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Motto:
Ein jeder frei vom Zwange,
Für alle gleiches Recht,
In edlem Liebesdrange
Ein Mann des andern Knecht: –
O Wunder groß!
Es ist geworden wahr
Und wirds auch fürder bleiben
Wohl tausend Jahr!
4. Kap. S. 49.
Man hatte sich sehr lebhaft über die gemeinsamen Erinnerungen aus alter Zeit unterhalten und schaute jetzt mit befriedigtem Blick hinaus auf die untere und mittlere Stadt, dann zur jenseitigen Thalwand hinüber, welche mit ihren sämtlich im Grünen liegenden Häusern und in ihrem strahlenden Lichtmeer ein überaus fesselndes, wechselvolles Bild darbot, zugleich das schönste Spiegelbild der eigenen Umgebung und des Hauses, in welchem man sich befand. Man sprach wieder von der längst entschwundenen Jugendzeit, welche man da unten in der alten Stadt mit ihren engen Gassen, in den schmalen Häusern mit ihren niedrigen Wohnräumen, seinerzeit zusammen verlebt hatte.
Man fühlte sich so wohl in den Erinnerungen einer zum teil gemeinsam durchlebten Jugendzeit, noch wohler freilich in den dankbaren Gedanken an die allgemeine Befreiung aus allem Gedränge vergangener Zeiten, und es war kein schmerzlicher Gedanke dabei, daß das weithin schweifende Auge von allen diesen alten Häusern jetzt kein einziges mehr zu finden vermochte, dagegen lauter neue Wohnstätten dort drüben vor sich und hier rings um sich sah, alle freigestellt und in der Höhe gelegen, zum Teil zauberisch schön dastehend, alle zusammen eine einzige große, liebliche Villenstadt, an die Bergwand angelehnt, wogegen man hier unten statt einer engen, dunstigen Stadt einen schönen, großen Stadtpark oder vielmehr eine prächtige Parkstadt zu seinen Füßen vor sich sah. Nicht zum wenigsten aber blieben die Gedanken an den Bildern des heutigen Vormittags hängen, wo man zuerst die untere Stadt mit ihren weitgedehnten Werkstätten besucht hatte.
Ada machte sich draußen zu schaffen. Bertrand, der Sohn, hatte sich verabschiedet. Er war mit den Negern in eine große Versammlung junger Leute gegangen; es galt etwas zu beraten für die nächstfolgenden Wochen, wovon wir noch besonders hören werden. So waren denn die Alten allein.
»Er ist stattlich herangewachsen, Euer Sohn!« sagte Ruben, als die jungen Leute eben das Zimmer verlassen hatten.
»Und er macht uns viele Freude,« antwortete Beatrice.
»Eine liebe Tochter ist wie ein blühender Blumengarten ums Haus her,« sagte Rahel, »aber ein treuer Sohn ist ein gebahnter Weg in weite Ferne.«
»Ja, wir denken oft unwillkürlich auch an ferne Zeiten,« sagte Kuno.
»Wenn man Kinder hat, so kann man nicht so kurzweg abschließen mit dem Leben; der Blick schweift weiter hinaus.«
»Und wie gut ist es, wenn er nicht zu schweifen braucht, sondern ein gewisses Ziel hat,« bemerkte Otto.
»Ja,« versetzte Beatrice, »wie oft sorgten sich unsere Eltern in den bösen, unruhigen Zeiten unserer eigenen Jugend ab, wie es mit ihren Kindern noch gehen werde.«
»Das ist ja freilich nun auch alles anders geworden,« sagte Kuno; »eine gerade Bahn, ein freier, offener Weg, eine glückliche Zukunft liegt jetzt vor uns und unsern Kindern. »Ja, es ist alles ganz anders geworden.«
»Was lernt Bertrand denn gegenwärtig?« frug Rüben.
»Nun, gelernt hat er bisher schon alles mögliche auf den Schulen; es geht ja in der Hauptsache nach freiem Trieb und eigener Begabung, seit das Ämtergedränge weg ist,« antwortete Kuno.
»Und gegenwärtig dient er seine Zeit,« fügte Beatrice bei.
»Vier Jahre, nicht wahr?« frug Rahel.
»Ja, vier Jahre,« erwiderte Kuno, »so viel ist gegenwärtig in unseren Ländern von den statistischen Ämtern als Pflichtzeit berechnet.«
»Und so lange lernt und arbeitet er nun, wie es ihm eben angewiesen wird, im öffentlichen Dienst,« setzte Beatrice bei.
