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Motto:
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Manuel:) »So will ich diese Bruderhand ergreifen,«
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Cesar:) »Die mir die nächste auf der ganzen Welt!«
Schiller, Braut von Messina.
Ja, er war gespannt, was kommen werde.
Die Brüder setzten sich beide gegen einander zurecht, aber nicht für ein leeres Wortgefecht, noch weniger um gegen einander zu kämpfen, sondern der eine begierig zu hören, der andere gleich begierig zu reden, beide im ernsten Gefühl der Verantwortung, die brüderliche Liebe um keinen Preis zu verletzen, während zugleich die Wahrheit und die innere Überzeugungstreue ihnen beiden über alles ging. Das ist ja immer die beste, eigentlich einzige Grundlage für ein derartiges Gespräch.
»Nun also, lieber Leon, Du willst mir Deine Ansicht sagen?« sagte Kuno jetzt mit herzlicher Liebe und Achtung.
»Ja, Kuno, meine Überzeugung über die gegenwärtige Zeit und über das, was jetzt in der Welt vorgeht.«
»Ich höre.«
»Ich weiß eigentlich nicht recht, wo ich anfangen soll. Ich will es aber gerade heraus sagen: wir haben eine böse Zeit, Kuno, eine arge Zeit!«
»Ach, so ist es immer gewesen!«
»So schlimm doch fast noch nie.«
»Für Euch, meinst Du, für Leute Deiner Überzeugung?«
»Für uns Christen jedenfalls; überhaupt aber ist es eine sehr ernste Zeit. Es naht eine große Entscheidung für alle Welt.«
»Wie so denn? Nie war alles besser glatt gelegt in der ganzen weiten Welt, als gegenwärtig gerade.«
»Ja, glatt gelegt auf der Oberfläche. Aber in der Tiefe brodelt es, Kuno, und in den Lüften faucht es! Es kommt eine Erderschütterung, eine Weltbewegung kommt, – Ungewitter und Sturm, sage ich Dir, ein ganz gewaltiger Sturm!«
»Was sind aber das für Meinungen, lieber Bruder Ich sehe nichts, ich fürchte nichts!«
»Aber ich schaue es, ich fühle es, mir graust es!«
»So erkläre Dich doch nur näher, lieber Bruder, ich verstehe Dich wirklich nicht. Das sind doch eigentlich alles nur allgemeine Redensarten. Sage doch, was habt Ihr denn eigentlich, Ihr Christen? was wollt Ihr denn? wovor fürchtet Ihr Euch? Rede nur!«
»Um damit anzufangen, lieber Kuno: ist das auch natürlich, daß man mitten in der allgemeinen Christenheit uns Leute immer nur Christen, ›die Christen,‹ nennt? Wo sind wir hingekommen? Sieh, so sehr hat der allgemeine Abfall aufgeräumt unter den Menschen, daß nur wir noch Christen heißen!«
»So ist das nicht gemeint, Leon, – im Gegenteil! Man hat im allgemeinen nichts gegen das Christentum und seine Kultur. Wir sind alle Christen, alle sind wir Christen; nur Ihr, sagt man, wollt etwas Besonderes sein und darum nennt man Euch so.«
»Wir sind ›etwas Besonderes‹ geworden, ja! durch lauter Verachtung und Spott, durch lauter Haß und Anfeindung, – das ist das Besondere an uns. Uns stößt man hinaus, die wir still unseren Weg gehen und keinem Menschen etwas zu leid thun ...«
