern er brauchte sie für das eigene Herz, er bedurfte derselben für den inneren Menschen. Fast möchte man sagen: es war eine edle That der Rache für den vergewaltigten Arbeiter Leon und gegenüber dem harten Herrn Pilsen, eine Ehrenrettung für zwei edle Brüder, Leon den Gefangenen und Kuno den Mitbekümmerten, – es war aber noch mehr als das. Er fühlte sich so schmerzbewegt in dieser Welt der Verkennung, unter dieser Tyrannei eines bösen Machtwillens; so einsam fühlte er sich unter den bethörten Massen, daß es ihn wie scheu heraustrieb aus dieser Welt in die Freundschaftsstille hinein, – aus der stolzen, kalten, schalen Welt, aus der lachenden, spottenden, verfolgenden Menge – in die Stille einer Freundschaft mit einem einzigen Gleichgesinnten, mit einem Mann, mit welchem ihn jetzt gleicher Schmerz und tiefes Mitleid nicht nur, sondern gemeinsame Gesinnung und eine tiefere, neue Gedankenwelt verband.
Ja wohl! indem er sich abwandte von der öffentlichen Meinung und mit Verachtung diese Verachtung der Edelsten von sich wies, erwachte ihm eine ganz neue Gedankenwelt. Stimmung wurde Meinung, Meinung wurde Überzeugung, die Einzelerfahrungen wurden zu einer ganzen Lebensanschauung; das bestimmte Nein, der laute Protest seines innersten Wesens gegen die Barbarei und Gewissenstyrannei der ganzen Welt war nicht bloß eine Verneinung, sondern wurde zu einem immer mehr klar bewußten Ja und Amen für die Wahrheit und für die Gerechtigkeit, der Aufschrei seines Herzens für die Bedrängten wurde – fast möchte ich sagen – zu einem Glaubensbekenntnis für ihn selber. Zwar war es so weit noch nicht, daß er ein Christ geworden wäre in des innersten Herzens Grund. Die reiche Gedankenwelt, die ganze Glaubens- und Hoffnungswelt der Christen war ihm ja noch nicht erschlossen, aber seines Herzens geheimstes Sehnen war laut geworden, so laut wie noch nie zuvor in seinem Leben, und der Schrei nach Erlösung für andere war auch schon ein Näherkommen zum Erlöser und selber schon eine Vorstufe der Erlösung. Er war nicht nur stehen geblieben auf dem alten, gewöhnlichen Weg aller Welt, sondern sein Stehenbleiben auf demselben führte ihn auf einen neuen Weg.
Otto Simon kam auch viel mit seinem Vetter zusammen, diesem vielgeprüften Mann, bei dem jetzt auch die Bedrängnis in der eigenen Familie dazu kam, und Zwiespalt unter den älteren Kindern über der großen Frage der Zeit allmählich auch angefangen hatte, ihm am Herzen zu nagen. Es kam jetzt alles von außen und innen zusammen, ihn zu einem recht unglücklichen Menschen zu machen, und Otto Simon, der Verwandte, wollte es ihm in diesem seinem Leid recht zeigen, daß er ihn liebe und ehre, und nicht irre an ihm werde. Er konnte so warm mit ihm reden, daß der Vetter, – in Wehmut wohl, – doch dadurch getröstet wurde. Und mit Freuden nahm er auch wahr, daß in Otto Simon etwas vorging, – vielleicht mehr als dieser sich selber nur klar wurde. Einmal sagte Otto Simon zu ihm: – sie waren gerade im Gespräch gewesen über die Verwirrung der Begriffe und über die Leidenschaft der bethörten Menge: – »Ich weiß ja wohl, daß ich nicht bin, was Du bist; aber das sei überzeugt, daß ich Dir immer zugethan bleibe, – und nicht nur aus Mitleid, mein Lieber, gewiß nicht nur aus Mitleid. Nein! es will mir oft scheinen, Ihr stehet viel zu hoch für bloßes Mitleid; Ihr seid zu gut für das Barmherzigkeitsgefühl von uns ungerechten Menschen. Ihr steht hoch über uns, ich verehre Euch mehr und mehr. Ja, es hat eine Zeit gegeben – als es so anfing, – da bemitleidete ich Euch wie von oben herab; aber jetzt möchte ich fast sagen, ich beneide Euch, ich sehe an Euch hinauf!«