»Es wird bei ihm aber mit praktischer Arbeit wohl mehr werden,« bemerkte Kuno; »wenn die jungen Leute einmal drin sind, so machen sie gerne weiter. Sind die vier Jahre vorüber, so hat er ja völlig freie Wahl in jeder Beziehung; wo die Begabung den einzelnen hindrängt, da fährt er dann fort mit Arbeit und mit Studium nach eigener Wahl. Arbeit ist ja übergenug sowohl bei uns als in der weiten Welt. Nur wenige Gegenden sind in Stadt und Land soweit voran, wie gerade wir hier; besonders Bauhandwerk und Kunstgewerbe haben alle miteinander noch eine ganze Menge Arbeit vor sich.«
»Solche wird überhaupt nie ausgehen,« erwiderte Ruben, – »Straßenbauten und Verkehrswege, Brücken und Tunnel, aber auch öffentliche Paläste, wie private Wohnhäuser werden ja noch in Jahrhunderten überall auch bei uns immer neu gebaut werden. Was haben wir nicht diesmal wieder alles mögliche Neuerstandene auf unserer Reise hierher gesehen!«
»Man meint, die Menschheit wäre ein Ameisenhaufen geworden,« lachte Kuno, »alles zusammenzuschleppen, um sich ihre Wohnungen zu bauen und herzurichten.«
»Ist es nicht wirklich schön,« bemerkte Beatrice, »daß unsre Jugend auf Jahre hinein gerade solch einen Beruf haben kann, wie Jesus von Nazareth ihn einst in seiner ganzen Jugendzeit hatte, er, der unser Vorbild ist in allen Dingen?«
»Das ist auch wahr,« erwiderte Otto, »und man meint es den Leuten anzuspüren, daß sie selbst so denken; geht nur einmal hinaus in die oberhalb der Stadt bei den Steinbrüchen gelegenen Werkplätze der Steinhauer oder in die Sägewerke und Zimmermannswerkstätten nahe beim Waldgebirge.«
»Und wie wertvoll ist es,« rief Kuno, »daß unsre jungen Leute in praktischer Arbeit, zum Teil geringster Art, sich Jahre hindurch versuchen und üben! Sie lernen da Geschick und Gewandtheit, sie können Fleiß und Ausdauer beweisen, Gehorsam bewähren und Kameradschaft üben lernen. Der Gemeinsinn fürs große Ganze wird geweckt und erzogen, man lernt sich große Ziele stecken und erhabene Mannesideale erfassen.«
»Gerade wie in alten Zeiten der Militärdienst das hat bewirken sollen,« sagte Otto bestätigend.
»Jawohl,« antwortete Kuno, »so werden sie ja auch hierhin und dorthin kommandiert, ganz nach Bedürfnis, und müssen sich vier volle Jahre zu jeglichem Dienst bereit finden lassen.«
»Sollte das nicht ein vollgiltiger Ersatz für den alten Militärdienst sein?« rief Ruben.
»Ganz gewiß, wo nicht mehr,« bestätigte Otto, »das sieht man auch allerorten den jungen Leuten an. Ihre Pflichtjahre sind ihnen die schönste Zeit ihrer Jugend; davon ausgeschlossen zu sein, wäre ihnen ein Schmerz und eine Schmach; diese Zeit auszunützen, um Tüchtiges zu lernen und volle Manneskraft zu entwickeln, ist ihr höchstes Vergnügen.«
»Ja, das ist wahr,« sagte Gertrud, »und Frohsinn und Frische ist auch dabei und treibt die schönsten Blüten.«
»Und für Wagemut und Heldensinn giebt es auch noch einen Platz in der Welt, nicht wahr?« sagte Beatrice.
»Das will ich meinen, das will ich meinen!« rief Otto. »Schaut unsre öffentlichen Großbauten an, oder denket an die Arbeiten im Gebirge, an die gewaltigen Brückenbauten und an jene großartigen Pläne der Neuzeit zur Fruchtbarmachung der Wüsten in Afrika und in Asien überall!«
»Dabei haben die jungen Leute aber dennoch vollste Entwicklungsfreiheit,« sagte jetzt Kuno. »Treibt einen der Geist in die Stille, so kann er ja aussetzen, monatelang und selbst ein ganzes Jahr lang; auch kann jeder mit seinen Pflichtjahren früher oder später anfangen, ganz wie er will.«
»Das Gleiche ist es mit ihren Studien vorher und ihren Arbeiten nachher,« ergänzte Beatrice. »Wie Du vorhin sagtest, Kuno! seit das Ämtergedränge weg ist, ist es überhaupt eine ganz andere Art und Weise des Lernens und Studierens; unser Sohn blieb lange Zeit fast an einer einzigen Wissenschaft hängen, an der Astronomie, ähnlich wie sein nächster Freund an der Chemie. Das war ihm nun einmal eine fast heilige Sache innersten Triebs, eine Art stiller Gottesanbetung in der Natur, möchte ich sagen. Ein anderer erschaut in etwas anderem die Antwort aus das ahnende Suchen seines Geistes und das drängende Fragen seiner innersten Seele; aber ›kaum ließe sich einer finden,‹ schrieb Bertrand gestern einem Freunde, – er las es mir vor –, ›kaum ließe sich einer finden ohne das Bestreben, über die stillen Tiefen der eigenen Seele den offenen Spiegel der allheiligen Natur hinzuhalten, damit der ahnende, sehnende Geist irgend ein Gottesbild darin erschaue und, dann niedertauchend in seine eigenen Tiefen, seinerzeit mit frischen Urkräften emporkomme fürs praktische Leben!‹«
»Jugendlich phantastisch ausgedrückt,« lächelte Ruben zu der glücklichen Mutter hinüber, »aber gar nicht übel!«
»Unsre jungen Leute haben durchaus nicht mehr Wissen,« ergänzte der Vater, »nicht einmal mehr Wissensdurst, als man es früher auch hatte, aber, dünkt mich, mehr Seelentiefe, mehr Geistesmächtigkeit innerlich im Bergwerk des eigenen Selbst, im still verborgenen Naturgrund der Seele.«
»Und das ist eine große Hoffnung für die Zukunft unseres Geschlechts,« nickte Rahel.
