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VIII. Kapitel.
Enttäuschungen.

Motto:

So sehen wir uns wieder? So mußt Du
Den Einzug hatten in des Vaters Haus?!
O laß an meinem Leben mich das Deinige
Anzünden! ...

Schiller, Braut von Messina.

Nach einigen Tagen kam Arthur, der einzige Sohn der Familie, auch zu Besuch. Er wurde von allen herzlich empfangen, von Rahel war er stürmisch erwartet. Hatte sie ihn doch schon besonders lange nicht mehr gesehen, und von so manchem ernsten Wort, das zwischen Vater und Sohn gesprochen ward, wußte sie so wenig als Mirjam. Arthur stand bei einem berühmten Bankhaus in der Hauptstadt in Diensten; des Vaters Ansehen in der jüdischen Kaufmannschaft hatte das nach der gewöhnlichen Vorschulung leicht möglich gemacht. Aber es wird manchem Vater hinterher eine schwere Last, wenn seine Arbeit oder sein Ansehen den Söhnen das Leben leicht macht. Arthur hatte es leicht, war selber leicht, lebte leicht. Oberflächlichkeit war der Grundzug seines Wesens; leicht beweglich im Verkehr mit anderen, ward er nicht sofort als das erkannt, was er war. Einen zu geringen Posten, welcher das geringe Maß von Arbeitstüchtigkeit und Arbeitsgründlichkeit vielleicht rascher und greller geoffenbart hätte, konnte man ihm, dem Achtundzwanzigjährigen, nicht mehr geben, vollends nicht dem Sohn eines so geachteten Freundes, wie Herr Bankier Levi es war. Wer aber länger mit ihm zu thun hatte, mußte doch mit der Zeit finden, daß nicht viel in ihm war. In seinem Geschäft hatte er nun gerade denjenigen Posten, welcher das verhältnismäßig am längsten verhüllte. Repräsentation nach außen wußte er zu machen. Sozusagen die immer baumelnde Zwischenthüre zwischen dem Geschäft und der Außenwelt zu bilden, das ging ja an; die eigentlichen Geschäfte mit den betreffenden Herren abzuwickeln, wäre nicht seine Sache gewesen, war aber auch nicht sein Beruf, und er verstand es prächtig, das, was Unfähigkeit war, als bloße Bescheidenheit, anderen diesen Ruhm zu lassen, darzustellen. Der windige Mensch war also nur sozusagen die Windfangthüre im Haus. Aber diese gesellige Repräsentation des Hauses verstand er vorzüglich. Sein gefälliges Äußere und eine gewisse Würdigkeit ›aufzuwarten‹ empfahlen ihn dazu. Was geschäftlich fehlte, sah man ihm deshalb jedesmal wohlwollend nach, wenn man auch allmählich wußte, daß er nicht der ebenbürtige, gleich arbeitstüchtige Sohn seines Vaters sei. Er wußte sich immer zu geben, und wo diese Lücke deutlicher hätte offenbar werden müssen, da verstand er es gut, dieselbe geschickt zu verdecken und mit irgend einer ›notwendig gewordenen‹ gesellschaftlichen Repräsentation des Hauses zu beschönigen.

Hier zu Hause nun, von beiden Schwestern empfangen als der geliebte Bruder, auch mit liebenswürdigen Vorwürfen über sein spätes Eintreffen überhäuft, suchte er sich zunächst von der liebenswürdigen Seite zu geben, wenn schon weniger mit Herzlichkeit, als mit absichtlicher, zur Schau getragener Weltgewandtheit. Eigentümlich! der warme Ton der Herzlichkeit und Innigkeit im Haus war ihm, dem schalen und zugleich stolzen Menschen, eher unangenehm als angenehm, denn er brachte dabei seine vornehm sein sollende Gewandtheit, – das war also seine Art von Liebenswürdigkeit, – nicht recht an den Mann. Er brauchte förmlich Zeit, sich daheim wieder zurecht zu finden. Seine Schwestern empfanden das nicht sogleich, ihre Liebe deckte es arglos zu; der Vater aber schaute tiefer und ihm gegenüber wich auch, sobald derselbe nur ins Zimmer trat, sofort das thörichte Selbstbewußtsein des Sohnes. Übrigens war des Vaters Benehmen gegen den Sohn tadellos; er behandelte ihn als den Sohn des Hauses. Es wäre ja ein Stück Selbstachtung mit verloren gegangen, wenn er nicht dem eigenen Sohn dasjenige Teil liebender Achtung vor Schwestern und vor Dienstboten entgegengebracht hätte, welches dem Sohn des Hauses als solchem gebührte.