»... aber der öffentlichen Meinung überall trotzen, lieber Leon! – denke an Deinen Matthi! – und, verzeihe mir! gegen das herrliche, große, allgemeine, festgefügte Friedensreich, das sich über die ganze Welt hin ausbreitet, – dagegen meint Ihr Euch immer sozusagen in der Stille empören zu müssen, nicht wahr? Sieh, lieber Leon, das reizt andere Leute und das muß notwendig reizen. Unser Herr Pilsen sagt oft ganz empört: ›Was hat es für Kampf gekostet! Welche Ströme von Blut sind geflossen, bis es dazu kam, daß endlich alle Staaten eins geworden sind, alle Völker nun unter einem Haupt stehen, so daß jetzt kein Krieg mehr möglich ist und endlich, endlich einmal der ewige Friede auf die Erde kommen kann!‹ Und da steht nun Ihr Leute und stemmt Euch in aller Stille förmlich gegen die ganze, große, einmütige öffentliche Meinung. Wozu denn, sage mir doch, wozu denn? Warum immer die öffentliche Meinung reizen? Eure speziellen religiösen Ansichten könnt Ihr ja behalten, aber wozu denn das?!«
»Lieber Kuno, das ist es ja eben! wir denken nun einmal ganz, ganz anders von der gegenwärtigen Zeit, von dieser öffentlichen Meinung und von dem, der sie führt und die Macht in den Händen hat!«
»Ja, das ist gerade noch das Allerschlimmste und das Unvernünftigste. Was glaubt Ihr denn etwa ausrichten zu können gegen den Erkorenen aller Nationen, den mächtigen, weisen Weltregenten? Das geht doch nicht! nein, das geht wirklich nicht, lieber Leon!«
»Du bringst mich jetzt selbst auf die Hauptsache, Kuno: daß wir etwas gegen ihn ausrichten können, das zu meinen fällt uns gar nicht ein. Aber wir wollen nichts mit der allgemeinen Anbeterei dieses Menschen zu thun haben, wie sie immer mehr Mode geworden ist. Wir kennen ihn anders als Ihr, Kuno, – wir kennen ihn!«
»Nun, nun?«
»Ich will Dir jetzt ganz offen meine Meinung sagen, Kuno! Der Weltregent ist der Antichrist, so sagt die Weissagung, so deuten die Zeichen der Zeit. Ihr betet ihn an, wir aber fürchten ihn, oder nein! wir fürchten ihn nicht, aber uns graut vor ihm.«
»Was soll das sein?«
»Ja, uns graut vor ihm, denn das ist der Mensch der Sünde, der kommen soll, wie die heilige Schrift sagt, der Sohn des Verderbens, der arglistige Feind des Christentums und unseres Heilandes, der große Widersacher, der sich überhebt über alles, was Gott oder Gottesdienst heißt, der sich noch setzt in den Tempel Gottes als ein Gott und giebt vor, er sei Gott. Gieb nur acht, so kommt es alles noch! Angefangen hat er mit Heuchelei, mit arglistiger Heuchelei, als achte er Religion und Christentum, Kirche und Papsttum. So viel ist aber jetzt schon offenbar, daß das nicht seine eigentliche Gesinnung ist und daß alles nur Heuchelei war. Jedenfalls geht es jetzt gegen uns, – und was wird bei ihm noch kommen, dessen Zukunft geschieht nach der Wirkung des Satans mit allerlei lügenhaften Kräften und Zeichen und Wundern ...!«
»Lieber Bruder, Du sprichst da in starken Ausdrücken, in sehr starken, überschwenglichen Ausdrücken, erlaube mir das zu sage».«
»Bitte! ganz mit den Worten der heiligen Schrift – und es ist ja schon vieles davon ganz merkwürdig eingetroffen. Was aber noch nicht ist, wird noch werden, – wir werden es beide noch erleben.«
»Leon, Du würdest einem ganz angst und bange machen, wenn man das alles glauben müßte. Aber laß das, ich bitte Dich! Du bist nun einmal verbittert, weil es gegen Euch geht. Ich gebe dies ja zu, wiewohl nach meiner Ansicht der Grund dazu jedenfalls nicht blos auf jener Seite liegt. Aber bedenke doch auch: die Großen der Erde haben noch jederzeit ihre Neider gehabt und auch ihre Verleumder; er ist ein großer Mann, der Weltregent, ein bedeutender Mensch, er hat diplomatisches Geschick und allerdings wunderbaren, wirklich wunderbaren Erfolg. Sage doch selbst: so etwas ist noch nie dagewesen! Eine noch nie erreichte Herrschergewalt liegt in