»Ja,« sagte Otto, »es sind nicht mehr abgearbeitete, übermüdete Geister, oder gar eckelgearbeitete, faulgewordene junge Leute, sondern ausgeruhte und doch nie ruhende, immer nach Wahrheit, mehr als nach Wissen dürstende Seelen; nicht immer nur lernend oder übervoll, aber nie leer oder gar abgestumpft, durchaus nicht tiefgelehrt, aber tief und gelehrig, tief angelegt und tief erfassend. Ich bins ganz gewiß: das ist ein Weg, die Menschennatur überhaupt immer mehr zu veredeln von Geschlecht zu Geschlecht, und die Tiefen der Natur, die Weiten des Menschengeistes immer mehr zu öffnen für den allwaltenden Gottesgeist, immer vollkommener zu bereiten für geniale Erkenntnis, wie für schöpferische Thatkraft.«
»Man kann es eigentlich dem ganzen Volk ohne Ausnahme schon anspüren, was dieses völlig veränderte Erziehungs- und Arbeitsleben ausmacht,« bemerkte jetzt Gertrud.
»Jawohl,« antwortete Kuno, »darum sind auch die verschiedenen ›Stände‹, – um mit den Begriffen früherer Zeiten zu reden –, einander schon um vieles näher gekommen. Und da haben allerdings unsre lieben Frauen auch ein großes Verdienst, weil sie die Mädchen des einfachen Volks in die Häuser nehmen und eben nicht nur für eigene strenge Arbeit gebrauchen, sondern mit Liebe und Treue, mit mütterlichem Wesen und wirklichem Freundschaftssinn, auch mit einem Zeitaufwand durchschulen und erziehen, – ja wirklich zu sich heraufziehen, wie man es früher in den alten, putzsüchtigen und hoffärtigen Zeiten gar nicht kannte und fertig brachte.«
»Die Familie,« erwiderte Ruben, »das Familienleben, – das ist ja doch eigentlich die ganz einzige Macht, welche von Mensch zu Mensch bis in die Tiefe der Seele hinuntergreift, so daß ein Mensch dem andern wirklich vom eigensten Selbst etwas geben und etwas entnehmen kann. Die Schule lehrt, die Familie aber bildet; oder meinetwegen auch die Schule bildet, aber die Familie erst macht wirklich geistverwandt. Ehre den Frauen, Kuno! – Ehre den Frauen!« wiederholte er noch einmal, auch mit Otto anstoßend.
Die beiden Angeredeten grüßten die Frauen und die Hauswirtin mit freundlichen Blicken, und Kuno mit seinem warmen Herzen faßte die Hand seiner Beatrice. Die Frauen erwiderten mit fröhlichen Blicken den Gruß der Männer in der Runde.
»Aber da müßt Ihr Männer,« sagte jetzt Beatrice, »uns Frauen immer wieder das Herz stärken und die Pflicht einschärfen, diesen unsern Beruf ganz besonders eifrig zu erfüllen und geradezu aufzusuchen, wo wir nur immer können.«
»Ja, das wollen wir auch!« sagte Otto.
»Und so weit sind wir jetzt doch gekommen,« bemerkte Kuno, »daß ein Mädchen unter Männern, auch unter jüngeren Männern heutzutage einfach gar nichts gilt, wenn sie nicht den Frauenberuf und alles, was zum Frauenberuf gehört, durch und durch kennt und zu ihrem Lebenselement gemacht hat. Heim gehört die Frau, heim in die Stille des Hauses und heim in die Arbeit des Hauses!«
»Jawohl,« sagte Ruben, »heim in die Stille des Hauses und heim in die Arbeit des Hauses. Auf der andern Seite ist es aber doch schön, daß der Frau jetzt eine Menge kleiner Pflichten – ich will nicht sagen: abgenommen, aber ganz bedeutend erleichtert sind, welche früher vieles in ihrem Leben kümmerlich machen konnten.«
»Gewiß,« eiferte Kuno, »aber ›zu Hause‹ muß sie sein in allen Hausfrauengeschäften klein und groß, durch und durch ›zu Hause‹!«
»Gut,« erwiderte Beatrice, »das zweifelt heutigen Tages keine rechte Frau und kein rechter Mann mehr an; wir verlangen alle, daß ein Mädchen etwas anderes ist als ein Schmetterling und ein Windflügel, und eine Frau etwas anderes, als ein Pfau oder eine vornehm sein wollende Nichtsthuerin. Aber das ist doch auch schön, daß, wie das Leben wieder einfacher und damit häuslicher, so auch die Arbeit vereinfachter und damit das Leben schöner geworden ist.«
»Allerdings!« sagte Otto, »wir würden da einfach lachen, wenn heutzutage jeden Mittag und jeden Abend alle Schlöte aller Häuser rauchten und rußten, wie das früher war, und wenn wieder alle Wohnräume von Küchenqualm und alle Küchen vom Eifer der Frauen über ihren Mägden voll wären, wie das früher meist gewesen ist.«