Wenn aber die Geschwister allein waren, so ging es allmählich nicht mehr recht vorwärts mit dem Gespräch; denn es kam nicht mehr so recht zu einer gegenseitigen Berührung der Seelen. Fade Witze und allgemeine Redensarten thun das ja nicht. Man kann einmal auch über dergleichen lachen und harmlos sich daran vergnügen; auf die Länge aber geht das allein nicht mehr für Leute, welche unter einander etwas Besseres wert und etwas Edleres, Feineres gewöhnt sind. Die mehr zurücktretende Mirjam hätte den geheimen Gegensatz nicht ebenso schnell empfunden und jedenfalls ihm nicht kräftig begegnen können, – anders aber war das bei Rahel. Ihr lebhafter Geist und ihre starke Natur forderten das Treffen heraus, ohne daß sie das wollte oder eigentlich nur ahnte. Das Gewicht ihrer Persönlichkeit mußte anziehen oder abstoßen, mit erheben oder demütigen; das konnte auch bei Bruder Arthur schließlich nicht ausbleiben.

Sie hatte so eine Art in ihrer Unterhaltung. Sie wollte etwas mit derselben, es war ihr nicht ein Spiel. Sie wollte damit etwas geben und wollte auch etwas empfangen. Es war – in der liebenswürdigsten Art und Weise – bei ihr ein gewisses Andringen, ein vor die Entscheidung Stellen, es war ein Entweder-Oder, wozu man bei ihr aufgefordert wurde.

So war es auch in ihren Erzählungen von Jerusalem. Er hatte ja die Tage her zugehört und immer wieder zugehört; aber was ihr das Wichtigste dabei war, hatte gerade sein Interesse nicht. Vieles schien ihm Kleinigkeiten zu betreffen, was ihr wichtig und wirklich etwas wert war. Was nicht äußerlich großartig war, das war ihm nichts, und andererseits konnte er dann mit Fragen kommen über Dinge, welche ihr windig erschienen. Doch war das alles immer noch kein so deutlicher Gegensatz, wie er noch offenbar werden sollte.

Rahel hatte, um der Schwester willen mehr Neues erzählend, seitdem nie mehr ganz in der Weise berichtet und sich ausgesprochen, wie damals am ersten Tag nach ihrer Ankunft in des Vaters Beisein. Heute sollte es sich begeben, daß sie wieder in einen tieferen Gedankengang eindrang. Die tastenden Versuche waren vorüber, ihre Seele sehnte sich nun einmal wieder, – auch ihm gegenüber, – darnach, ihr Innerstes herauszusagen.

»Arthur, weißt Du noch die Psalmen, die verschiedenen kleinen Psalmen alle nach einander, welche wir in der Schule auswendig gelernt haben?«

»Welche denn?«

»Ach, weißt Du, der erste fängt an: ›Ich rufe zu dem Herrn in meiner Not.‹« Psalm 120, – der erste der Wallfahrtspsalmen.

Arthur blies den Rauch seiner Zigarette in die Luft hinaus, und lächelte ein wenig: »Da weiß ich nichts mehr davon.«

»Und den: ›Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt?‹«

Er hob seine Augen empor, – seine eigentlich so schönen und doch so schalen Augen, – wiegte, wie mit den Augen suchend, den Kopf langsam hin und her und sagte: »Ich weiß aber nichts mehr davon!«

Rahel sagte halb ärgerlich, halb spaßhaft: »Du bist doch von jeher ein Nichtskönner gewesen!«

Arthur sah rasch zu ihr herüber und dann wieder auf seine Zigarette.