Der Vetter sah ihn liebreich und nachdenklich an mit seinen stillen, ernsten, sanften Augen und sagte dann: »Willst Du nicht auch einmal mit mir gehen, wenn ich mit anderen Christen zusammenkomme?« Und als Otto Simon eine Bewegung der Verwunderung machte, da setzte er hinzu: »Wen ich mitbringe, dem traut man bei uns, Otto; sei ohne Sorge! Und ich weiß, ich brauche Dich ja nicht erst zu bitten, zu schweigen. Du schweigst still, als wärst Du unsereiner.« Und dann nach einer Weile: »Wir brauchen diese Zusammenkünfte, sie sind uns notwendig! Wir haben festen Zusammenhalt nötig, der Einzelne kann es nicht mehr für sich allein. Wir können es nicht mehr nur so, wie man in der Kirche zusammensteht und zusammensitzt, – hier einer und da einer, jeder an seinem Platz oder in seinem Stuhl je für sich, gleichviel wer hier oder wer dort noch ist, – sondern wir müssen Schulter an Schulter beieinander stehen, wir müssen einander unterstützen und schützen vor des bösen Feindes Macht, wir müssen einander warm halten in der Bruderliebe und Gemeinschaft und« – setzte er schmerzbewegt hinzu, – »auch in der Menschenliebe und Vaterlandsliebe, da man uns so verachtet und so übel verkennt und hinausstößt.«
Damals hatte Otto Simon geantwortet: »Ja, ich möchte wohl einmal mit Dir gehen und mit dabei sein, wenn Ihr zusammenkommt, – wenn ich nur niemand störe und besorgt mache. Aber Ihr dürft mir trauen!«
Der Vetter lächelte: »Sei ohne Sorge, Otto! es ist so: wenn ich Dich mitbringe, ist niemand in Sorge; da weiß jedermann, daß Du ein Freund bist, wenn auch nicht ein Bruder.«
Und so war er denn wirklich mitgegangen an jenem Abend, den einsamen, weiten Weg in die Wildnis, und war dort gestanden an den Felsen gelehnt, hatte zugeschaut und zugehört, hatte alles gesehen und gelauscht, hatte gestaunt und sich geschämt, sich betrübt und sich gefreut. Und dann war er nach jener erregten und bewegten Stunde wieder heimgegangen wie aus einem Paradies weg, heim und unter die Menschen zurück wie an einen schaurigen Ort und in einen Abgrund hinein. Ja, so war es gewesen. –
Heute saß er denn also wieder mit Kuno Brünné zusammen und erzählte ihm davon.
»Und für Deinen Bruder, lieber Kuno, hat man dort auch gebetet, und ich meine, das müsse er gespürt haben in seinem Gefängnis und auf seinem Krankenlager. Ich habe das nie so verstanden, was es ums Gebet ist. Ja, einmal, als ich bei Herrn Ducrot saß, an dessen Todestag, und der arme Matthi kam und mit ihm betete, – es war auch darnach, es galt ja ein Sterben, – da habe ich es auch empfunden, was es ums rechte Beten ist. Aber als man für Deinen Bruder betete und für die vielen Bedrängten und Verfolgten, für die Flüchtlinge und die Gefangenen, da meinte ich wahrhaftig, die Stätte bewege sich, da wir standen, – so beugte es mich, so traf es mich im Innersten, so hob es mich empor! ›Gewiß!‹ – dachte ich, – ›Gott ist an diesem Ort, Gott ist mit ihnen, Gott tröstet sie!‹ Und er wird auch Deinen Bruder getröstet haben und alle Tage wieder trösten!«
Kuno nickte und weinte still. O wie that ihm Simons Liebe, eine ganz neue Freundesliebe dieses edlen Mannes, so wohl! Otto Simon wollte gar nichts weiter sein als er, der einfache Kuno. Es war, als wollte er sich sogar unter ihn hinunterstellen um des Märtyrers, des Bruders Leon willen.
Otto Simon fuhr fort: »Ich sage Dir, Kuno: als der Geistliche redete über den Psalmen, – was war doch das für einer? ich finde ihn nicht mehr; es war ja fast, als wäre er neu gedichtet, gerade besonders für diese Christen und gegen ihren Antichristen, – und als sie dann miteinander beteten, auf den Knieen, da erfaßte es mich und riß mich ganz hin. Ich dachte an meine liebe Mutter, als diese mich einmal, wie ich noch ein kleiner Knabe war, an des sterbenden Vaters Bett niederzog und mit mir laut betete. Aber diese da schrieen nicht sowohl um die eigene Not zu Gott, – sie lobten ja Gott um die Gnade, die er ihnen gegeben habe! – sondern sie beteten miteinander für andere, meist für ganz andere, und auch für ihre Feinde und Widersacher. Und wie ich das so sah und hörte, die ernsten und doch leuchtenden Gesichter sah, und die ernsten und doch so beredten sieghaften Worte hörte, – da leuchtete es in mir auch auf und ich sprach ganz unwillkürlich etwas von dem alten Glaubensbekenntnis vor mich hin, das man am Sonntag in dem Gottesdienst ja immer spricht: ›Ich glaube eine allgemeine heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen!‹ Ich habe dieses Wort in seiner Kraft und Bedeutung nie so ganz verstanden oder erfaßt, es war mir jedenfalls nie etwas Besonderes; aber Kuno! jetzt, jetzt sage ich auch so: Ich glaube, ich glaube eine allgemeine heilige christliche Kirche, ›die Gemeinschaft der Heiligen‹. Denn die Gemeinschaft der Heiligen, Kuno, die habe ich jetzt gesehen und gehört, ich habe sie gespürt und erlebt. Das ist etwas Großes!«