Die ganze Gesellschaft lachte herzlich und Kuno fuhr fort: »Jawohl, da ist es doch jetzt viel gescheidter, billiger und einfacher: man sagt sich miteinander hier oder dort in einem Speisehaus telephonisch an, oder das bestellte Essen kommt auf den Kleinschienen vors Haus angefahren, wird mit dem Filzkasten abgenommen, und die kostbare Zeit ist gespart für die vielen einzelnen Haushaltungen und unsre lieben Frauen.«
»Gewiß, ganz gewiß!« sagte Ruben, »und sicherlich gerade dadurch haben sie es auch viel leichter, sich auf bestimmte Zeiten – darf ich so sagen, Ihr lieben Frauen? – einmal recht in den Kampf zu werfen und oft eine ganze Reihe Mädchen miteinander im eigenen Haus in den edlen Künsten, den Tisch recht schmackhaft zu machen, hochweislich und hochpreislich zu unterrichten, nicht wahr?«
»So ist es,« sagte Beatrice, »und dann ist es auch eine Lust, zu arbeiten! Man weiß nun doch, wofür man arbeitet, wofür man kocht, wäscht, bügelt, striegelt und was so unsre Hausfrauenherrlichkeiten alles sind. Und dann nachmittags das Feinere,« lachte sie, »nähen, stricken, häkeln, flicken und dergleichen höhere Wissenschaften. Und hier eine Negerin, dort eine Tochter des früheren Taglöhners, des jetzt so netten Mannes! Gieb acht,« lachte sie wieder, »nächstes Jahr thue ich mir vielleicht noch eine Chinesin und eine andere Asiatin ein, überhaupt aus jedem Weltteil mindestens eine.«
»Immer zu!« lachte ihr Gatte, »soll mich herzlich freuen, Generalbevollmächtigte mit Kochlöffelscepter und Nadelorden!«
»Bitte, Orden werden nimmer ausgeteilt, lieber Mann!«
»Aber Spaß beiseite!« antwortete Kuno wieder ernst, – »wenn wir an die alten Zeiten denken: wie ist doch der ganze Gesellschaftsaufbau heutigen Tages ein viel vernünftigerer, als früher! Erinnert Ihr Euch auch noch, wie in unsrer Jugendzeit die Handwerksmeister lebten, die zwanzig Schuhmacher und fünfzehn Schneider, die zehn Schreiner und die zwölf Bäcker, Metzger u. s. w? Alles im Kampf miteinander und zwar gerade jedesmal die Herrn »Kollegen« unter einander am allermeisten, – wie sie sich da gegenseitig die Preise drückten oder etwa auch zum Zweck des Gegenteils im Komplott miteinander standen, dem hochgeehrten Publikum zum Schaden; aber auch dann meist voll Neid gegen einander oder mindestens in der Sorge vor einander, der eine möchte den andern ums liebe Brot bringen, und zwar oft ganz ohne Schuld, allein schon damit, wenn er den Zulauf hatte und die bessere Kundschaft, während der andere darbte und dann, um so mehr gering geachtet, es zu gar nichts mehr bringen konnte. So war es ja eigentlich überall in Stadt und Land, schließlich in jedem Dorfe, und man wußte sich nicht zu helfen aus diesen Zuständen heraus. Die alten Innungen halfen nicht, das System freier Konkurrenz half erst recht nicht, und alle möglichen immer neuen Vorschläge und Bemühungen halfen eigentlich auch nicht sehr viel.
Wie ganz anders sind jetzt die Zeiten geworden! Der ganze Gewerbebetrieb ist nicht mehr Sache des einzelnen, sondern der Gemeinde, wie aller Großindustriebetrieb Sache des Kreises, beziehungsweise der Landschaft oder gar des ganzen Landes, in letzter Linie und mit seinen höchsten Gesichtspunkten alles Sache des Staats, des großen Staatenbundes und des allgemeinen Völkerbundes ist. Die Pflichtjahre unserer Jugend reichen jetzt hin, um die gewerblichen Arbeiten in der Gemeinde durch lauter junge Kräfte zustande zu bringen. Alles, was dazu gehört, schaffen nun unter der Leitung bewährter Männer und tüchtiger Lehrmeister die jungen, frischen Kräfte unserer Jugend, welche heranwächst in allezeit fröhlicher, frischer Arbeit, ohne das einstige Jagen und Rennen nach Verdienst, ohne jenes Kämpfen und Ringen um Erwerb, vielmehr in idealer Begeisterung, zu lernen und sich tüchtig zu erweisen für das gemeine Wohl. Weißt Du noch, Otto, wie das war, wenn wir in jungen Jahren uns etwas »anmessen« lassen wollten und man dazu den Handwerksmeister kommen ließ, – wie er da einherkam, sichtlich erfreut, daß auf ihn die Wahl gefallen war, während der andere, vielleicht sein nächster Nachbar, hinter seinen niederen Fensterchen ›das Nachsehen hatte,‹ wie man zu sagen pflegte?«
»Ja,« bemerkte Gertrud, »und wie man sich oft abquälen mußte, etwas ausgebessert zu bekommen, wenn einen der Schuh drückte, oder wenn ein Kleid zerrissen war!«
»Wie bequem hat man es jetzt mit allen Reparaturen!« sagten die Hausfrauen zusammen.