»Und dann den, in dem es heißt: ›Wünschet Jerusalem Glück, es müsse wohl gehen denen, die dich lieben!‹«

»Ach, nur nicht immer von Jerusalem! wir anderen Leute müssen und können auch glücklich sein, wenn man auch nicht in Jerusalem gewesen ist!«

Jetzt war sie sehr betroffen über seine kühle Antwort. Ihr Herz war voll von Jerusalem; ihr war es ins Herz geschrieben, was auf dem Armband ihrer Schwester stand: ›Vergesse ich dein, Jerusalem, so müsse meiner Rechten vergessen werden!‹ und sie scheute sich nicht, auch nachzusprechen, was im folgenden Vers dort steht: ›Meine Zunge müsse an meinem Gaumen kleben, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein.‹ Psalm 137, 5 u. 6. Wie konnte ein rechter Jude aus dem Hause Levi, – wie ihr eigener Bruder anders denken!

Es that ihr im Innersten weh; fast meinte sie, ob denn alles zuviel gewesen sei, was sie bisher erzählt habe? Aber Mirjam und ihr Vater, auch Ruth und das Christenmädchen, hatten doch immer so aufmerksam zugehört, nicht genug bekommen können, immer wieder gefragt und immer neu angebohrt. Und jetzt der Bruder so ...! doch sie war ihrer Sache innerlich gewiß. War, was sie erlebt und geschaut, nicht in verborgenem, ja in ganz offenbarem Zusammenhang mit den innersten Bedürfnissen ihrer Seele, mit den heiligsten Überzeugungen ihres Herzens, mit den wichtigsten Religionsfragen ihres Volkes?! – Auf denn, in den Kampf dafür! Es ist ja doch der geliebte Bruder! er wird sich schon gefangen geben! Wie konnte er auch heute nur so launisch sein!

»Aber höre, Arthur! das ist doch gar zu arg! wenn Dir das alles gleichgiltig ist!«

»Und ich sage es noch einmal: es können doch nicht alle Leute nach Jerusalem hinein! wir müssen auch leben und anderswie glücklich sein! mach doch nicht gar so viel Wesens daraus!«

Das war ihr, wie wenn er ihr gesagt hätte: Wie nutzlos hast Du sechs Monate Deines kostbaren Lebens vergeudet! wie unnötig viel Geld für eine solche Reise ausgegeben! – Doch nein, so konnte es ja nicht gemeint sein; so viel sah ihm auch die Schwester an, daß er in der Arbeit nicht aufgehe und daß das Sparen nicht seine hervorragende Tugend sei. Aber das sagte sie nicht, denn sie fühlte jetzt, daß tief innerlich ein großer Unterschied der Lebensauffassung bestehe, daß ein bedeutender Unterschied der Weltanschauung überhaupt hier zu Tage trete. Nur dachte sie noch immer, das sei wohl mehr die in der großen Welt angenommene Art, von religiösen Dingen ums Himmels willen nichts verlautbaren zu lassen in einem Gespräch mit gebildeten Menschen, – worüber sie sich als eine tiefere Natur schon oft geärgert hatte.

»Hör' mal, Bruder,« sagte sie jetzt, »ich kann nicht glauben, daß Du so gleichgiltig bist, als Du Dir den Schein giebst. Sage doch: ist das wirklich nichts Interessantes, was in Jerusalem vorgeht – und im heiligen Land überhaupt? Giebt es für uns Juden etwas Wichtigeres auf der Welt als diese gegenwärtigen Bewegungen dort? Und da kannst Du so reden?«

Er machte ein Gesicht, als wollte er ihr bedeuten, daß er nicht Lust habe, gezankt zu werden, vielleicht auch sich ein wenig fürchte, ausgefragt zu werden wie ein kleiner Schulknabe. Er antwortete aber noch nicht.

»Nun, so antworte doch!«

Er hielt seine Zigarette mit der brennenden Seite gegen sich und blies langsam den Rauch auf die selbst rauchende Zigarette hin, wie es geistreiche Raucher machen, als wollte er bemerklich machen: ›wo nichts ist, da hat der Kaiser das Recht verloren‹ oder aber: ›wo etwas ist, da muß noch mehr hin.‹ Aus seinem Hirn kam aber immer noch nichts heraus und aus seinem Herzen auch nichts. Nur also Rauch und Dunst war es, was von ihm ausging.

