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Motto:
Verlorner Mann! so muß es mit dir enden? –
Doch meine Warnung wolltest du nicht hören!
Schiller, Tell.
Kennen wir den Psalmen, den Rahel einst suchte und betete, – den Otto Simon jenesmal im Wald zu hören bekam und den er jetzt nicht mehr fand? ... Aber wer hätte gemeint, daß die reiche Rahel eine arme, arme Rahel werden sollte über der Wahrheit dieses Psalmen, welcher Herrn Simon so reich gemacht hatte? Und wie das? Ach, wenn doch ihr Bruder Arthur nicht auch ein ›Gottloser‹ gewesen wäre und immer mehr geworden wäre!
Den Vater beunruhigte schon lange manches, was er aber in der Stille mit sich herumtrug. Das war so seine Art. Je und je machte er einige mißgestimmte Bemerkungen, aber weitere Fragen ließ er dann nicht zu. Hie und da warf er ärgerlich einen Brief auf den Tisch und ging dann damit in sein Geschäft oder an die Kasse. Die beiden Schwestern sprachen je und je mit einander darüber, aber was konnten sie viel sagen? Das Wort des Mohren war eigentlich das Gewisseste, was sie wußten, – und freilich übergenug. Es war ja wohl nichts als nur eine Andeutung, aber doch war sie gegeben von einem Menschen, den man achten, dem man vertrauen mußte, und enthielt eigentlich schon so viel, daß man fast froh gewesen wäre, nicht soviel zu wissen, oder aber alles zu wissen. Und doch wieder fürchteten sie sich beinahe, noch mehr zu erfahren, als sie schon ahnten. – Eines Tags aber kam an den Vater ein Telegramm, als er nach Tisch noch bei seinen Töchtern saß. Geschäftstelegramme kamen ja viele und in den Zwischenzeiten brachte man sie immer in das Privatzimmer. Ruth kam herein und legte es vor ihn hin. Er gab ihr einen Wink, daß der Mann wieder gehen könne und öffnete. Kaum flog aber sein Blick über die paar Zeilen, da schrie er fast, so laut stieß er es heraus: »Was ist das? Gott Abrahams, was ist das?!« Zitternd hielt der alte Mann das Blatt in seinen Händen.
»Vater, was ist es? um Gottes willen!« rief Rahel, und Mirjam starrte und suchte ängstlich mit ihren unsicheren Augen nach Aufschluß.
»Da nehmet! leset!«
›Arthur unglücklich geworden, liegt schwer darnieder. Schnell kommen!‹ las jetzt Rahel, zuerst leise für sich und dann laut für die aufgeregt es begehrende Mirjam. Gezeichnet war das Telegramm von dem Geschäftsfreund des Vaters.
Der Vater war aufgestanden und ging unruhig und hastig auf und ab. Mit sich kämpfend stand er zeitweise still. Dann ging er wieder mit jagenden Schritten auf und nieder, bald jammernd, bald zürnend, so daß die beiden Mädchen in eine wachsende Aufregung hineinkamen.
Mirjam weinte bitterlich. Rahel frug und frug und der Vater antwortete nicht und hörte nicht. Endlich hielt ihn Rahel bei der Hand fest und rief: »Vater! das halte ich nicht aus! Sage doch: was ist das? was ist es?!«
»Ich weiß es ja selbst nicht, Kinder! Gott Abrahams! ich weiß es ja selbst nicht. Es ist ein Unglück geschehen mit Arthur. Was weiß ich was?!« schrie er halb wieder zürnend, halb verzweifelt. »Arthur, mein Sohn, mein einziger Sohn!«
Er setzte sich jetzt in die Ecke und weinte bitterlich. Er begrub sein Gesicht in seine beiden Hände und schluchzte immer heftiger; nur je und je rief er wieder: »Arthur, Arthur! mein Sohn, mein einziger Sohn!«
Nach einer Weile stand der gute Alte wieder auf, sah seine geliebten Kinder wieder an und sagte: »Kinder, ein Unglück ist geschehen, – man muß wissen, was es ist. Das muß ich wissen, ehe ich heute Abend abreise. Ich will sogleich noch einmal anfragen!« Und er ging in das Geschäft hinunter und schrieb ein Telegramm.