»Allerdings!« erwiderte Otto, »jetzt telephoniert man in die untere Stadt, und sofort wird aus den Werkstätten einer von den jungen Leuten entsandt, welcher das betreffende abholt, um es so schnell als möglich fertig wieder zurückzubringen; es ist jedesmal eine wahre Freude, den jungen Leuten anzusehen, welche Ehre sie darein setzen, sofort jeder Familie zu Diensten zu sein und alles schnell zu besorgen.«
»Und wie glatt läuft es mit allen Hausreparaturen!« sagte Beatrice. »Weißt Du das auch noch, Kuno, wie unser Hausbesitzer, bei dem wir in der Miete waren, meine Mutter und mich quälte, wie er uns oft warten ließ auf die notwendigsten Verbesserungen oder auch einfach es verweigerte, dies oder das machen zu lassen, so daß man mit den ärmlichsten Kleinigkeiten und Peinlichkeiten oft alle Tage geplagt war?«
»Nun,« antwortete Kuno, »er konnte eben oft auch selbst kaum anders. Es mußte in der damaligen Zeit ja alles in der Welt, ›rentieren‹; wovon sollte er leben? Sein Hausbesitz aber rentierte in schlechten Zeiten eben auch sehr schlecht, dann mußten es die Mieter büßen. Und so ging es durch alles hindurch.«
»Ja,« bemerkte Otto, »und wenn das jetzt nicht so geordnet wäre, daß alle Häuser in Stadt und Dorf von der Gemeinde aus straßenweise alljährlich gründlich durchgenommen werden, dann hätten wir es auch jetzt noch nicht so gut, als wirs nun haben. Denn es kann doch nicht jedermann alles das verstehen, was zum Hausbau und zur Erhaltung eines Hauses gehört, um zeitig jeden Schaden zu bemerken und sachgemäß zu beurteilen. Dafür ist eine sachverständige Leitung fürs Ganze nötig, welche stets von selbst eingreift. Was dann von kleinen, einfacheren Reparaturen noch nötig wird, welche sich uns das Jahr über in den einzelnen Fällen als Bedürfnis offenbaren, so sind diese immer nur unbedeutenderer Art. Jedenfalls ist bei der regelmäßigen Aufsicht über das Ganze in solchen einzelnen Fällen dann um so schneller abgeholfen. Man weist die Werkstätten an, und es wird sofort nachgesehen und alles nötige ausgeführt. Diese auswärtigen Arbeiten sind den jungen Leuten der Werkstätten sogar besonders lieb. Sie lernen bei diesen Gängen allerlei Arbeit selbständig anfassen, und der Verkehr mit allen möglichen Familien, der sich da giebt, schult sie auch sonst, in Anstelligkeit und guter Sitte und auf die mannigfachste Weise.«
»Das alles,« versetzte Kuno, »hängt doch unmittelbar zusammen mit den völlig veränderten Besitz- und Eigentumsbegriffen, welche in der neuen Weltzeit allerorten zur Herrschaft und alleinigen Geltung gekommen sind. In früheren Jahrhunderten war der Privatbesitz in fast schrankenloser Oberherrschaft über alle gemeinsamen Interessen, eigentlich das heiligste, was es in der alten Gesellschaftsordnung gab. Daher auch die Strafen für Diebstahl und Entwendung streng und unerbittlich, übrigens bezeichnenderweise für groben Diebstahl vielfach viel strenger, als für irgend welche raffinierte Kniffe, Privatbesitz sich zu schaffen und zu vermehren auf jede erdenkliche Weise. Ein grober Diebstahl konnte oft so streng bestraft werden, daß damit ein ganzes Leben moralisch eigentlich vernichtet war, während zum Beispiel selbst der Angriff auf Leben und Gesundheit, also Körperverletzung und sogar Totschlag, mit allem möglichen beschönigt oder entschuldigt, vielfach so gering bestraft wurde, daß das moralische Gefühl und das öffentliche Gewissen dadurch aufs tiefste verletzt wurde. Heutigen Tages wird das Eigentum auch noch heilig gehalten, aber es hat und braucht gar nicht mehr diese turmhohen Schutzmauern unerbittlich harter und oft übermäßig langer Freiheitsstrafen, weil der Privatbesitz ganz und gar anders geregelt ist, als das in früheren Jahrhunderten der Fall war, so daß die Spannung zwischen Reich und Arm, zwischen Überfluß und Darben gar nicht mehr existiert.«