seiner Hand allein und er benützt sie rührig und geschickt, um den Frieden unter allen Völkern zu befestigen, daß es gar nicht mehr anders sein kann, – gar nicht mehr anders sein kann! – als daß die Welt jetzt Frieden behält und alles unter einer einheitlichen Leitung verbleibt zum Segen für alle Völker. Nun, Leon! da müssen wir doch dankbar sein, da muß man doch auch seine persönlichen Meinungen ein wenig unterstellen können unter das große Ganze, oder ein wenig zurückstellen können um der Hauptsache willen; jedenfalls aber muß man sich hüten vor fast verleumderischen Anklagen, die mit nichts zu beweisen sind, ganz gewiß mit rein nichts!«
»Lieber Kuno, es ist mir sehr leid! – Du sprichst da eine ganz andere Weltanschauung aus, als ich sie habe, Du siehst nur Großes, nur den allgemeinen Frieden und das große allgemeine Völkerreich; Du sprichst von einem Segen für alle Völker, – und in meinen Überzeugungen siehst Du immer nur persönliche Meinungen oder jetzt gar verleumderische Anklagen, wo ich doch klar und bestimmt auf dem Boden der heiligen Schrift und ihrer Weissagung stehe; und die Zeichen der Zeit habe ich auch für mich, wenn ich so urteile, wie ich mich ausgesprochen habe.«
»Die ›Zeichen der Zeit?‹ was ist das?«
»Ja, der allgemeine Abfall vom Christentum! Denn das wirst Du doch nicht etwa Christentum nennen wollen, daß jeder mit Glaubenssachen überhaupt es halten kann wie er nur mag, und daß man dabei vom Glauben selber überhaupt gar nicht mehr soll reden dürfen. Das ist doch nicht Christentum, sondern allgemeiner Abfall ist das! Oder sage doch, hast Du denn nicht selbst in anderem Zusammenhang auch oft schon gesagt, es sei fürchterlich, wie gleichgiltig die Menschen leben, wie verderbt sie werden, wie roh, brutal und gemein, wie die Bande guter Sitte durchgerissen sind und man jede sittliche Ordnung für eine Fessel hält? Das ist doch nicht mehr Christentum, sondern, ich sage es wiederholt, nichts anderes als allgemeiner Abfall ist das. Und damit ist es noch nie so schlimm gewesen als gegenwärtig, jedermann klagt ja darüber.«
»Nun ja, das mag ja wahr sein, – aber oft kommt es uns auch mehr nur so vor, und im Grund genommen ist es wohl zu jeder Zeit so gewesen; – jedenfalls aber sind die Fortschritte auf dem Gebiet des Völkerlebens im großen doch ganz unverkennbar.«
»Die Kulturfortschritte?«
» Und diejenigen im politischen Leben!« ergänzte Kuno.
»Das ist aber doch noch sehr die Frage,« versetzte Leon, »das gerade sehen in der Stille Tausende und aber Tausende doch ganz anders an. Alle die Monarchisten in allen Ländern z. B. trauern im geheimen, – welcher religiösen Meinung sie nun auch sonst sind. Und damit kann Euer Weltregent noch etwas zu schaffen bekommen, glaube mir! Auch über Verrottung der öffentlichen Zustände im politischen Leben wird allgemein viel geklagt, viel! Nein, es ist nur das allgemeine Kulturgeschrei, – immer Kultur, Fortschritt, Aufklärung u. s. w. – was die Menschen so ganz blind macht; dazu dann noch dieser tolle Taumel über das einige große Reich, über ein allgewaltiges Weltreich unter einem einzigen Weltregenten, – das ist es, was die Menschen ganz betäubt und bezaubert und, wie gesagt, blind macht gegen die wirklich krassen Schäden der Zeit, die immer unheilbarer werden.«
»Und was wollt nun Ihr Christen dagegen?« sagte Kuno, wie ausweichend, aber innerlich sichtlich ein wenig mitgenommen.
