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III. Kapitel.
Eine ernste Entscheidung.

Motto:

Sieh an mein qualvoll Schwanken!

Geibel.

Der jüngere der beiden Männer ging raschen Schrittes seinen Weg, der ältere bog langsam in eine andere Straße ein. Hier kam er bald an eine der öffentlichen Anlagen und setzte sich auf eine Bank. Er sah sich zunächst um, wer in der Nähe sei. Er sah aber nur da und dort einige Arbeiter, welche das ihnen zugebrachte Mittagsmahl meist einsam und schweigend verzehrten. Da war ein alter Vater, der immerhin zwischen hinein mit seinem Töchterchen sprach, welches ihm das Essen hierher gebracht hatte; dort ein junger Mann, neben welchem, die Hände auf den Knieen, sein junges Weib saß, gerne ausruhend und ruhig befriedigt zusehend, wie ihrem geliebten Mann das Essen schmeckte, das sie ihm soeben zugetragen hatte. Auf der anderen Seite saßen und lagen auf zwei Bänken mehrere junge Arbeiter, einige lachten und scherzten mit einander, einige waren auch sehr übel gelaunt und verdrossen. Zwei schliefen, ob von Nachtarbeit oder von Arbeitsübermüdung oder in verlotterter Kraft, konnte man ihnen ja jetzt nicht ansehen. Bald standen aber die ersteren auf, offenbar, um jetzt erst zum Essen zu gehen. Als sie an ihm vorüber kamen, sahen sie ihn an, als wollten sie ihn einladen, mit ihnen zu kommen. Aber er wich ihren Blicken aus und setzte sich, wie um weiter auszuruhen, anders zurecht.

Er mochte heute am allerwenigsten in das öffentliche Speisehaus. Lieber wollte er die Gesellschaft anderer Menschen heute ganz meiden, als in ein unliebsames Gespräch verwickelt werden. So zog er denn etwas Brot und Wurst aus der Tasche, was er sich vorhin gekauft hatte, und gedachte die Mittagsstunde hier zuzubringen, um, wenn möglich, heute mittag so schnell als irgend thunlich bei dem Herrn vorzukommen und seine Abmeldung anbringen zu können. Denn es konnte ja auch nicht sein, daß man ihn sogleich entließe, und dann hätte der arme Freund keine Hilfe an ihm und müßte allein seiner Wege ziehen; – ob sie sich dann nachher wiederfinden am dritten oder vierten Ort, das war doch sehr die Frage. Inzwischen aber etwa daheim bleiben und warten, bis sie beide mit einander auf die Wanderschaft gehen könnten, das wollte der andere sicher nicht; so kannte er ihn und seine Familienverhältnisse schon.

Er sann darüber nach. »Mein lieber Freund ist eben auch etwas stürmisch,« sagte er zu sich selbst. »Nur immer alles heraussagen, nur nie schweigen können, nur nichts auf sich sitzen lassen! Und immer entschuldigt er es, – er wolle wahr sein, sagt er, er wolle nicht feig erscheinen, man müsse auch seinen Glauben bekennen u. s. w. Es ist ja wahr, er ist ein durch und durch edler Mensch, ein frommer Mensch, er meint es treu und gut und wäre imstand, sein Leben zu lassen für seinen Glauben, – aber hat es denn diesmal sein müssen, diesmal gerade oder jetzt schon? – Wie wäre es, wenn ich für ihn bitten würde, man möge ihn noch behalten, er sei ja ein guter Arbeiter, er wäre niemals imstand, dem Geschäft zu schaden, man könnte ihn jahraus jahrein allein und ohne Aufsicht arbeiten lassen, in einen Goldhaufen könnte man ihn hineinsetzen, so durch und durch ehrlich sei er. Gewiß, das wird ziehen! Sie behalten ihn, sie sind nachher wieder froh an ihm und jedenfalls froh daran, wenn ich nicht auch gehe, denn um viel Wechsel ist es ihnen in der gegenwärtigen Zeit auch nicht zu thun. – Aber ob? wer weiß das gewiß? die Laune, die böse Laune des Herrn! wer weiß, wie ich ihn heute treffe? Es kommt ja ganz darauf an. – Es wird nicht gehen, ich muß eben doch auch kündigen! Verlassen kann ich ihn nicht. Wüßte er es, daß ichs um deswillen thue, so würde er es nicht dulden, der edle Mensch, der nie sein eigenes sucht; aber allein darf er mir nicht ziehen, das steht fest!«