Dann kam er wieder und setzte sich zu den beiden Mädchen, diesmal wie eine Mutter, so weich und so liebreich; halb wie um zu trösten, halb wie selber Schutz, Trost, Hilfe, Rat suchend. Er wurde jetzt noch aufgeregter und allmählich gesprächig. »Ach, Kinder! wenn man es nur wüßte, wenn man es doch nur wüßte!«
»Aber Vater!« sagte jetzt Rahel, »er ist vielleicht nur krank geworden, freilich recht krank!«
»Unglücklich geworden, heißt es ja!« rief er. »Was ist das? was ist das?!«
Rahel sagte sich selbst, daß dies allerdings mehr bedeute, als nur ›krank‹ oder auch ›recht krank‹ geworden.
Man mochte gegen einander keine weiteren Befürchtungen aussprechen, aber was jagte jetzt alles durch die aufgeregte Phantasie! was bohrte und wühlte jetzt für ein Schmerz und eine Sorge in diesen drei Herzen!
Mirjam stand wie vor einem Abgrund. Ja, ihr blödes Auge schaute stierend wie in den Abgrund, suchte den Bruder da unten und fand ihn nicht. Jetzt meinte sie ihn rufen zu hören, aber sie sah ja nichts. Hell aber leuchtete ihr wie Flammenschrift das Wort des Mohren vor den erschreckten, geblendeten Augen: ›Beten Sie für Ihren Bruder, er lebt nicht, wie er soll!‹
Und als vollends der Vater noch sagte: »Wenn er nur krank wäre, hätte Zamba telegraphiert und nicht mein Freund«, da war es etwas wie Hoffnungslosigkeit, was über sie hereinfiel und sie ganz und gar bedeckte. Sie hätte jetzt verzweifelnd aufschreien mögen, aber sie war ganz erstarrt im Schrecken. Ja fürwahr, sie sah in einen Abgrund!
Nach zwei bangen Stunden kam das zweite Telegramm an. Ach, welch ein Inhalt! »Arthur am Sterben. Selbst.«
Jetzt mußte es ja klar sein. O das Wort ›Selbst‹!! Wären die Gemüter nicht vorbereitet gewesen, so hätte man sich geärgert über diese Undeutlichkeit und Sonderbarkeit, über solcher widerwärtigen und unartigen Unklarheit durch das thörichte Wortesparen. Jetzt aber war es bald allen schauerlich klar! Der Vater nämlich stand auf, er griff sich an den Kopf und hob sich hoch empor. Mit seinen Armen griff er verzweifelnd in die Luft. »Selbst, Selbst – Selbstmord!« schrie er heulend heraus. »O Arthur, mein Sohn, mein Sohn!! Arthur! warum hast du uns das gethan?! – O Mutter, Mutter Mirjam! Du Weib meiner Jugend! gesegnet bist du, daß du das nicht erlebt hast! Ach, ach! dein Kind, dein Schmerzenskind, – dein Sohn, dein einziger Sohn ein Mörder, – ein Selbstmörder!«
Nun war es auch den beiden Mädchen alles deutlich, – wenigstens wagten sie es von jetzt an nicht mehr, sich etwas anderes vorzutäuschen. Rahel stand auf und fiel dem Vater um den Hals, Mirjam fiel zu Boden und kniete vor ihrem Vater wie hilfeflehend nieder. Es brach ein Jammer los, den diese liebe, glückliche Familie nie, nie gekannt hatte, auch der Vater in Generationen nicht. Rahel raufte sich die Haare und schrie laut vor Jammer und Elend: »O mein Bruder, mein Bruder! warum hast du uns das gethan!?« Der Vater rief dazwischen: »Ich muß mit Leid hinunterfahren in die Grube! ach und weh! ach und weh!« Die ganze leidenschaftliche Glut orientalischer Seelen ergoß sich in lauten Schmerzensausbrüchen; das Klagegeschrei erfüllte das ganze Haus. Mirjam ging tastend und wankend in ihr Zimmer, warf sich auf den Boden platt nieder und schluchzte wie ein Kind. Da kam Ruth herein und hob sie auf, – fast wie eine Leblose.
