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VII. Kapitel.
Im Haus des reichen Levi.

Motto:

Jerusalem! »hebe deine Augen auf und siehe umher: Diese alle versammelt kommen zu dir; deine Söhne werden von ferne kommen und deine Töchter zur Seite erzogen werden.«

Jesaias.

Im Haus des reichen Levi ging es heute recht lebhaft zu. Was war denn das? Einmal war es ein Hasten in der Arbeit, als jage ein zorniger Gebieter alle seine Dienerschaft im Haus umher. Dann wieder lachten zarte Stimmen da und dort so lustig, als ginge man einem frohen Fest entgegen. Jetzt stürmte es von den Bodenräumen hoch oben herunter, als brenne schon der Dachstock und gälte es, alles zusammenzuraffen und noch zu retten, – und dann wieder standen die Dienerinnen, die alte Amme und das junge Mädchen, vertraulich flüsternd in den Wohnräumen und in den Schlafzimmern und hielten Umschau, ob auch alles wohl geordnet und vorbereitet wäre. Was gab es denn wohl? Sollte das einer Hochzeit gelten? Oder was sonst sollte kommen?

»Jetzt geht mir aber auf den Bahnhof! Ich kann heute unmöglich selber hinaus. Holt mir meine Rahel ab! Geht beide zusammen, Ruth! Nimm die kleine Kathi nur auch mit. – Du kannst doch allein bleiben, Mirjam, nicht wahr?«

»O ja, Vater!« rief Mirjam, »Du bist ja doch da, nicht wahr?«

»Gewiß, Kind, ich bleibe! – So geht denn, Ruth, geht! Und grüßet mir meine Rahel zum Heimkomm mit dem Segen ihres Vaters!«

»Wir gehen sogleich, Herr Levi!« Damit verabschiedete sich Ruth, die Amme, und ging mit Kathi, der Christenmagd, zum Bahnhof. Mirjam blieb mit ihrem Vater allein. –

Der alte Levi war ein Mann in den siebziger Jahren. Seine geliebte Mirjam, das Weib seiner Jugend, war schon lange tot. Ihren Namen trug Mirjam, die jüngere Tochter, ihr Bild aber Rahel, die heute erwartete ältere. Rahel war die Freude seiner Augen, Mirjam hatte er herzlich lieb, aber – ihre Augen, ihre Augen! Das arme Mädchen war fast blind, eine Scharlachkrankheit hatte diese böse Tücke hinterlassen; der reiche Levi hatte hier gewiß nicht gekargt, für seine Kinder konnte er alles thun und hier war ihm nie etwas zu viel gewesen, aber die Kunst der besten Ärzte konnte das Übel kaum aufhalten und es drohte Schlimmeres. Allmählich merkte das Mädchen selbst, ohnedem viel bekümmert, dies auch.

Mirjam war jetzt sechzehnjährig, sie sah das bunte Leben immer nur durch einen trüben Schleier. Das sanfte Grün des Frühlings erquickte sie auch, aber ihr Blick dürstete nach dem vollen Leben und nach der Frische seiner Farben und beides konnte sie nicht genießen. Der goldene Glanz des Sonnenscheins im Sommer that ihren Augen wehe, die mannigfaltigen Herbstfarben waren für sie ein fahles Einerlei, eine glänzende Schneefläche gar schnitt ihr förmlich in die Augen. So war es Sommer und Winter, – schon drei Jahre lang, so war es auch Tag und Nacht ohne Unterschied. Bei Tag mußte sie die Zeit erraffen und mühsam auskaufen, um auf kurze Viertelstunden etwas lesen oder arbeiten zu können, und bei einbrechender Nacht wurde sie gänzlich hilflos und von anderen abhängig.

An Liebe hatte es ihr nicht und nie gefehlt, wenn auch die Mutterliebe freilich fehlte, – die Mutterliebe, diesen hellsten Sonnenschein, den hätte ihr Auge ja ertragen, – und wie sehr bedurfte sie ihn, wie sehr! Aber auch die heißgeliebte, fast angebetete Schwester fehlte ihr schon lange. Ruth, die Amme, that ihr ja alles Liebes und Gutes, sie hatte etwas wirklich Mütterliches für die beiden Mädchen und sie galt viel im Haus, das sie eigentlich ganz und gar verwaltete. Denn der alte Levi, sehr arbeitsam und rührig im Geschäft, ließ, obwohl ein recht zärtlicher Vater für seine geliebten Kinder und ein wirklich gemütlicher Hausvater, doch das ganze Haushaltungsgeschäft gar gern in diesen treuen Händen, wo er es so wohl versorgt wußte. Kathi war ein fleißiges Dienstmädchen, welches ihrem Christennamen Ehre machte, doch zugleich sehr gern in diesem jüdischen Haus war; denn es war ein wirklich liebreicher Ton im Hause herrschend, auch die Dienstboten schätzte man wert, auch das ›Schabbesmädchen‹ hielt man in Ehren.