So kämpfte es in ihm; sein Mittagsmahl war bald vorüber; es drückte ihn nicht, denn viel war es heute nicht. Das wäre auch nicht gut gewesen; denn es drückte ihn ja anderes, ganz anderes, jetzt genug!

Er war zu verständig, als daß er einen solchen Wechsel hätte leicht nehmen mögen, wie das andere oft thaten, meinend, sie seien Männer, wenn sie trotzig davonlaufen und nach vierzehn Tagen wieder bittend daherkommen, wie wetterwendische Kinder, um den gleichen Platz wieder zu suchen, den sie trotzig verlassen hatten, als wären sie selbst die Herren in der weiten Welt. Die Welt ist ja weit, weglaufen konnte jeder; aber die Arbeitsnöten und der Hunger machten die weite Welt oft zu einer brennenden Prärie, aus welcher sich auch die Wilden gern wieder flüchteten und dankbar ihr altes verachtetes Nest wieder suchten, wenn es nur überhaupt noch zu finden oder zu besetzen war.

Unter solche zählte sein lieber Freund ja nicht. Im Gegenteil, er war treu gegen Gott und treu gegen Menschen, und es hätte ihn keine Arbeitsüberbürdung, selbst kein kärglicher Lohn, (obschon er Besseres suchte und Höheres erstrebte,) je weggetrieben. Was ihn wegtrieb, war einzig und allein etwas Innerliches, Geistiges, – die Überzeugung, sein Glaube. Er konnte es oft nicht mehr ertragen, immer verspottet zu werden; und vollends unerträglich war es ihm, nicht etwa nur sich für seine Person, sondern seine Glaubensüberzeugung selber angegriffen zu sehen, das geschmäht zu wissen, was ihm das einzige Feste und Sichere, das einzig Große und Kostbare in der unbeständigen wertlosen Welt zu sein schien; – den allerhöchsten Namen, den menschliche Lippen nennen können, von der Masse total vergessen und verlassen, von anderen aber, welche mit ihm darüber zusammenstießen, so verachtet und geschmäht zu wissen, wie sonst nichts in der Welt, – das, das war ihm ein Brand im Herzen, ein Riß durch die Seele, es war ihm eine Kränkung seines innersten Gemütes, ein nagender Wurm bei Tag und Nacht.

Er allein, der ältere Freund, hatte ganz dieselben Gesinnungen, auch dasselbe Weh im Gemüte; aber er war nicht so persönlich gekränkt dadurch, nicht so aufgeregt. Nun ja, er hatte es auch leichter. Sein Bruder ließ ihn gewähren und andere Verwandte waren ihm nicht nahe, beide Eltern aber tot; der junge Freund dagegen war bedrängt in der eigenen Familie, von den eigenes Geschwistern. Da wurde gelacht und gescherzt, gestichelt und gebissen, geschimpft und beleidigt, gehaßt und verfolgt. In einem Stall giebt es unter zehn immer auch ein paar bissige, unruhige, böse Tiere, aber immer doch nur ein paar, oder vielleicht nur eines, und man kann sich ihrer schließlich erwehren, man bindet sie an, man stellt sie besonders. Aber Menschen, – Menschen! Nein! wenn Menschen einander einmal plagen wollen, dann sind sie Teufel und treiben es teufelmäßig. – Und in Glaubenssachen gar! O da giebt es ein goldenes Wort: Gewissensfreiheit! ein schönes Wort: Toleranz! Wenn aber das aufgerissene Maul eines Spötters von diesen beiden redet, so meint er, er dürfe eine Rute, eine Geißel, und wenn es ihm, dem Toleranten, beliebe, auch eine Folter daraus machen für seinen stillen, bescheidenen, zurücktretenden Bruder. So ist es in der Welt, in der weiten Welt ist es so. Ob das nicht verkehrte Welt ist? Ob das Toleranz ist? So war es aber von jeher in der Welt, und die Jahrhunderte der Aufklärung haben es um nichts besser gemacht. –