»Wir? wir warten, – mit Sehnen und Verlangen warten wir!«
»Nun, auf was denn?«
»Soll ich Dir das auch sagen, lieber Kuno? – Auf die Zukunft unsres Herrn Jesu Christi und seine herrliche Erscheinung warten wir! Es wird jetzt nicht mehr besser, sondern es wird vollends immer schlimmer werden, das glauben wir selber auch. Auch immer schlimmer für uns Christen; Du wirst sehen, wir werden immer mehr verachtet und immer mehr gehaßt werden, wir werden noch geplagt und verfolgt, verjagt und eingekerkert, – Du wirst es an Deinem eigenen Bruder noch erleben, – aber wir warten! Uns geht es noch ans Leben und an die letzte Kraft, aber der Herr ist mit uns; er wird uns bewahren vor dem Argen und erretten aus der großen Trübsal; er wird uns noch entrücken in seine Herrlichkeit oder, wenn wir auch sterben müssen um seines Namens willen, so wird doch unser Heiland erscheinen und wird den Antichrist und sein Reich niederwerfen, dafür aber sein eigenes Reich aufrichten und dann – aber erst dann! – wird Friede sein auf Erden für alle Zeit.«
»Lieber Bruder, das sind alles ganz eigentümliche Ansichten; ich achte und ehre die Religion und das Christentum, aber siehe, die Welt geht ihren Lauf auf andere Weise, auf durchaus natürliche Weise. Was Du da gesagt hast, das sind so Religionsvorstellungen, – ich will nicht sagen: veraltet, aber symbolisch; sie bedeuten etwas, aber sie sind nicht so wirklich aufzufassen, als würde es einmal genau so geschehen. Sie sollen nur sagen: man solle Mut haben, es werde noch alles immer besser werden, es werde noch ganz herrlich hinausgehen.«
»Ja, ja, ›alles immer besser‹ und ›noch ganz herrlich!‹ – es sieht darnach aus! Ich meine im Gegenteil: immer schlechter wird es in der Welt, immer trüber, immer heilloser und hoffnungsloser! Die Welt wird alt und wir kommen auf diese Weise an den Rand; wir kommen an eine Grenze, wo es einfach nimmer weiter geht, es sei denn, daß ein Wunder geschieht. Die Entwicklung spitzt sich zu, bis alles bricht. Die Not wird immer größer, bis nur einer noch helfen kann, und das ist – der Hochgelobte. Und der wird helfen, – wo die Not am größten, ist Gottes Hilf' am nächsten!«
»So sagt man ja.«
»Ja, und so ist es auch! Und wenn das je einmal im Leben wahr geworden ist, so wird es am Ende dieser gegenwärtigen Weltzeit noch am vollkommensten wahr werden. Und die Welt kann das brauchen, Kuno, sie kann es brauchen!«
»Lieber Bruder, da gehen wir allerdings weit auseinander, und ich muß fast selber denken, wir haben eine ganz und gar verschiedene Weltanschauung. Nach Deiner Meinung geht es abwärts, einem bösen Ende zu. Bei mir heißt es: Fortschritt, wenn auch durch Kämpfe hindurch, – und immer herrlichere Entwicklung. Die Menschheit hat ein großes Ziel und das wird sie erreichen, glaube mir! aber nie allerdings in beschränkter Zeit, sondern nur in ewiger Fortentwicklung und Selbstverbesserung.«
»Daß die Menschheit ein großes Ziel hat und es auch noch erreichen wird, das ist ja auch meine Meinung, aber erreichen wird sie es nicht durch sich selbst und nicht auf rein natürlichem Weg, sondern einzig nur durch ihren wahren Herrn, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist, – durch den, der der Heiland aller Menschen und der Welt Heiland heißt und ist. Aber erst wenn dieser jetzt allmächtige Antichrist und alle seine Macht niedergeworfen ist, wird es dazu kommen. Sieh, das ist mein Glaube, das ist unser Christenglaube.«
»Nun, lieber Bruder, das wollen wir jetzt lassen! Du greifst mir da doch ein wenig ans Herz. Jetzt sollen auch gar noch all diese herrlichen Erfolge und diese großartige Weltentwicklung, wie die Menschheit sie in den letzten Jahrhunderten erlebt und durchgemacht hat, vergeblich sein! all diese gewaltigen Völkerkämpfe und Weltkämpfe, all diese Anspannung der letzten Kraft, um ein letztes großes Ziel zu erreichen und zu einem guten, wirklich guten Ende zu kommen, – alles das, dieser ganze, weite, blutsaure und oft blutige Weg und das jetzt so großartig erreichte Ziel einer allgemeinen Völkerverbindung, eines großen, allgemeinen Weltreichs soll vergeblich sein und am Ende gar verwerflich?!«
»Vergeblich soll er nicht sein, dieser Weg, denn er war und ist die große Vorbereitung fürs Reich Gottes, aber verwerflich ist vieles daran, lieber Bruder, und wirklich verwerflich ist jedenfalls sein Ende, das Weltregiment in der einzigen Hand dieses Menschen.«
»Ich bitte Dich, lieber Bruder, wir wollen abbrechen! es ist wirklich so, es wird mir doch zu viel! Du nimmst es mir nicht übel, – jeder hat seine eigenen Ansichten. Wir kennen sie jetzt gegenseitig, – wir wollen es nun lassen.«
Es gab eine Pause, – es hätte auch einen Riß geben können. Aber nein! einen Riß gab es nicht. Die beiden Brüder sahen einander mit Schmerz, aber mit Liebe an; der Schmerz war groß, aber die Liebe noch größer, – und sie setzten sich wieder zurecht.