Es kam auch das Christenmädchen und weinte bitterlich, als sie hörte, was geschehen. Rahel sagte nachher zu ihr: »Kathi! unser Haus ist ein Haus der Klage geworden und der Schmach! Kathi, Du bist in einem Haus der Schmach und der Schande!« Da weinte Kathi noch mehr und sagte: »Nein, nein! nicht Schmach und Schande, aber freilich bitteres Herzeleid. Ich aber will mit daran tragen, ich will mit daran tragen, Fräulein Rahel!« – Rahel sagte: »Ich danke Dir, Kathi! ich danke Dir viel tausendmal! und mein Vater wird es Dir danken, Kathi, daß Du das gesagt hast!«
Ruth war jetzt die Besonnenste von allen. Ihr Jammer freilich war auch groß, aber ihre Pflicht hielt sie aufrecht und sie that ihr Möglichstes, alles in Ordnung zu halten, Fremde fern und das Haus still zu halten. –
Ja, ja, es war ein Haus des Leids und der Klage, der Trauer und des stummen Schmerzes geworden mit einemmal,, dieses bisher so glückliche, reiche Haus rechter Israeliten. Am Abend reiste der Vater ab, er fuhr in geschlossenem Wagen zur Bahn; die Töchter erschienen nicht einmal am Fenster, als der Wagen abfuhr. Sie saßen oben beisammen, horchten auf die Abfahrt, umarmten einander bitterlich weinend, als der Wagen wegfuhr, und hielten sich in trauter Liebe fest umschlungen.
In wenigen Stunden mußte der Vater in der Hauptstadt sein, wenn auch nach Mitternacht erst. O wie war diese Nacht so schaurig für ihn, wie für die Kinder daheim! Und doch, wie froh war er, in dunkler Nacht, von niemand gesehen oder erkannt, dort anzukommen, wo er seinen Sohn in Schmach und Schande, in Blut und Wunden, wahrscheinlich schon leblos und todesstarr antreffen sollte.
Am Bahnhof empfing ihn Zamba, der treue Diener, aufgeregt und tiefbekümmert. Sie sprachen wenig, um niemandes Blicke auf sich zu ziehen; als aber der alte Levi im Wagen saß und derselbe geschlossen war, da frug er hastig, fast sich überstürzend: »Was ist es gewesen, Zamba, – lebt er noch?« Und es ward, als führen mit einemmal ein ganzes Bündel Blitze vom grellen Nachthimmel herab auseinander und schlügen alle nacheinander erbarmungslos in seinem Herzen, in seinem Vaterherzen ein, als er nun von Zamba erfuhr, daß Arthur, ein immer leidenschaftlicherer Spieler, einen Kasseneingriff gemacht, dann, von der Gefahr der Entdeckung und Verhaftung bedroht, um aller Schande zu entgehen, einen Selbstmord verübt habe und jetzt – schon gestorben sei!
Zamba war in großer Not, das alles, alles dem alten Vater sagen zu müssen. Und er sagte es so teilnehmend und ehrerbietig, daß er allen Dank verdiente. Aber was konnte er an diesen grausen Wahrheiten mindern oder mildern, was etwa gar schöner darstellen, als sie es nun eben sind? Solch ein Leben ist schnöd, solch ein Ende gräßlich, es war das Zerrbild des Lebens und ist der allergrausigste Tod. »Sag es schnell!« war der natürliche Schrei der Angst und der Scham eines bekümmerten Vaterherzens gewesen, und doch, jetzt schnell alles sagen, war für Zamba wie ein Wagnis voll größter Gefahr. Aber immerhin war es für den alten Vater noch eine Wohlthat in seinem großen Jammer, alles vollends schnell zu wissen. Was kann der Arzt thun, wenn es sich um eine gräßliche Operation handelt? Er kann höchstens betäuben und damit die Sinne nehmen und die Schmerzen töten, aber zur Süßigkeit der Lust kann er den Schmerz ja nicht umzaubern. Zamba aber war noch schlimmer dran. Er mußte dem klar bewußten Vater die ganze volle Wahrheit sagen und hatte nichts, gar nichts zur Betäubung des Schmerzes in der Hand. Wie ohnmächtig sind wir Menschen, wenn der Sturmschritt der göttlichen Gerichte einherkommt und über uns weg schreitet, allen und jeden Widerstand niedertretend und niederstürmend!