Aber Rahel, die älteste Tochter, – wo blieb sie denn so lange? Sechs Monate war sie verreist gewesen; heute sollte sie ja kommen, ein Telegramm von der Reise her hatte sie heute ausdrücklich auf Stunde und Viertelstunde angesagt, aber sechs Monate, – das ist eine lange Zeit!

»Vater, lieber Vater! Ich würde krank, wenn es heute nicht wahr würde!« sagte jetzt Mirjam. »Ich weinte mir die Augen aus, wenn meine Rahel noch nicht käme!«

»O Mädchen! – sie kommt, sei ruhig! Das Telegramm liegt ja da; höre! ich will es Dir noch einmal lesen: ›Komme 6 Uhr, tausend Küsse! Eure Rahel.‹ Hörst Du, willst Du einen voraus?« spaßte er. »Und da liegt ihr letzter Brief, wo sie schreibt: ›Zum Voraus der Segen des gelobten Landes über Euch, bis ich wieder bei Euch bin!‹«

»O Vater, ich muß heute im stillen immer sagen: ›Gelobt sei, die da kommt im Namen des Herrn!› Vom gelobten Lande kommt sie, sie bringt uns einen gnädigen Segen mit, den Segen der Erzväter bringt sie mit! Ach, brächte sie doch auch einen besonderen Segen für mich, Vater! eine Salbe für meine Augen!« weinte sie jetzt.

»Mein Kind! sie bringt Dir gewiß etwas mit,« sagte der alte Levi betrübt und entsagungsvoll, – »und sie bringt Dir ihre ganze Liebe wieder mit heim, Mirjam, ihr gutes, reiches Herz, und das ist ein großer Segen für unser ganzes Haus, Mirjam!«

»Ja, Vater, das soll mir auch über alles gehen, – o wie freue ich mich! Ich meine, ich könnte alles, alles vergessen, wenn ich nur meine Rahel wieder habe!«

»Ja, Kind, so ist es, so ist es! – Daß ich sie nur so lang habe entbehren können! Es ist mir selbst fast ein Rätsel! Aber die Liebe nimmt nicht bloß gern, sie giebt auch gern, und so hatte ich ihr eben den Wunsch gewährt. Ein Gelübde ist heilig, man muß es auch halten; nun ist ja aber die lange Trennung auch vorbei.«

»Und wenn Arthur auch für einige Zeit kommt, Vater, dann sind wir ja alle wieder beieinander.«

»Ja, mein Kind! Es ist recht ärgerlich, daß er erst in einigen Tagen kommen wird. Jetzt wären wir alle schon bei Rahels Ankunft beisammen!«

»Warum ist er denn eigentlich nicht zum Willkomm unserer Rahel schon eingetroffen?«

Des alten Levi Gesicht wurde ernst, er sagte aber nur: »Er schreibt, er könne nicht früher abkommen, er habe dringende Abhaltung.«

»Ei, was ist denn das? Wenn er doch in dem Bankhaus eine so glänzende Stellung hat, dann hätte er es auch machen können, daß er ein paar Tage früher reiste. Er hätte ja im Notfall um so viel bälder wieder zurückkehren können.«

»Laß es nur gut sein, Mirjam! Es ist nun einmal so. Wir sind dann doch noch lange genug beisammen. Und inzwischen könnt Ihr zwei Schwestern recht viel miteinander plaudern. – Das wird doch noch gehen, das Mäulchen da?« lächelte Levi und streichelte das Töchterlein.

»Ich denke schon,« sagte sie spaßend und barg ihren Kopf an seiner Schulter. »Ich werde freilich vieles zu fragen haben. O, wie freue ich mich!«

*

Ja, man hatte einander viel gefragt und Rahel hatte am selbigen Abend noch lange forterzählt. Ruth saß auch dabei und das Christenmädchen hörte aufmerksam zu.

Wer hört nicht gern von Jerusalem, der alten heiligen Stadt? Giebt es auch eine Stadt, welche allen Völkern und Sprachen, bald möchte man sagen: allen Religionen und Konfessionen zugleich – so wichtig und heilig ist, als die Stadt Jerusalem? Kriegszüge und Kreuzzüge haben die Völker und Nationen im heidnischen und im christlichen Altertum dahin geführt, Haß und Liebe haben um ihren Besitz gestritten. Festreisen und Lustreisen brachten noch immer die Scharen von Tausenden alljährlich in ihre Thore. Vielmal belagert und vielmal erobert, gänzlich zerstört und immer wieder neu aufgebaut, ist sie von alters her die viel umworbene und vielbesungene heilige Stadt; uralte heilige Pilgerlieder und Psalmen feiern sie, und immer neue christliche Loblieder preisen die Stadt Gottes, die hochgebaute Stadt.