Wie um zu überbrücken oder um einen Beweis für die Berechtigung seiner so übel beleuchteten Anschauung zu geben, begann jetzt Kuno das Gespräch doch wieder und sagte:
»Aber, Leon! nun möchte ich noch etwas anderes fragen. Du klagst über alles: über das Weltregiment, über das verrottete politische Leben, über die verwilderten Sitten der Menschen, über den allgemeinen Abfall, – nun, wir wollen das also lassen. Aber sage mir, Leon! wenn es Dir so sehr um die Religion und das Christentum zu thun ist, – und das ist ja recht, das billige ich ja nur, – wie kommt es dann, daß Du mit diesem katholischen Matthi gerade so ganz ein Herz und eine Seele bist, und daß Ihr Christen überhaupt gar keinen Unterschied mehr machet zwischen katholisch und evangelisch? Das gehört doch auch zur Religion und zu einem rechten Christentum, daß man nicht gleichgiltig alles unter einander mengt?«
Leon lächelte.
»Ja,« fuhr Kuno ermutigt fort, »da bin ich strenger als Du. Wir sind Hugenottenkinder, Leon! ich und Du, wir sind Protestanten! Ich bin ja ganz und gar für Toleranz, aber nur nicht gerade so, daß man alles mit einander vermischt. Die Konfessionen sollen getrennt bleiben, – heißt das nicht in Feindschaft, aber nur nicht so alles einerlei und alles durcheinander! Oder jedenfalls, wenn Du so streng bist, warum bist Du denn gerade darin so gleichgiltig? Sieh, lieber Bruder, ich will es Dir geradeheraus sagen: das Parteiwesen läßt Euch Christen nun auch über die schroffsten Unterschiede hinwegsehen. Das ist doch wirklich unnatürlich und jedenfalls eigentümlich, ganz eigentümlich, daß bei Euch alles beisammen, alles unter einander ist. Das ist doch ein Zeichen, daß bei Euch auch nicht alles so rein und sauber ist, wie es sein sollte. Ihr seid rechte Parteileute geworden, Ihr Christen!«
Leon lächelte noch immer.
»Nun?« frug Kuno.
»Lieber Bruder!« antwortete jetzt Leon, »Du berührst da in der That etwas, wovon wir allerdings auch noch reden sollten, und glaube nur ja nicht, ich sei beschämt durch das, was Du mir vorhältst. Im Gegenteil! Du hättest mir gar keinen größeren Dienst thun können, als diesen Punkt zur Sprache zu bringen.«
»Es soll mir nur lieb sein, wenn ich Deine Meinung darüber hören kann,« versetzte Kuno.