Seine Schwester aber dachte: Jetzt muß es heraus! Wir sind einmal dran. Ich will doch sehen, ob er gar nichts weiß und gar nichts in sich hat, oder was das ist! Wie eine Debora ging sie jetzt über ihn her, fast mit dem Hochgefühl heiligen Spottes über seine Schwachheit.

»Er weiß, scheint es, gar nichts, er weiß gar nichts von diesen Dingen!« sagte sie, prüfend zu ihm gewendet.

Sie ahnte es selber nicht, daß das immer noch am ehesten die rechte Art und Weise war, ihn › ins Gespräch zu ziehen‹. Denn Leute, die etwas wissen, werden sich kaum halten, dann nicht loszuschlagen. Oder aber Leute, die nichts wissen und nichts in sich haben, sind doch oft am empörtesten dann, wenn sie hieran erinnert werden. Feinere Seelen zwar werden dadurch eher noch gedemütigt und um so begieriger zu lernen, rauhere Leute aber werden grob in diesem Fall und schlagen auch los. Daher kommt ja eigentlich all' die Kannegießerei von Leuten, welche besser schweigen, hören und lernen sollten. – In diesem Fall schien er seinesteils jetzt zu sein. Oder nicht? Jedenfalls wurde er nun fast grob.

»Ich verstehe diese Sachen so gut wie Du, glaube mir! Aber ich denke anders darüber, das sage ich Dir offen!«

Jetzt waren beide im Feuer, die Plänklerkette der Schwester hatte ihre Schuldigkeit gethan, der Feind, – ach! man verzeihe: der Bruder – war zum Gefecht genötigt und mußte klar legen, wieviel Kräfte er aufmarschieren zu lassen habe. Sie aber stand selber längst klar zum Gefecht.

»Nun, so wollen wir doch einmal unsere Meinungen austauschen!«

Das schien ihm nun doch wieder fast eine Verlegenheit zu sein, es schien ihm selbst eine Frage zu sein, ob er über diese Dinge schon genügend nachgedacht und sich ganz klar geworden war. Aber er konnte jetzt nicht mehr zurück, er mußte Rede stehen, Antwort geben, wo nicht gar ›Feuer geben‹. Er sah einen mutigen Widerpart sich gegenüber, – ein Weib gegen einen Mann, die jüngere Schwester gegen – ja schroff gegen den in mancher weiblichen Gesellschaft sonst etwas geltenden Bruder. Freilich mit Vorzügen des Geistes in solcher Gesellschaft Eroberungen zu machen, war nicht seine Gewohnheit, und überhaupt mit solchen Fragen so unerbittlich drangekriegt zu werden, war ihm eine recht unangenehme und überraschend kommende Bestürmung und Belagerung. Aber er war nun einmal im Gefecht, er saß nun einmal da, mit überschlagenen Beinen und bisher so bequem versenkt in die weichen Kissen des Divans, daß es jetzt doch nicht anging, etwa aufzustehen und davon zu laufen; das wäre feig, sehr feig und lächerlich erschienen. Also denn! drauf los! –

»Nun, was willst Du also?« frug er, halb sich dreingebend, halb kampfbereit.

»Ich frage Dich nur, Arthur, ob das nichts Großes, Merkwürdiges, Bedeutendes, Verheißungsvolles ist: das heilige Land weit offen für die Kinder Israel! Sie sammeln sich von allen Ländern her, das heilige Volk des Höchsten kommt wieder in sein Land und zu seiner Stadt Jerusalem, wird wieder eine Nation so wie andere auch, das auserwählte Volk unter allen Völkern!«

»Und was noch?«

»Nun, was noch? Ist das nicht genug? Spürst Du nicht die große Bedeutung dieser Thatsachen?«

»Die große Bedeutung dieser Thatsachen?« frug Arthur und jetzt erst setzte er sich zurecht und schien endlich reden zu wollen. »Und was ist denn Neues daran? Sage doch! was ist Neues daran?«

»Wie so?« frug sie.