Rahel breitete nun auch ihre Geschenke aus. Ihrem Vater brachte sie das mit Olivenholzschmuck von Jerusalem gebundene Buch eines gelehrten Rabbiners von dort, Ruth bekam ein Cedernholzkästchen mit einer kostbaren Brosche drin. Dem Christenmädchen schenkte sie ein Ölbaumholzbüchschen mit schönem Schmuck und getrockneten Blumen des heiligen Landes. Ihrer geliebten Mirjam aber legte sie eine prachtvolle goldene Armspange an, auf welcher eingraviert stand: ›Vergesse ich dein, Jerusalem, so müsse meiner Rechten vergessen werden!‹ Man war ganz erfüllt von den geschilderten Eindrücken, von welchen ihre schönen Augen selber wiederstrahlten.

Rahel war jetzt achtzehnjährig, – eine wirklich schöne und zugleich anziehende Erscheinung, was ja nicht immer dasselbe ist. Mittelgroß und wohlgebaut trug sie ihr glänzend schwarzes Haar jetzt in vollen Locken um das ganze Haupt. Ihre feurigen, tiefschwarzen Augen konnten so lebendig frisch und im nächsten Moment so träumerisch schwermütig dreinschauen, daß bald die Weite und die Kraft ihres Geistes, bald wieder die Tiefe und der Reichtum ihres Gemüts drin kund wurden. Während in Mirjams kranken Augen weibliche Weichheit und sanfte Schmiegsamkeit zum Ausdruck kamen, offenbarte das lebhafte und zugleich tiefe Auge ihrer Schwester Rahel den stärkeren Geist und die kräftigere Natur. Doch wurde bei beiden, wenn man sie nebeneinander sah, sofort trotz aller Unterschiede zwischen der bräunlichen Rahel und der mehr blonden Mirjam die Seelenverwandtschaft und die vollkommene Harmonie der beiden Schwestern auf's schönste offenbar.

*

Für den andern Tag hatte sich der alte Levi so ziemlich vom Geschäft frei gemacht und saß so nach einigen gemütlichen Morgenstunden auch nachmittags wieder längere Zeit bei seinen beiden Töchtern. Mirjam hatte unaufhörlich Fragen gestellt über alles mögliche, vor allem über jenes Haus nahe am Damaskusthor in Jerusalem, wo Rahel bei guten Bekannten, bei Isaak und Rebekka und ihrer Tochter Lea, Rahels geliebter Freundin, die ganze Zeit gewohnt hatte. Rahel erzählte von der befreundeten Familie und ihrer Freundin Lea besonders, von dem ganzen Haus und seiner Einrichtung, von den Nachbarn und der großen Stadt, von deren stets wachsender Ausdehnung und dem heiligen Land überhaupt. Den Vater interessierte alles, groß und klein; weniger allerdings mit dem idealen Gedankenaufschwung, von welchem das Gespräch bei den beiden Mädchen getragen war. Er konnte die großen Hoffnungen nicht teilen, welche die jüngere Generation immer kundgab, er war noch aus der alten Zeit der trivialen Sammelarbeit des Volkes Israel, aber er empfand und bekundete doch auch ein Gefühl der Befriedigung über dem unleugbaren Aufschwung und über dem Gedanken einer Einigung des Volkes Israel in seinem verheißenen Land.

Rahel erzählte von der immer wachsenden Einwanderung des Volkes Israel in Jerusalem wie im ganzen Land, das allmählich weit und immer weiter aufgethan sei für das ganze, in der Zerstreuung groß gewordene Volk Israel. »O Vater, Vater!« rief sie einmal, »wir sagten oft zusammen, wenn wir abends auf dem Dache saßen und über die schöne Stadt hinschauten und zu den herrlichen Bergen empor, oder hinaus ins weite Land und bis tief in die Wüste hinein: »Jetzt kommt die Zeit der Erfüllung der alten Verheißungen!« Das Land füllt sich wieder allenthalben mit den Kindern der Verheißung; sie kommen herzu vom Morgen und vom Abend, von Mittag und von Mitternacht. Jetzt heißt es: ›Hebe deine Augen auf und siehe umher: diese alle versammelt kommen zu dir, deine Söhne werden von ferne kommen und deine Töchter zur Seite erzogen werden. Jes. 60, 4. Und dein verwüstetes, verstörtes und zerbrochenes Land wird dir alsdann zu eng werden, darin zu wohnen, wenn deine Verderber ferne von dir kommen, – daß man wird sagen: der Raum ist mir zu eng, rücke hin, daß ich bei dir wohnen möge!‹ Jes. 49, 19. 20. O Vater, jetzt wird es werden, wie Gott dem Erzvater Abraham verheißen hat: ›Deinem Samen will ich dies Land geben von dem Wasser Egyptens an bis an das große Wasser Phrath.‹ 1. Mose 15, 18. – Die Grenzen des Landes haben sich ja wie von selbst geweitet, und der Gott unserer Väter giebt unserem Volk die verheißene Ruhe in dem Land der Verheißung, – und weit über seine Grenzen hinaus, so weit, wie diese noch niemals gegangen sind, auch in den Zeiten des Erzvaters David nicht.«