Leon fuhr fort: »Also das ist Dein Vorwurf, daß wir Christen uns zusammenthun aus beiden Konfessionen? Vielleicht stört Dich auch das, daß allerlei Leute, welche früher bei den Sekten gewesen sind, jetzt auch mit uns eins werden?«
»Allerdings,« entgegnete Kuno, »das ist auch sehr auffallend, Leon! Krethi und Plethi, alles unter einander, alles, was sonst nimmer ankommt, alles was sonst überall in der Welt hinausgestoßen wird, das kommt bei Euch Leuten zusammen! Und warum bleibt nicht wenigstens jeder bei seiner Kirche? warum will einem auch diese nicht mehr gut genug sein? Ich fasse es rein nicht, Leon!«
»Kuno, Du mußt doch selber sagen, – was ist aus der Kirche geworden! Alles, alles huldigt dem Antichrist! die katholische Kirche beugt sich und heuchelt gegen ihn, die evangelische Kirche beugt sich und schmeichelt – –«
»›Seid unterthan der Obrigkeit, die Gewalt über Euch hat,‹ heißt es!« klopfte Kuno etwas hart auf den Tisch.
»Gut,« sagte Leon, »und das gefällt Dir sehr, daß heutigen tags auch die katholische Kirche endlich gelernt hat, diesen Spruch jetzt besser zu halten, als das in früheren Zeiten der Fall war?«
»Ja wohl gefällt mir das, – und das war auch nötig! nur Euch will es nicht gefallen!«
»Kuno, der Obrigkeit unterthan sind wir auch, nur die Geister sollen sich nicht knechten lassen. Hier heißt es: ›man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen‹; den Gesetzen aber sind und bleiben auch wir unterthan, und nirgends, ich kann wohl sagen, rein nirgends findest Du bei unsereinem eine Auflehnung gegen die Obrigkeit. Oder?«
Kuno zuckte die Achseln, doch widersprach er nicht. Dann sagte er: »Item, die Kirchen sind nicht so schlecht. In beiden Kirchen, hier wie dort, giebt es noch eine Menge trefflicher Männer und kräftiger Charaktere, geistvoller Prediger und angesehener Kirchenfürsten, – das kannst Du doch nicht leugnen?!«
»Das leugne ich auch nicht,« sagte Leon, »es wäre ja auch gar zu trostlos; aber die Kirchen als Ganzes haben sich gebeugt, gebeugt haben sie sich unter das große Tier.«
»Bitte! bitte!!«
»Nun also, – wie Du willst!« Aber gebeugt haben sie sich, selbst jene bisher unbeugsame Macht und geistliche Gewalt hat sich gebeugt!«
»Was thut's, wenn es Pflicht war?«
»Was es thut? Es knechtet die Charaktere, – das wird sich schon noch zeigen. ›Mein Reich ist nicht von dieser Welt,‹ sagt Christus und das ist nicht nur ein Demutswort, sondern auch ein Scheidungswort. Doch das ist ja gar nicht das einzige; wir wollen jetzt nicht mehr auf die Hirten sehen, sondern auch auf die Heerden. Wo sind denn diese? sage mir, wo sind sie denn? Wo sind die Leute in den Kirchen? Leer sind diese, wenige Ausnahmen abgerechnet!«
»Leon, das ist ein anderer Punkt! Die Leute werden mündig ... und das Kirchengehen allein macht doch den evangelischen oder katholischen Christen noch nicht!«
»Das ist natürlich meine Meinung auch. Nur meine ich zugleich: wie die Kirchen leer sind und immer leerer werden, so wird die Religion in den Herzen und das ganze Kirchenchristentum auch immer leerer, schaler und fahler. Es ist bald alles nur noch verwaschenes Zeug, die allgemeine Verflachung zeigt sich wie in der Bildung, so auch hier auf dem religiösen Gebiet; bald will überhaupt niemand mehr etwas von Religion oder gar von Christentum.«
»Das ist ein sehr hartes Urteil, Leon!« rief Kuno, jetzt fast ärgerlich. »Glaube mir, da drinnen im Herzen sieht es oft ganz anders aus, als Ihr Parteileute es meinet!«
»Das glaube ich gerne, Kuno!« rief Leon weich; »o wie gerne, mein lieber Bruder! Aber die Kirche als Ganzes, die Kirche zeigt vielfach ein fahles Gesicht.«
»Auch das ist ein scharfes, ein sehr scharfes Urteil.«