»Nun, Du sagst: ›Kinder Israel‹; Du sagst: ›das heilige Volk des Höchsten,‹ Du sagst: ›Nation,‹ Du sagst: ›auserwähltes Volk!‹ – – was ist denn Neues daran?«

»Das doch nicht! Aber daß wir ins heilige Land kommen, uns sammeln und dort wieder eine Nation werden.«

»So – meint Ihr? als wären wir es nicht längst!« sagte er jetzt mit stolzem, tyrannischem Blick und hartem Ton; – »als wären wir es nicht schon längst! Wir sind eine Nation, wir waren es und wir werden es sein! Ob wir wieder nach Palästina gehen oder nicht, – wir sind es und bleiben es! Ins ›heilige Land‹? Ha! Das muß nicht sein, Schwesterchen! Das ist für sentimentale Seelen, aber sein muß das nicht! Das ist Formsache, Liebhaberei, Wunderlichkeit, vielleicht ein rechter Unsinn, sage ich Dir! oder sagen wir besser – denn Du alterierst Dich nur daran, wie ich sehe, – ein rechter Schaden, ja wohl! recht schade, recht schade!«

»Was soll das heißen?!«

»Nun, Rahel! Hast Du gar nichts gelernt, als was Du in der Schule gelernt hast? Hast Du keinen Vater, der weiß, was es heißt: Jude sein? – auch ohne Palästina, ohne heiliges Land und dergleichen Sentimentalitäten!«

»Ich bitte aber doch, Arthur, diese Dinge sind mir heilig.«

»Meinetwegen! Also! ... Dann laß es eben, davon zu reden, wenn man nicht mit Vernunft davon soll reden dürfen! – Und ich sage Dir noch einmal, liebe Schwester, das sind Sentimentalitäten! Wo hat Israel seinen Reichtum her? aus dem sogenannten ›heiligen Lande‹ oder aus anderen Ländern? Wo hat es seinen Einfluß her? vom ›heiligen Land‹ oder von seinem Wohnen unter anderen Völkern? Wo hat es seine Weltstellung her?« rief er, stolz sich in die Brust werfend, – »von einem Zusammensitzen auf dem Häuflein Erde um die sogenannten heiligen Stätten, oder von seinem Zerstreutsein, Umherirren, Wandern, aber auch Arbeiten, notabene geschickt Arbeiten, nicht etwa sich Durchbetteln auf seiner Wanderschaft unter den Völkern! – Ja wohl, von seiner unermüdlichen Rührigkeit und unverwüstlichen Zähigkeit, – daher, daher haben wir, was wir haben! – Und was wir haben,« rief er jetzt mit zusammengeballter Faust und gerunzelter Stirn, – »was wir haben, das wollen wir behalten und werden es behalten und uns nicht rauben lassen, auch durch Eure Sentimentalitäten nicht, Ihr Frauen und Ihr frommen Leute, die Ihr dumme Streiche macht. Hörst Du, verstehst Du mich?«

Rahel war ganz betroffen. Diese harte Art, dieser zornige Ausbruch! dieser Redestrom und dieser starre Stolz der Gedanken, – jetzt auf einmal nach so langem Brüten und faulem Nichtredenwollen! Ja, ganz betroffen war sie! Und es war erst noch Sinn in seiner Rede, Gedanke in seiner Auffassung! – das konnte sie nicht bestreiten. Was ihr zuerst fast wie eine Gotteslästerung erschienen war, das Wort »Sentimentalität,« das stand ihr jetzt, wenn auch kaum begriffen und durch und durch unsympathisch, so doch als ein wirklicher Gedanke, als eine andere, ganz andere, aber eigenartige, beachtenswerte Auffassung da, – an die sie noch gar nie gedacht hatte, an die sie sich gewöhnen mußte, die aber des Nachdenkens wert war.