Und dann begann er wieder: »Kuno, was sind wir dagegen für arme Leute! Wir stehen zwischen zwei Feuern, dem Feuer, das sie noch verzehrt und verbrennt, und dem Feuer ihrer Begeisterung; wir stehen zwischen zwei Feuern, und werden so weder kalt noch warm. Ich wollte, wir wären auf ihrer Seite und selber ihresgleichen. Die sind mir nicht mehr bemitleidenswert, sie sind mir beneidenswert! Was mag noch kommen in der Welt, wenn es so fortgeht! Aber diese werden durchgerettet, das glaube ich gewiß. Und wenn sie verbrannt würden, so werden sie doch gerettet! Es ist einer, der steht für sie ein und wird sie erretten aus aller Trübsal, das glaube ich jetzt ganz gewiß. Der läßt seine Leute nicht mehr lange so allein. Wie es noch kommen wird, das weiß ich nicht; aber um uns ist mir viel mehr bange als um diese Leute. Ich kann Dir sagen, es ist eine wunderbare Sache um diesen Glauben und dieses Leben.«
Kuno antwortete: »Hätte ich doch meinen Bruder besser gehört, wenn er früher je und je so etwas davon sagte. Ach, jetzt ist er weg und ich könnte ihn so nötig brauchen! Wie bin ich mit ihm so innig verbunden, so innig, und jetzt erst recht, – und doch wie durch einen Abgrund bin ich von ihm getrennt, nicht nur durch sein Gefängnis, sondern auch durch unsere ganz andere Lebensanschauung und Lebensmanier. Er ist hoch über mir, hoch über mir, er schwebt mir schon über der Erde, – und ich, ach! wie bin ich so verlassen und einsam! Ich kann so nicht glauben, wie er glaubt, – ich kann es eben nicht; ich habe es nicht in mir. Es fehlt nicht am Verständnis, sondern – ich weiß nicht, wie ich sagen soll, – ich habe es eben nicht in mir, was er hat. O, das sind reiche Leute, diese Verachteten und Geächteten! Wir aber hängen eben noch mit der Welt zusammen, – ganz und gar. Und was wird es noch werden mit dieser Welt! Oft meine ich, es müssen ganz besondere Gerichte kommen und wie ginge es uns da, – wie ginge es uns da!
»Gott wird sich über uns doch auch noch erbarmen, Kuno, und wird uns weiter helfen,« sagte Simon tröstend und doch selbst betrübt.
»O, das möge geschehen!«
»Du hast doch einen Bruder, der auch für Dich betet, und ich habe meinen lieben Verwandten, der nimmt mich gewiß auch an.«
»Ja, aber was ist doch das so sonderbar! Sie sind so lieb und freundlich, diese Leute, aber sie sind wie höheren Wesens, – mit ihnen geht es empor und wir bleiben die Verlassenen. In die tolle Welt mag man nicht mehr hinausgehen und doch kann man nicht so ohne weiteres sagen: jetzt bin ich auch ein Christ!«
»Es ist,« antwortete Otto Simon, »wie wenn auf der ganzen Welt ein Bann läge und wir müßten eben auch darunter leiden. Es ist schon lang eine Zeit der Scheidung und Sichtung gewesen, und jetzt ist Sturm und. Gewitter gekommen, ja eine wahre Schreckensherrschaft. Und es kommt noch ein Gericht, das spürt man wohl!«
Kuno antwortete: »Mein Bruder hat einmal gesagt: ›es giebt Gnadenzeiten und Gerichtszeiten; wenn die Gnadenzeit aus ist, ist sie aus.‹ Was heißt das? – ist es jetzt so?«
»Es mag wohl sein,« sagte Otto Simon nachdenklich; »aber vielleicht heißt es einmal auch: wenn die Gerichtszeit aus ist, so ist sie aus. Gott nimmt uns vielleicht doch noch an, wenn auch nicht mit jenen, und so wie sie.«
»Wir können gar nichts besseres thun,« sagte Kuno, »als Gott bitten, er möchte uns behüten und segnen.«
»Und er thut es gewiß, wenn wir ihn bitten,« antwortete Otto. »Dein Bruder Leon ist Dir jetzt schon ein Segen, und mir auch mein Verwandter.«
*
So hatten sie noch nie miteinander geredet, noch gar nie! Sie wunderten sich selber darüber, jeder über sich selbst und über den andern. Fast etwas wie ein Gefühl der Beschämung kam nachher über sie, – ein thörichtes Gefühl eigentlich, und doch echt menschlich! Aber der Mensch kommt oft in ein inneres oder äußeres Gedränge, das ihn über sich selbst hinaushebt und geistige Wahrheiten erkennen und aussprechen läßt, die ihm bisher nicht erschlossen waren, und an denen er nachher selber noch lang zu lernen hat. Wir Menschen sind doch hoch geadelt! wir haben gottgeborene Seelen, unser Gewissen ist ein Gotteswissen und hat oft den Geist der Weissagung.