Aber was sollte er nun thun? Wie sollte er es recht machen? In der That, er wußte es immer noch nicht. Als die Zeit des nachmittäglichen Arbeitsbeginnes vollends herankam, da machte er sich auf, er verließ seine Bank, übrigens langsam genug, recht langsam. Nicht geraden Wegs ging er seiner Arbeitsstätte zu, sondern auf allerlei Umwegen, einerseits um nicht sozusagen mit dem Strom zu schwimmen, wenn jetzt die Massen der Arbeiter denselben Weg gingen, wobei sich ja leicht einer oder der andere an ihn hängen und vielleicht durch irgend ein unliebsames Gespräch ihn lästig stören könnte; auf der anderen Seite mochte er jetzt auch nicht durch Einschlagen einer dem Strom entgegengesetzten Richtung gegen den Strom schwimmen und sich dabei von jedermann ins Gesicht sehen lassen. Ein unentschlossenes Gesicht ist zwar nach außen oft das rätselhafteste, oft so sehr, daß kein Mensch daraus irgend etwas erraten kann, nicht einmal die Unentschlossenheit selber; es gleicht einem Haus, in welchem alle Fenstervorhänge heruntergelassen, alle Thüren und Läden fest verschlossen sind, und wer nicht vorher schon damit bekannt ist, weiß jetzt nicht, ist das Haus verlassen oder ist es verkauft, ist Verarmung an diesem Zustand schuld und kommt Gant, – oder ist der Grund am Ende gar das Gegenteil, indem der reiche Besitzer mit Frau und Kind, mit Troß und Dienerschaft verreist und in die weite Welt hinausgezogen ist. Ja, er hätte es sich auch nicht ansehen lassen mögen, was da drinnen in ihm vorgehe, aber arm und im Gedränge, fast gar verlassen und verkauft kam er sich doch vor, äußerlich wenigstens, wenn ihn auch je und je ein Gefühl ermutigte, daß er doch innerlich reich sei, reich und glücklich, vielleicht schließlich reicher und innerlich glücklicher, als viele andere in großen, reichen Häusern. Freilich unentschlossen war er, recht sehr unentschlossen, und als er schließlich durch einige Winkelgäßchen und Nebenplätze an seine Fabrik kam und hinten womöglich ungesehen hereinschlüpfte, da klopfte ihm doch das Herz, denn jetzt, jetzt mußte irgend etwas geschehen. »Geschehen!« Wenn man doch nur immer alles »geschehen« lassen könnte! Wenn man doch nicht oft gerade in den wichtigsten Fällen des Lebens sich selbst entscheiden, offen reden, frei handeln müßte! Wenn es doch nur nicht so schwer wäre, in bedrängter Lage zu handeln, oft sogar schwer, auch nur ein Wort zu reden, ja nur innerlich sich zu entscheiden! Aber es ist so. Und doch, – kommt dann der Augenblick, so schiebt man nicht bloß, sondern man wird geschoben, man treibt nicht bloß, sondern man wird getrieben, ein unbestimmtes Etwas giebt den Ausschlag, man weiß oft selber nicht, ist es ein »Will« oder ist es ein »Muß,« ist es das eigene Ich in uns oder ist es irgend eine Macht außer uns.