Er fühlte ihr den Eindruck ab, den seine Worte gemacht hatten, er triumphierte im Stillen. Er übertrumpfte sich jetzt und fuhr fort: »Sieh, Rahel, so ist es mit Eurem Glauben! Immer sentimental, immer eng! Nur nicht denken, nur keine Gründe!«

Da kam er nun aber übel an; hier ließ sie ihn nicht weiter reden. Im Gegenteil, das gab ihr sofort Festigkeit und gleichzeitig Klarheit des Gedankens.

»Arthur! vom Glauben der Väter bringst Du mich nicht ab! Ein bischen Sentimentalität mag dabei sein, das ist eben zugleich ein bischen Weiblichkeit, und ich will ein ganzes Weib sein, Arthur! Ein Weib ohne Religion ist kein Weib! Daß aber die Religion ohne Denken sei, ist gar nicht wahr. Ich kann Dir nur sagen, die Religion gerade hat mich noch immer zum tiefsten Denken hingeführt; sie ist Geheimnis und ist Offenbarung zugleich, sie giebt und nimmt uns die tiefsten Rätsel, sie ist die Weisheit von oben und die Weisheit auf der Gasse.«

»Sprüche!« warf Arthur dazwischen.

»Nicht nur ›Sprüche,‹ Arthur! sondern ›Spruch Gottes,‹ wie die heiligen Propheten zu sagen pflegten, und Wiederhall des Menschenherzens zugleich, möchte ich sagen.«

»So mag ein Frauenherz reden, aber nicht ein Männerverstand!«

»Meinst Du?« rief Rahel erregt, – »so mag ein stolzes Männerherz reden, aber so spricht nicht die gottgegebene Vernunft!«

»Liebe Rahel!« sagte er jetzt, »so kommen wir nicht weiter; so beleidigen wir einander nur. Ich habe angefangen, ich bekenne es, – wiewohl Du eigentlich viel früher, ehe Du es ahntest. Aber ein Männerverstand,« lachte er, »muß auch kalt sein können, – ich will kaltes Blut behalten.«

»Und ich ein warmes Frauenherz,« antwortete auch sie begütigend.

»Also denn! – nun höre Du mir zu, Rahel!«

»Ich höre.«

»Sage mir, Rahel! was haben Deine Freunde, was haben die Leute in Jerusalem über den Weltregenten gesagt, als er dort war?«

»Wie kommst Du zu dieser Frage?«

»Nun, ich möchte es einmal wissen.«

»Die Zeitungen waren ja voll davon, Arthur! Was brauche ich da zu sagen?«

»Bitte, es steht nicht alles in den Zeitungen, was geschieht, geredet, gedacht wird. Weißt Du: Gedanken sind zollfrei, nicht wahr? Auch meine – und Deine! und ebenso die anderer Leute auch. Ich frage, nicht, was er dort gesagt hat, – er kann schweigen oder so reden, wie er will, oder so, wie wenn er geschwiegen hätte, – aber andere Leute können das nicht immer ebenso gut! Ich frage also: Was haben Deine Freunde und die Leute in Jerusalem vom Weltregenten gesagt, als er letztes Mal dort war?«

»Nun, er hat nicht allen gefallen, – oder eigentlich, er hat vielen gar nicht gefallen.«

»Da haben wir es! Die Esel, die frommen Esel!«

»Aber Arthur! Du weißt, unter wessen Dach ich gelebt habe! Der alte Isaak ist mir wie ein Patriarch erschienen und Rebekka wie eine Stammmutter.«

»Wolltest sagen: wie eine Stammmutter mit einer einzigen Tochter namens Lea, – welche überdem wahrscheinlich ganz aussieht, wie höchstdero Stammmutter mit den blöden Augen?«

»Ach, laß doch diese bitteren Spottreden, Arthur! wozu denn?«

»Gut, ich kann es ja lassen, wir sind eigentlich schon fertig.«

»Nein, das sind wir nicht. – Warum hast Du mich vorhin das gefragt?«

»Rahel, hättest Du mir eine andere Antwort geben können, so wäre ich nicht ärgerlich geworden; so aber hat es« – lachte er – »fast schon wieder eine schlimme Wendung genommen, gerade wie es eine schlimme Wendung nimmt, wenn die Leute, wenn Juden – so dumm sind und an diesem Weltregenten keinen rechten Gefallen finden! Und warum denn? sage mir das auch noch!«