»Ganz richtig!« erwiderte Otto. »Bei aller Mannigfaltigkeit des Lebens ist es nicht mehr der krasse Unterschied in der Besitzfrage, welcher alles regierte. Jetzt ist die Gemeinschaft der Menschen die Eigentümerin für alles, früher war es der einzelne. Damit sind die Menschen an die Gemeinschaft gebunden und für die Gemeinschaft um ihrer selbst willen aufs höchste interessiert. Früher waren sie es meist nur für sich selbst und die Ihrigen, höchstens etwa noch für besondere Interessengemeinschaften, für das große Ganze aber mehr nur nach dem Maß der eigenen Interessen daran. Denn damals war es jener grause Kampf ums Dasein und eben damit vielfach ein Niederkämpfen anderer, – alles nur darauf aus, zu eigenem Besitz zu kommen, ihn zu sichern, zu mehren und zu vererben. Heute giebt es überhaupt kaum ein Erbrecht mehr, der Privatbesitz besteht eigentlich nur noch im Sinn der Bequemlichkeit für beide Teile, für den Einzelnen sowohl als für die Gemeinschaft, weiter aber nicht mehr. Die Gemeinden bauen die Häuser und richten sie in der Hauptsache ein, nicht der einzelne; die Gemeinde sorgt dabei für möglichste Mannigfaltigkeit der Wohnungen, nicht etwa der einzelne für sich; der einzelne bewirbt sich, wenn er selbständig wird und eigenen Hausstand gründen will, um einen Wohnsitz; er kann ihn aber überall haben, hier oder dort, und zwar frei, nicht um Geld oder Geldeswert, sondern entweder direkt zugewiesen oder ausgelost zwischen zweien oder dreien, und zwar entweder in der eigenen Gemeinde oder in einer anderen, auch in einem anderen Landesteil oder in einem ganz anderen Lande, (gegen Austausch mit der betreffenden Gemeinde und dem betreffenden Land,) alles im Sinn des »Lehens« von Staat und Gemeinde oder des »Erbpachts« für sich und die Seinen, wenn man überhaupt so sagen will. Nie jedoch kann einer ohne besondere Gründe mehr als ein, höchstens zwei Häuser besitzen und nie mehr als zehn, höchstens zwanzig Morgen Landes, und zwar immer nur im engsten Umkreis des zugehörigen Hauses. Dagegen kann er ja jederzeit tauschen, und viele Familien machen sich selbst und einander gegenseitig das Vergnügen, mit Wohnung und Wohnort für immer oder auf Zeit einen Tausch einzugehen. Wer mag auch nur immer in der Stadt wohnen? Wenn die Kinder älter werden, wenn ihre Schuljahre und die Pflichtjahre vorüber sind, bezieht man doch ohnedem gerne irgend eine der mehr auf der Höhe gelegenen Wohnungen. Bei unsern mannigfaltigen und bequemen Verkehrsmitteln fehlt es ja dabei doch nicht an dem wünschenswerten Verkehr mit anderen und mit der größeren Gemeinschaft der Menschen. So ist es auch ganz leicht zu machen, daß zum Beispiel verheiratete Kinder in die nächste Nähe ihrer Eltern zu wohnen kommen, und daß oft sämtliche Angehörige einer großen, weitverzweigten Familie in der lieblichsten Weise als Gutsnachbarn nahe beisammen wohnen. Dennoch aber bleibt es dabei, daß alles Gemeindebesitz ist, für die einzelnen nur Lehensbesitz, höchstens Erbpacht auf besonderen Antrag, aber ohne jegliches eigentliches Vererbungsrecht im Sinn des Privatbesitzes und Familienbesitzes auf Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinaus. Wer stirbt, dessen Gut, das heißt Haus und Hof oder Garten, geht an Staat und Gemeinde über, sein ›Geld‹, wenn man unsre ›Scheine‹ noch so heißen will, verliert Giltigkeit und Wert; alles ist im freien Fluß der strebenden Kräfte, in lebendiger Beziehung der Lebenden untereinander, und so soll es auch sein.«
»Ganz wie die Schrift sagt: ›Wir haben nichts in die Welt gebracht, wir werden auch nichts hinausbringen‹,« sagte Beatrice.