Wie es auch zuging, – an seinen Arbeitsplatz kam er jetzt nicht, auf einmal stand er im Comptoir, und wie er einmal drinnen war, da wurde er erst recht geschoben. Da ging es ja zuerst durch die verschiedenen äußeren Räume, Ausstellungsräume, Musterlagerräume hindurch, da gab es kein Stehenbleiben, sonst hätte es geheißen: »Was thun Sie da, was wollen Sie?« Jetzt gings zu den Buchhaltern hinein und rechts oben an einem etwas in der Ecke stehenden Pult vorüber, und hier saß – sein Bruder! Derselbe grüßte ihn sehr freundlich, aber stille, durchaus nicht etwa förmlich und geschäftlich, aber eilig und geschäftig. Denn er war sehr fleißig und mußte auch ein gutes Beispiel geben, wollte und sollte nicht parteiisch erscheinen, – und so verzögerte unser Freund an diesem Platze vorbei wohl seine Schritte ein ganz klein wenig, aber doch nur ein ganz klein wenig; ihm ging es viel zu schnell, er hätte so gerne etwas gesagt, aber das war rein nicht zu machen. Die Thüre zum Prokuristen stand ja offen, und die Arbeitszeit hatte kaum begonnen; der erste Buchhalter, sein Bruder, mußte das beste Beispiel geben, und in diesen Räumen konnte am allerwenigsten ein Arbeiter stehen bleiben oder gar schwatzen. So ging er denn durch, zum ersten Prokuristen hinein, der sagte nur: »Zum Herrn?« und er seinerseits nur: »Ja, zum Herrn!« und ging an die letzte Thüre, – die war zu. Es war nämlich eine eigentümliche Sitte im Haus; der Herr des Geschäfts war nicht viel im Verkehr mit den Arbeitern, aber er verlangte, daß jeder Arbeitsaustritt immer zuerst bei ihm direkt gemeldet werden solle. Er hatte so seine Gründe; ein paarmal war es ihm so vorgekommen, als könnte da vieles verhütet oder besser gemacht werden. Ob wirklich auf diese Weise etwas besser gemacht oder vieles verhütet werde, war ja eine Frage, aber er meinte es nun einmal, darum war es im besten Meinen von ihm so geordnet. Daher nur die kurze Frage des Prokuristen und die kurze Antwort des Arbeiters. Man wußte ja hier jedenfalls schon: ein Arbeiter kommt nicht ohne weiteres so direkt herein, wenn es nicht eben ein ganz bestimmter Grund ist, der ihn treibt. Hätte es sich jetzt geschickt, daß er noch einmal zurücksehe, so hätte er gesehen, daß sein geliebter Bruder von seinem Pulte sorglich aufschaute, als er an der letzten, geschlossenen Thüre ankam. So aber sah er nichts, sondern er hörte nur, – oder vielmehr er horchte auf sein Anklopfen; das Ohr ganz nahe an die Thüre haltend, horchte er, ob »herein!« gerufen werde. Fast wäre er zu frühe eingetreten, denn sein Herz klopfte auch, und das verwirrte ihn, vielleicht verwechselte er es mit seinem Klopfen und meinte, er habe schon öfter geklopft und es sei vielleicht schon »herein!« gerufen worden. Jedenfalls rief jetzt wirklich drinnen eine kräftige Befehlsstimme: »Herein l« und – drinnen war er in einem Augenblick. –

»Was wollen Sie?«

»Ich habe kündigen wollen.«

»Wie heißen Sie? Ach, Sie sind Brünné, nicht wahr?«

»Ja, ich heiße Leon Brünné.«

»Und was ist Ihr Begehr?«

»Kündigen habe ich wollen.«

»Nun, und was ist der Grund?«

»Herr Pilsen, ich will es offen sagen ...«

»Nur heraus damit!« sagte Herr Pilsen gemessen-freundlich.

»Meinem Freund ist gekündigt und da möchte ich auch gehen.«

»Nun?« antwortete Herr Pilsen etwas kurz.

»Sie dürfen nicht meinen, es geschehe aus Trotz oder so etwas, – gewiß nicht, sondern nur aus Mitleid.«

»Was tausend!« war Herr Pilsens ironische Antwort.

»Ich meine, aus Mitleid mit meinem Freund.«

»Sie meinen den, dem wir gestern gekündigt haben?«

»Ja.«

»Nun, der ist Ihr Freund und Sie der seine?«

»Ja, Herr Pilsen.«

»Und das ist Matthi, der Hitzkopf? Solche Leute können wir nicht behalten. Sie werden zu unangenehm. Sie wissen doch, wie die Zeiten sind. Da hat man nur Belästigungen. Ich hoffe, Sie werden anders denken als er, aber warum sind Sie dann sein Freund?«

»Einmal verdient er meine Freundschaft, Herr Pilsen, und dann denke ich gerade so wie er.«

»Gerade so?« frug Herr Pilsen ärgerlich und befremdet.