Und doch, was hatte jetzt der arme, alte Levi an Zamba für eine Hilfe und einen Trost! Still und ohne viele Worte half der treue Diener ihm hinauf, dann hinein – zur Leiche seines Sohnes. Still entblößte er das blutleere Angesicht, still bedeckte er es wieder, beidesmal die Wunde sorgsam ganz verhüllend. Dann führte er den Vater wieder weg. Und merkwürdig! der alte Vater gab sich jetzt in die Hände dieses Dieners wie ein Kind, er ließ sich leiten und führen wie ein Kind von seinem Vater, und Zamba that das Seine so treu, so bescheiden, so anspruchslos und doch zugleich so innerlich sicher, so umsichtig und verständig, als wäre er darauf eingeübt, den Schwindelnden in der allerhöchsten Not über den allertiefsten Abgrund sicher hinwegzuführen. Gewiß hatte das seine nun schon mehrjährige Gewöhnung an eine innerlich und äußerlich längst drohende Gefahr mitbewirkt. Denn so überraschend jetzt alles gekommen war, – in Zambas Herzen war lange vorher schon vieles durchgesorgt und durchgekämpft, durchgemacht und durchgebetet worden, bis auf die Zeit dieses allergrößten Schreckens, dieses grausen Endes seines Herrn.
Als sie beide nach zwei Tagen am Grab standen, – nur noch zwei Freunde des alten Levi dabei, sonst waren sie ganz verlassen, – da wollte der alte Levi wohl keine Unterstützung annehmen, sondern frei dastehen, – der Mohr hinter ihm. Aber innerlich war ihm Zamba in diesen zwei Tagen schon eine so kräftige Stütze geworden, daß er nicht mehr ohne ihn hätte sein mögen. Denn derselbe ordnete nicht nur die äußeren Angelegenheiten, er besorgte nicht nur Briefe und Bestellungen äußerlicher Art, sondern er übermittelte auch gewichtigere Aufträge des alten Levi; selbst die beschämenden Geldangelegenheiten, um die es sich jetzt handelte, vermittelte er und überhob so den alten Vater vieler Beschämung, die auf ihn gewartet hätte vor Gericht und in dem Geschäft Arthurs, vor zudringlichen Neugierigen und vor den Geschäftsfreunden des Alten. Er machte es ihm, soweit man davon sagen konnte, heimisch in diesen zwei Tagen, und besorgte auch alles bis ins Einzelne, was zur Abreise noch nötig war.
Und wie hätte der zitternde alte Mann am dritten Tag allein heimreisen können ohne die Hilfe des Mohren, des Dieners seines Sohnes? Hätte man ihn freilich früher gefragt, – niemalen hätte er geduldet, daß dieser Mensch, dieser Mohr, je einmal sich wieder daheim, in seiner Vaterstadt und vor den Bekannten wie vor den ferner Stehenden, sehen lassen dürfe, – dieser Zamba, diese schwarze Erinnerung an die schwarze That seines Sohnes! Aber siehe da! unentbehrlich schien er ihm jetzt geworden zu sein, gern nahm er ihn mit und bot ihm sogleich an, dauernd bei ihm zu bleiben, um ihm und seinen Töchtern eine getreue Hilfe zu sein; er wollte ihn immerdar wert halten! Ja, das alles that der alte Levi!
Und er hatte damals noch keine Ahnung, was alles und wie viel der gute Zamba für den ungeratenen Arthur gethan und gesorgt, geopfert und daran gesetzt habe. Auch davon konnte er damals noch keine Ahnung haben, wie viel Gutes den Seinigen durch den Mohren noch werde zu teil werden.