»Jawohl,« antwortete Otto, »dieses Wort hat man früher angesehen als ein Wort heiliger Entsagung oder aber bitteren Armutszwangs, jetzt gilt es als die ganz natürliche Grundlage für alles Bestehende und rechtlich Geltende in der Gesellschaft der Menschen.«
»Früher hat man auch gemeint,« erwiderte Kuno, »bei solchem Zustand werden die meisten träge und deshalb schließlich alle gleichgiltig werden gegen Arbeit und Erwerb, Fortschritt und Weiterentwicklung. Und jetzt ist doch gerade das Gegenteil der Fall. Ganz natürlich auch! Es ist ein freudiger Wetteifer aller fürs ganze erwacht, und das überall rege geistige Leben weckt und spornt auch den einzelnen, läßt keinen unbeeinflußt oder dahinten bleiben. In der gewerblichen und allseitigen Weiterentwicklung des Ganzen wissen sich zugleich die einzelnen glücklich und in ihren eigensten Interessen aufs höchste gefördert und befriedigt. Besonders die Pflichtjahre der Jugend werden in einem Maße ausgekauft, daß es kein Wunder ist, wenn die Mehrzahl der Menschen nachher stille für sich leben kann. Ein wahrer Reichtum von Beschäftigung jeder Art bietet sich dann ja doch noch jedem dar, die öffentlichen Ämter aber sind freie Ehrenämter, herauswachsend aus der innersten Begabung einzelner, welche zugleich praktische Erfahrung dafür schon gewonnen haben und eigenen innersten Antrieb dazu verspüren. Wer nämlich in der praktischen Thätigkeit für das Ganze bleiben will und zugleich ein gründliches Wissen, eine besondere Gabe der Mitteilung und des belehrenden, bildenden Einflusses auf andere hat und bewiesen hat, der kann einen solchen Beruf bekommen. Doch ist auch dann niemand auf die Länge dazu gezwungen oder an einen besonderen Beruf und ein gegebenes Amt für immer äußerlich gebunden.«
»Das ist überhaupt unser größtes Glück,« sagte Otto, »daß in der neuen Weltzeit nicht mehr die Sorge ums liebe Brot dem Menschen den Beruf aufnötigt und dann ihn in dem Beruf festhält, sondern daß jedermann freie Wahl hat und behält. Wie schon in der Schul- und Studienzeit nicht mehr das unselige Gedränge ist, welches früher bestand, sondern alles mehr dem eigenen inneren Walten und Entfalten des Geistes überlassen bleibt, so ist auch nach der jetzt vierjährigen Dienst- und Pflichtzeit, bei allen sittlichen Pflichten und bei allem Ehrgefühl für Staat und Gemeinde, doch dem einzelnen immer freie Wahl gelassen. Laune und Unbeständigkeit ist ja nie etwas gutes, aber festgebannt sein in einen bestimmten Beruf hinein, das wäre auch nichts Vollkommenes. Einen ›Beruf‹ haben heißt doch ›berufen‹ sein, und zwar nicht bloß von Menschen, sondern vor allem durch inneren Ruf und Trieb, also auch nicht so, daß man in denselben hineingebannt und daran gefesselt wäre, sondern vielmehr so, daß der Beruf innerer Beruf ist und bleibt und äußerer Beruf nur solange bleibt, als er innerer Beruf ist; oder anders ausgedrückt: daß man in seinem Beruf immer wächst und vorwärts kommt, und zwar wieder nicht etwa bloß durch eine höhere Stufe und ein höheres Amt, was man früher fast einzig und allein als das rechte Vorwärtskommen ansah, sondern durch inneres Wachstum, durch ein Sichweiterentwickeln der innersten Seele, des eigenen Geistes. Der äußere Beruf darf nicht zur Fessel werden, welche die Entwicklung des Geisteslebens hemmt oder einengt. Des Menschen wahrer Beruf ist das, inneres Leben zu erzeugen und dieses sein inwendiges Leben zur That werden zu lassen, und das muß allezeit möglich sein und bleiben im äußeren Beruf, sonst ist es um diesen ein sehr unvollkommenes Ding; er ist dann nur ein Äußerliches und nicht mehr eigentlich Beruf.«
»Allerdings,« antwortete Kuno, »und es ist ja doch nicht nur Laune und wetterwendisches Wesen, nicht bloße Unbeständigkeit oder Mangel an Thatkraft, wenn in uns das Bedürfnis sich regt, einen äußeren Beruf zu verlassen und sich für einige Zeit oder auf immer zurückzuziehen. Es ist doch oft gerade auch eines thatkräftigen Mannes innerstes Sehnen, von Zeit zu Zeit wieder in die Tiefen des Geisteslebens sich zurückzuziehen, und dem eigenen Sinnen und Streben innerlich Raum zu geben. Man wird dadurch noch lange nicht etwa lahm und bequem, sondern man wird so gerade wieder jung und frisch; das Leben geht nicht einen zu mechanischen Gang, sondern es regen sich neu die innersten Kräfte der verborgenen Natur und der eigensten Begabung. Darum gehört diese Freiheit notwendig zu einem idealeren Leben; sie am allermeisten giebt uns neue Kräfte und ewige Jugend!«
»Aber, Ihr Männer!« sagte Gertrud, »das giebt ja eine ganze Philosophie, – wo will das hinaus mit unserer Unterhaltung? Denket auch an unsre Freunde von Jerusalem!«
»Ich bitte Dich!« rief ihr Gatte, – »sind das nicht die wichtigsten Lebensinteressen für uns alle, ist das nicht auch ein Lobpreis des gütigen Gottes, der alles wohlgemacht hat? Und zugleich ist es eine Erinnerung an das Seufzen der Kreatur in der vergangenen Weltzeit, welche wir, die ›Gesegneten des Herrn‹, dankbar zu bewahren verpflichtet sind.«