Der alte Levi lächelte über die Begeisterung seiner Tochter Rahel; er machte bei diesen ihren Worten auf dem Tisch eine Bewegung mit der Hand, wie er es sich angewöhnt hatte, – wie wenn man Geld zusammenstreicht, und auf einen Haufen sammelt. Es war dies übrigens ganz unwillkürlich. Er war ein wirklich edler und gottesfürchtiger Mann. Die Erzählungen und Schilderungen seiner Tochter Rahel befriedigten ihn sichtlich. Der Bericht über die offenbare Stärkung der Sache des Volkes Israel, über seine Sammlung im heiligen Land und das Wachstum der Ansiedler hatte sein volles Interesse. – Tausende und aber Tausende waren ja schon zusammengeströmt seit langer, langer Zeit, nicht in den letzten Jahrzehnten bloß. Das ›Nationalitätsprinzip‹, dieser Grundsatz der Zusammengehörigkeit jeder einzelnen Nation für sich, schon im 19. Jahrhundert erwacht und immer mehr erstarkt, hatte diese Einwanderung erleichtert und langsam begründet. Judenemanzipationen einerseits und Judenverfolgungen da und dort andererseits wirkten zusammen, sie zu mehren und zu vollenden. Das alles war aber nicht das Einzige. Die eigentliche Macht in dieser Wanderung lag in der merkwürdigen Bewegung, welche erst in den letzten Jahrzehnten vollends begonnen hatte. Das Volk Israel fühlte sich mächtig emporgekommen und zugleich im Gedränge der Völker. In den Schiebungen der letzten Zeit, in den gewaltigen Gährungen des Erdballs sozusagen emporgehoben und zugleich wie durch einen inneren Trieb erfaßt, – zog es dieses Volk immer mehr zu seinem angestammten Lande hin. Der nationale Gedanke wurde immer klarer, der Volksinstinkt immer mächtiger. Arme zogen ins gelobte Land, um dort ihr Glück zu finden, Fromme zogen ins heilige Land, um einst in der Erde ihrer Väter sich schlafen zu legen. Viele kamen, um alle die altheiligen Stätten zu besuchen, wo Abraham gewandelt und Isaak und Jakob umhergezogen und in Hütten gewohnt hatten, – um die Stadt Gottes zu schauen, wo David den Königsthron errichtet und wo der weise Salomo geherrscht und geglänzt hatte. Reiche Juden, deren Reichtümer ja ganz anderswo gesammelt waren, als im heiligen Land, und ganz anderswie, als mit einer dortigen Beschäftigung, – sie gedachten wohl nicht hineinzuziehen, aber ein Sommerhaus wollten sie haben in den Thoren Jerusalems oder vor seinen Thoren irgendwo auf den herrlichen Bergen rings umher. So stand es ums Jahr 2000 mit dem Volk Israel und mit dem Lande seiner Väter.

Die Mehrzahl, bei weitem die Mehrzahl der massenhaften Einwanderer, bildeten die altgläubigen Juden, denen eine Wiederherstellung ihres gesamten alten Volksbestandes das höchste Ideal war, – und zwar ganz ernstlich des gesamten Volksbestandes, auch aller ihrer Religionsgebräuche, ja zum Teil sogar ihrer Opferstätte und der Opfer selbst. So dachten besonders die Fanatiker. Und alles war wenigstens darin schon 25 Jahre vorher einig gewesen, ein Tempel müsse der ideale Mittelpunkt für's Ganze wieder werden, der Tempel müsse wieder aufgebaut werden, und zwar in der Gestalt und Größe, wie ihn der Prophet Hesekiel in jenem großen Gesicht vor ihr geistiges Auge gezaubert hatte. Hesekiel 40-48. Das galt, das war die Meinung der Menge. Und was ist unmöglich in einer bedeutenden Zeit? Was ist unausführbar, wenn in mächtigem Drängen und mit starkem Willen die Reichtümer der Reichen auf einen Zweck sich vereinigen?!


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