»Aber es ist so! – daß Gott erbarm! das ist nun einmal so geworden! Lieber Bruder, glaube mir: mich, dem seine Kirche ans Herz gewachsen ist, mich drückt das mehr als Dich, der Du ferner, stehst. Und nun siehe! diese Kirche, die sich jetzt auch nur beugt, – sie stößt uns auch hinaus, – oder meinetwegen, sie stößt uns nicht gerade hinaus, aber sie nimmt sich unserer nicht an! Ich kann Dir sagen, wir fühlen uns trotz Kirche und Kirche, hier wie dort, verschmachtet und zerstreut wie Schafe, die keinen Hirten haben. Ja, ich kann Dir wohl sagen, wir wären trostlos, wenn nicht unser Herr gesagt hätte: ›Fürchte dich nicht, du kleine Heerde, denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben.‹ Wir haben immer noch, auch jetzt noch, treue Prediger, das sage ich selbst; wenn es aber an das geht, wie wir in der Welt verachtet und gehaßt sind, dann finden wir bei dieser Kirche, die sich auch gebeugt hat, keinen Trost und keine Anerkennung, höchstens Bedauern, aber kein thätiges Mitleid mehr! Man wird begütigt und beschwichtigt, ermahnt und gewarnt, vorsichtig beraten und unter Umständen auch gezankt. So ist es mehr und mehr überall. Wir waren die treuesten Glieder der Kirche, aber überall sind wir jetzt unbequem und überlästig; wir sind nicht Sektierer, aber wir werden hinausgeschoben. O wie das wehe thut, Kuno! Ich rede vom Innersten und Heiligsten, das es für uns giebt. Wir Christen seufzen und tragen Leid über die Not der Kirche, und uns belächelt und bedauert man in der Kirche. Wir beten und stehen in der Fürbitte, und uns findet man lästig und wäre uns am liebsten los. Wir lieben unsere Kirche und trauern um sie, sie aber wendet sich von uns und bald wird man uns auch hinausstoßen! Wir sind die Christen der letzten bösen Zeit und bald geht es in die große Trübsal hinein!« – Er sprach jetzt mit tiefster Bewegung. Dann fuhr er fort:
»Wo sollten wir denn hin, Kuno? Wo sollten wir hin, wenn nicht einer, der über alle ist, gesagt hätte: ›Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles wider euch, so sind daran lügen.‹ Ja, das hat der eine gesagt, der selber nicht hatte, da er sein Haupt hinlege, und er hat auch hinzugesetzt: ›Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl belohnt werden, denn also haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind‹.« – Jetzt sprach er wie in hehrer Begeisterung:
»Sieh! das ist unser Trost! das ist unsere Kraft! Es wird noch weiter gehen, bis die große Trübsal kommt; wir werden noch hungrig und durstig, nackt und obdachlos, krank und gefangen werden um Jesu willen, aber der Herr wird sich seiner geringsten Brüder einst herrlich annehmen, er wird sie von der Welt entrücken und wird sie zu sich nehmen. – Kuno, Kuno! sei barmherzig! laß die Barmherzigkeit, die in Dir ist, siegen über all den Zauber, der Euch Menschen jetzt gefangen hält! Jetzt geht es mit uns ins Feuer, aber wir sind doch oft selig darin; ich kann Dir nur sagen: selig sind wir oft darin! Wir wachsen auch unter einander immer mehr zusammen in Einigkeit des Geistes, wir alle, Evangelische und Katholische, Sektenleute und Kirchenleute. Wir sind gewiß keine Parteileute, wie Du meinst, – nein, nein! wir sind es nicht mehr! Wir haben vieles weglegen müssen, was uns einst teuer war, aber doch zugleich schroffe Grenzen aufrichtete. Wir kennen jetzt eine höhere Einheit über alles Trennende hinweg, aber nicht im Sinn lauer Toleranz, sondern wirklich und wahrhaftig werden wir mehr und mehr ein festgeschlossener Bund, – vor Euren Augen wohl verachtete und kuriose Leute, vor des Antichrists Blicken die Gehaßten und Verfluchten, – vor Gottes Angesicht aber die Gesegneten des Herrn, die Geliebten Gottes. Und mag kommen, was da wolle, Kuno! jetzt heißt es: ›Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert? Wie geschrieben stehet: Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag, wir sind geachtet wie Schlachtschafe! Aber in dem allem überwinden wir weit um deßwillen, der uns geliebet hat. Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentum noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserem Herrn‹. Römer 8, 35-39. Amen!«
Leon war in tiefster Erregung, aber zugleich in hoher Begeisterung; sein Bruder hatte ihm immer stiller zugehört, jetzt schaute er ihn fast scheu und nur von der Seite her an, in wachsender Teilnahme, mit stiller Verehrung, in innerster Bewegung. Leon aber bedeckte jetzt mit beiden Händen sein Gesicht und weinte bitterlich. Nicht daß er im Mitleid mit sich selber weich geworden wäre, sondern der Kampf seiner Seele brach los, die Bruderliebe rang mit der eigenen Überzeugung, der Riß, der durch sein Herz ging für die halbe, ja für die ganze Welt, die im Argen liegt, war ihm selber nie so ganz offenbar gewesen wie jetzt, wo er sich sogar vom eigenen Bruder getrennt fühlte wie durch eine tiefe Kluft.