»Warum? er schien keine Freude zu haben an der Wiederherstellung des Gesetzes.«

»So? das kann ich mir denken! Und sie also deswegen keine an ihm, diese dummen Leute? sie, die Juden, an ihm, einem Juden, – am Weltregenten, einem Juden, keine Freude?!«

»Ja, – weil er keine zu haben schien an der Wiederherstellung des Gesetzes!«

»Und an allen ihren engen, beschränkten Anschauungen sonst noch, sage ich Dir! Aber ums Himmels willen! sage selbst, Rahel, ob das nicht dumm ist: sie, die Juden, die altgläubigen Juden, keine Freude am Weltregenten, einem Juden! Wer soll das fassen, wer soll das verstehen?! Von vielen Christen wird er gehaßt, weil er ein Jude ist, und gleichwohl, gleichwohl nicht allen Juden ein Abgott, eben weil er Jude ist!!«

»Das ist es eben: einen Abgott will man nicht! Gott anbeten, ihn allein anbeten wollen wir! Wenn aber er nicht Gott anbetet, oder vielleicht nicht ...

»Weißt Du das, Rahel?«

»Ich weiß es nicht, aber so schien es doch, und dann ist es so eine Sache. Bedenke! die Juden jetzt auf der höchsten Höhe, nahe an der Erfüllung der uralten Verheißungen, – ihren Gott suchend und findend wie vor alters, – ja, da ist es doch ein doppelter Schmerz, wenn man spürt: er will eigentlich nichts von Gott! Glaube mir! wir gerade hätten die größte Freude an ihm, an einem solchen Weltregenten aus der Mitte unsres eigenen Volkes, wenn er nur das Gesetz der Väter und die Propheten etwas gelten ließe! Aber davon hat man nichts gespürt!«

»Hat er etwas dagegen gesagt oder gethan?«

»Das nicht.«

»Also!«

»Doch, Arthur! er hat nichts dagegen gesagt und gethan, aber ...«

»Was ›aber‹ ...?! Also er hat mindestens den Glauben des Volks geschont, und damit war man nicht zufrieden? Das ist traurig, wirklich traurig!«

»Bitte! wir waren traurig und mußten traurig sein, daß es nur das sei und nichts weiter. So konnten viele ihre eigentliche Hoffnung nicht auf ihn setzen, – und hätten es so gerne gethan, so herzlich gerne!«

»Und ich sage, das war Thorheit! Thorheit war das!«

»Siehe, die Furcht des Herrn, das ist Weisheit!«

»Und meiden das Böse, das ist Verstand,« leierte Arthur nach.

»Arthur, laß das, wenn ich Dir glauben, wenn ich nicht an Dir irre werden soll! So etwas kann ich nicht hören von meinem eigenen Bruder!«

»Rahel, man kann ärgerlich, man kann oft ganz grimmig werden über die Dummheit der Menschen! Der Weltregent ein Jude, und den frommen Juden gefällt er nicht! Was soll man da sagen? Sieh, Rahel! das ist es, warum mir Eure gelobte Landesbegeisterung auch nicht gefällt! – Wozu denn aller Augen auf sich ziehen, andere Völker neidisch, mißtrauisch machen, neue Gefahren heraufbeschwören? Man sagt, eine kluge Frau herrsche immer im Haus. Ist das aber eine kluge Frau, welche zeigt, daß sie herrscht und herrschen will? oder wird sie dann wirklich herrschen, wenn sie es zeigt? Es wird bald aus sein, es sei denn, daß ihr Mann ein Sklave ist. Unser Volk, die Judenschaft, ist eine kluge Frau, sie herrscht im Haus, – in der weiten Welt mehr und mehr sie allein! Muß das gezeigt, muß das herausgehängt sein? Muß dieser Aushängeschild ›heiliges Land,‹ ›gelobtes Land,‹ ›Stammland der Väter,‹ ›Land der Erzväter‹ u. s. w. immer in großen goldenen Lettern prangen vor dem glotzenden Auge aller Menschen, vor dem neidischen Blick fanatischer Christen? Das ist doch nicht nötig! Das gehört doch nicht zur Herrschaft!!«

»Aber ...