»Ja wohl. Warum nicht, Herr Pilsen? das sind Glaubenssachen ...«

»Ach, Glaubenssachen! Ansichten sind's, Ansichten, und was für –!« rief er ärgerlich: »Doch das geht mich nichts an. Ja also, ich kann nur sagen, es thut mir leid, aber halten will ich Sie nicht. Ich habe nicht gewußt, ... doch ja, es fällt mir ein, es ist schon einmal die Rede davon gewesen, daß Sie auch so einer sind. Guter Freund, nehmen Sie einen guten Rat an und nehmen Sie sich in acht; lassen Sie diese sonderbaren Sachen; das muß nicht sein! Es muß nicht sein, daß man sich unbrauchbar macht fürs praktische Leben! Aber ich will Sie nicht beeinflussen. Wenn Sie gehen wollen, so gehen Sie eben. – Melden Sie sich eben draußen, sagen Sie es zuerst dem Herrn Prokuristen. Adieu!« sagte er geschäftlich, wenn auch eher mißgestimmt, als wirklich unfreundlich.

»Leben Sie wohl, Herr Pilsen!« Leon ging, die Thüre schloß sich hinter ihm, oder vielmehr er schloß sie selber; Herr Pilsen war schon wieder an seinem Platz, über welchen er aber noch einen Blick zur Thüre warf und, um das unbefangen thun zu können, sein Tintenzeug oben auf dem Pult zurechtrückte. –

Leon Brünné stand jetzt vor dem Prokuristen.

»Herr Simon, ich soll Ihnen sagen, daß ich gehen will; ich habe gekündigt.«

Herr Simon, der Prokurist, sah ihn etwas verwundert an. »Sie gekündigt? sind Sie erst eine Woche hier im Geschäft? was giebts denn?!«

»Es ist mir leid, aber es geht nicht anders.«

»Nun?«

»Mein Freund Matthi geht, so will ich auch gehen.«

»Ja, der wird gegangen,« sagte der Prokurist halb ärgerlich, »aber Sie?«

»Ich kann und will ihn nicht verlassen, er ist mein lieber Freund und er verdient Freundschaft.«

»Aber nicht von Ihnen!«

»Doch, Herr Simon, – daß ichs kurz sage, wir sind ganz einer Gesinnung«

Der Prokurist sah ihn von oben bis unten an, als wollte er die Gesinnung, dieses unerklärliche Ding von Gesinnung – sehen, riechen, fühlen, betasten.

Es gab eine peinliche Pause, keiner von beiden Teilen wollte über »Gesinnung« jetzt weiter reden. Leon sah selbst ein und war von jeher der Meinung, daß es sich nicht immer paßt, von dergleichen Dingen zu reden. Und der Prokurist war wohl der Meinung, daß das jedenfalls jetzt ins Geschäft durchaus nicht passe. Was gehört zu einem Geschäft? Fleiß, schöne Handschrift, praktisches Wesen, gute Kenntnisse, gute Manieren, natürlich auch vor allem Solidität, – aber doch nicht »Gesinnung!« Doch nein, ernstlich nein! Da hätten wir dem Herrn Prokuristen Simon Unrecht, bitter Unrecht gethan. Er war selbst ein Mann von edler, durchaus edler Gesinnung. Nur meinte er, ›es kann jetzt nicht davon geredet werden; das gehört doch jedenfalls nicht ins Geschäft. Hier ist die Arbeit und nur die Arbeit und die Pflicht; lassen wir also Sachen weg, welche aufhalten und zu weit führen,‹ dachte er. Im übrigen war er viel zu gerecht, als daß er eines Mannes Überzeugung hätte nahetreten oder sie beeinflussen mögen. Er war ein Deutscher von Geburt, erst wenige Jahre da, aber allgemein geachtet und besonders von seinem Chef sehr wertgehalten, weil durch und durch zuverlässig, energisch, umsichtig, praktisch, gewandt, – in der That, das große Ganze hatte an ihm die stärkste Stütze, die beste Kraft, er füllte seinen Platz aus und er verdiente den ersten Platz. Er war im Grund genommen noch jung, unverheiratet, er hätte vielleicht heiraten können, – doch lassen wir dieses bekannte Thema. Aber er hatte also Gesinnung, eine wirklich ernsthafte, edle Gesinnung, er war Gemütsmensch durch und durch, nur sah man es ihm im Geschäft natürlich nicht so leicht an.