Und er sah es nicht, wie nun auch in seines Bruders Kuno Augen es feucht wurde und glänzte, rann und tropfte. Kuno selbst war für sich fast froh, daß Leon das nicht sah, weil er mit sich und seinem eigenen Schmerz ganz beschäftigt war; Kuno bat ihm im Herzen jetzt vieles ab, was er gesagt hatte; reden mochte er nicht; und doch wieder wäre er froh gewesen, wenn er nun das rechte Wort gefunden hätte. Wenn aber die Gefühle noch so tief empfunden sind, – wo keine Klarheit des Entschlusses da ist, ist es schwer zu reden, oft auch besser zu schweigen. Man hat das Gefühl: es steht viel zu viel auf dem Spiel, mit einem einzigen ungeschickten Wort wäre doch wieder mehr verderbt, als gut gemacht. Zugleich will man sich selbst auch nichts vergeben. Aber die Bruderliebe – ist sie nicht heilig? Ist sie nicht eine Demütigung und einen Schmerz wert? Und wieder, – darf sie angetastet werden, wenn sie ganz bleiben soll? Oder ist es nicht schon viel zu viel, wenn sie überhaupt angetastet wird?
Noch einige Minuten saßen sie so da, dann wurde Leon wieder ruhig; jetzt schaute er so demütig, fast scheu zu Kuno herüber, er, der ältere Bruder zu dem jüngeren. Das überwältigte diesen ganz. Er lehnte sich an Leon, er schlang beide Arme um ihn, er küßte ihn wieder und wieder und bat ihn mit zärtlichen Worten; er weinte, – auch er weinte bitterlich.
Da leuchtete es in Leons Augen auf. »Die Bruderliebe stirbt nicht, Kuno! Nicht wahr, sie stirbt nicht?«
»Nein, Leon, die Bruderliebe stirbt nicht; sie lebt jetzt erst wieder neu auf. Ich habe Dich immer lieb gehabt, aber glaube mir, ich habe Dich nie lieber gehabt, als ich Dich jetzt lieb habe und lieb behalten werde!«
»O Kuno, mein Bruder, mein Bruder!«
»O Leon, Leon!«
Sie saßen noch lange so vereinigt, wie Kinder einander umschlungen haltend und je und je zärtlich sich die Hände drückend. Leon war schmerzbewegt und doch im tiefsten Herzensgrund überglücklich; er hatte heute seiner Seele Innerstes reden lassen können und hatte seinen Bruder wiedergefunden. Er wußte klar, daß Kuno seine Wege nicht gehe, aber er fühlte doch, daß er für die Liebe erhalten, für die brüderliche Teilnahme ein für allemal gewonnen sei, und er bewegte, in seliger Hoffnung für ihn, des Meisters Wort in seinem Herzen: »Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.« Ja, es war ihm jetzt, wie wenn sie beide schon am Ziel wären und wie wenn schon der Herr selber zu seinem Bruder Kuno sprechen würde: »Kommet her, ihr Gesegneten des Herrn, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt. Denn was ihr gethan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir gethan.«