»Nichts ›aber!‹ Und nun siehe! Soll der Weltregent, ein Jude, auch wieder recht stolz auf seinen Judennamen sein vor aller Welt, vor allen Völkern? Soll er gar, wenn er nach Jerusalem kommt, recht viel Spektakel damit machen, und rechten Hokuspokus treiben mit dem Judennamen und der Judenreligion und unseren alten Religionsgebräuchen?! – Verstehst Du! ich weiß ja nicht näher, was er denkt und was er noch thun wird in dieser Beziehung; dieser ganze Mann ist ein Geheimnis, der ganze Mensch ist ein Wunder, der ganze Mann, sage ich Dir! – aber das Mindeste, was er ist, ist das, daß er ein gescheiter Jude ist und vor allen Dingen Rücksicht nimmt auf andere Völker, auf andere Religionen und Konfessionen, besonders aber, wenn er nach Jerusalem kommt! Verstehst Du mich?!«

»Ich verstehe Dich, – aber Du verstehst mich, Du verstehst uns nicht, wenn Du nicht begreifst, daß es einem Israeliten, der an der alten Väter Gesetz und Hoffnung hängt, schmerzlich ist und bleibt, wenn er kühl ist und den Eindruck macht, als hielte er nichts darauf.«

»Das überlasse Du ihm! Ich meine, Dir jetzt genug gesagt zu haben!« – –

Das Gespräch brach ab. Der Vater kam herein. Bald kam auch das Abendessen. Man sprach über allerlei, aber viel wurde es nicht mehr. Rahel war still, stiller als diese Tage her. Mirjam, obwohl nicht beim vorigen Gespräch anwesend, empfand es wohl, daß ein besonderer Grund vorliegen müsse; sie sah öfter zu ihrer Schwester hinüber. Aber ihr Auge war ja nicht klar genug, um sichere Schlüsse zu ziehen aus dem, was sie sah. Der Vater war etwas geschäftsmüde heute, er hatte manches hereinzuholen und schien, ein wenig in sich versunken, nichts zu merken. Der Tag ging zu Ende. Man sagte sich gute Nacht und ging zur Ruhe.

Rahel ruhte aber nicht, sie hatte viel zu denken und zu überwinden. Des Bruders Art, seine religiöse oder vielmehr religiös gleichgiltige Gesinnung, die so offenbar, so kraß zu Tage trat, that ihr wehe, bitter wehe und machte ihr große Sorge. Seine Anschauungen aber enthielten manches Neue für sie und manches Beherzigenswerte, was sie lange umtrieb. Sie wäre froh gewesen, wenn sie alles so ruhig hätte hinnehmen können. Aber das konnte sie nimmermehr. In dem ganzen Gedankensystem, das vor ihr aufgebaut war, war so viel System, Klugheit, Berechnung, – sie hätte sagen mögen: Schlauheit, – daß sie der Sache nicht recht trauen mochte. Dagegen fand sie Recht und Gerechtigkeit, Wahrheit und Treue, Gott und seine Verheißung zurückgestellt, zu den Akten, zu den Toten gelegt, – damit war aufgeräumt, als müßte man sich dessen schämen, als würde es sich nicht zusammenreimen mit der Vernunft, als wäre es ein Schaden, eine Gefahr und was nicht gar noch mehr!

Nein, nein! ›Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege,‹ dachte sie in ihrem Herzen. Das Gehörte alles hatte sie nur verwirrt, nicht erleuchtet, nur bedrängt, nicht erleichtert. Mochte manches noch nicht ganz klar sein, was sie gesehen und gehört hatte in Jerusalem, was sie glaubte und erkannte in ihres Herzens Grund, – irre konnte sie doch nicht mehr werden, das fühlte sie jetzt in der stillen Nacht tief, als sie gebetet hatte ein uralt heiliges Gebet von der Mutter her, von den alten Vätern her, und zum Schluß das: ›Der Herr segne dich und behüte dich!‹

Sie schlief jetzt ruhig ein. Der nächste Tag schon sollte ihr Klarheit bringen.


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