Doch ewig kann man nicht vor einander stehen bleiben und einander anschauen. Nun, es dauerte auch nicht ewig, es war nur eine Pause, wenn schon Leon so etwas verspürte, als wäre es eine halbe Ewigkeit, – und doch wieder viel zu kurz für eine solche Entscheidung. Denn es war jedenfalls eine sehr ernste Entscheidung.

»Haben Sie Herrn Pilsen Ihre Gründe gesagt?« fragte jetzt Herr Simon.

»Ja, ich habe ihm alles gesagt.«

»Nun, dann ist es schon gut. Gehen Sie nun eben vorerst wieder an Ihre Arbeit.«

Damit entließ er ihn, und Leon Brünné (beiläufig gesagt, vom Ururgroßvater her ein ursprünglich deutscher Name »Brunner«,) ging an seinem Bruder vorbei, welcher ihn wieder fragend ansah, aber auch jetzt weiter nichts reden wollte, – und ging an seine Arbeit.

Ja, wenn das nur wahr wäre! aber wenn man so »an die Arbeit« geht, so giebt das eigentlich gerade das Gegenteil von Arbeit. Arbeit ist doch nicht bloß das, daß die Hände stoßen und schlagen, drücken und schieben, oder daß die Arme hin- und herfahren, bald auf und ab, bald vor- und rückwärts, und daß daraus eine Wirkung entsteht, welche man Hämmern und Feilen, oder Sägen und Hobeln nennt. Dieses langweilige Ding von Bewegung des Körpers und seiner Glieder ist doch nicht Arbeit, das sind doch nur Körperbewegungen, die man ja viel besser und gesünder, viel schöner und lustiger in Gottes freier Natur spazieren gehend machen könnte. Arbeit heißt doch vor allen Dingen Wollen und Denken, Aufpassen und Überlegen, Vorsehen und Nachsehen, mit einem Wort: vor allein Geist und Seele bewegen, nicht bloß den Körper, und wenn die Arbeit das nicht ist, so ist sie nichts, jedenfalls nicht wohlgethan, oder mindestens nicht befriedigend.

Er kam sich denn fast vor wie hinausgeworfen, so höflich man auch gegen ihn gewesen war. Er kam sich vor, wie wenn ihm die Thüre vor der Nase zugeworfen worden wäre, wenn schon er sie ja bei Herrn Pilsen selbst zugemacht hatte und die anderen Thüren alle weit offen geblieben waren, – oder etwas königlicher ausgedrückt: er kam sich vor, wie wenn er die Schiffe hinter sich verbrannt hätte und stände nun am Ufer des unbekannten Landes, oder nein, wie wenn der arme Brünné von einer hohen Brücke herabgesprungen wäre und jetzt im Wasser läge, oder – meinetwegen wieder großartiger ausgedrückt, wie wenn er noch im weiten Ocean schwämme, im tiefen Wasser, zwar von der Salzflut getragen, aber von der Salzflut also, welche bekanntlich bitter ist, – und rein nicht wüßte, nach welcher Richtung hin er sich jetzt wenden wolle.

In der That, so geht die Arbeit schwer, sehr schwer von statten. Von statten geht sie gar nicht, vielleicht man »schafft wie ein Feind« darauf los, wie man zu sagen pflegt, aber es ist absolut keine Befriedigung drin, und es will auch nicht recht gelingen. Doch es war jetzt einmal so, es ließ sich für jetzt nicht mehr ändern, – also nur immer zu, Leon, nur immer zu!


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