»Ja, ganz gewiß!« rief jetzt Ruben. »Und gerade wir beide, Rahel und ich, haben mit besonderer Freude zugehört. Ihr Europäer seid voran, wir halten kaum schon gleichen Schritt in dieser herrlichen Entwicklung.«
»In Euren Ländern,« antwortete Otto, »sind alle diese Kulturfragen nie so schroffe Kampfes- und Entscheidungsfragen gewesen, wie bei uns zu Lande, – selbst im letzten Jahrhundert nicht so sehr. Euer mehr patriarchalisches Lebenssystem, die größere Fruchtbarkeit des Bodens und die geringere Bevölkerung, welche dazu noch mit dem einfachsten zufrieden ist, – alles bringt es mit sich, daß Kulturfragen dieser Art bei Euch von jeher weniger zu herben Kämpfen und schroffen Gegensätzen geführt haben und auch jetzt auf viel einfachere Weise sich lösen, so daß der Gegensatz von einst und jetzt in diesen Fragen bei Euch nicht so schroff ist und nicht so schnell offenbar wird.«
»Immerhin!« antwortete Ruben, »aber nur um so mehr regt es uns immer neu an, wenn wir näheres von Euch darüber hören.«
»Und uns umgekehrt,« sagte Kuno, »kommt jedesmal, wenn Ihr Jerusalemiten wieder bei uns seid, die Erinnerung an die alten Zeiten, an unsre gemeinsam verlebte Jugend und damit an die ›Tage der geringen Dinge‹, wie sie vor alters gewesen sind. Wer könnte auch anders, als davon reden, so oft wir uns wiedersehen!«
»Und mit Recht!« sagte Rahel, »wir verstehen Euch wohl; es ist auch wirklich eine ganz andere Zeit geworden; es ist jetzt wahr geworden, was Jesajas vom Arbeitsleben der messianischen Zeit sagt: ›Sie werden Häuser bauen und bewohnen, sie werden Weinberge pflanzen und deren Früchte auch essen; sie sollen nicht bauen, daß es ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, daß es ein anderer esse, sie sollen nicht umsonst arbeiten‹, – mit einem Wort: es ist ein frisches, erfolgreiches, nicht mehr mühseliges Arbeitsleben geworden, so daß ein jeder das Ziel seiner Lebensarbeit wirklich auch erreicht. So ist es verheißen und so ist es auch wahr geworden.«
»Du hast recht, Rahel!« sagte Gertrud jetzt, mit herzlichem Grüßen zu Rahel hinüberwinkend.
»Jawohl hat sie recht,« rief Otto, – »jetzt heißt es nicht mehr: im Schweiß Deines Angesichts sollst Du dein Brot essen! Die Arbeit ist noch da, so reich als je steht das Arbeitsfeld der ganzen Menschheit offen auf allen Lebensgebieten, und der Segen der Arbeit ist auch reichlich da, so reich als je einmal, dagegen der Fluch der Mühsal ist weg, – gelobt sei Gott, der Fluch ist weg!«
»Ja, der Fluch ist weg,« sagte Beatrice, »weg ist die Plage für viele Tausende, alle die Mühsal des Lebens ohne Ende und ohne Erfolg, die verlorenen Hoffnungen für viele Millionen; das ist das Große und Herrliche in unsrer Zeit!«
»Dazu gehört auch,« erwiderte ihr jetzt Ruben, »daß viele der unzähligen geistlosen Berufsarbeiten nicht mehr unter uns sind, welche man mit einem Wort Kontrollarbeiten nennen kann; sie wurden einst zu den geistigen Beschäftigungen gezählt und waren doch die geistlosesten und geisttötendsten, die man sich denken kann.«
»Ich stimme ganz mit Dir überein,« sagte Kuno; »sie sind ja vielfach auch jetzt noch unentbehrlich, – zum Beispiel auf allen unseren statistischen Ämtern, im weiten Gebiet des wirtschaftlichen und industriellen Lebens. Aber sie existieren mehr nur, soweit sie Geist sind und Geist entwickeln, und beschäftigen nicht mehr ein und denselben Menschen für sein halbes oder ganzes Leben, sondern vor allem unsere Jugend in den Pflichtjahren auf einige Zeit, um zugleich Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit zu lehren, scharfes, klares Denken und festes Erfassen für kühnen Willensentschluß, – ferner berufsmäßig auch in reiferen Jahren noch, dann jedoch nur solche Leute, welche innersten Beruf dazu haben, in solchem Fall aber auch eine reiche Geistesarbeit daraus machen, der Menschheit im ganzen zum größten Nutzen, – so wie es also z. B. Dein Mann treibt, liebe Gertrud, in unsrem Landesversorgungsamt.«
»Im kleinen wenigstens, für die Gemeinde und den Kreis,« warf Otto bescheiden ein.
»Ja,« sagte Ruben, »dagegen die vielen kleinen und kleinlichen Dinge mannigfacher Kontrollarbeit sind jetzt weg, weil der Staat seinen Organismus nicht mehr auf den Zwang und nicht mehr auf das System des allgemeinen Mißtrauens und der dabei nötigen Kontrolle, klein und groß, kreuz und quer, aufbauen muß, sondern auf Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit. Damit ist doch alles ganz anders geworden.«
»Gewiß,« sagte Otto, »und jetzt muß mir meine Frau erst noch einmal gestatten, ein Stückchen ›Philosophie‹ zu treiben, wie sie es nannte. Denn an keinem andern Beispiel kann man das, was ich vorhin sagte, besser beweisen, als an dem von Ruben erwähnten. Oder sagt doch selbst: wie viele einseitige Leute, steife Menschen, verknöcherte Figuren gab es früher in den vielfältigen Berufsarten des alten Staatslebens, – alles doch eigentlich Erzeugnisse seines Bureaukratismus! Und war das ein Wunder? Wenn überhaupt die Menschenseele etwas Lebendiges ist, so muß sie doch lebendig bleiben dürfen in dem Beruf des Menschen und durch diesen. Wenn dieser aber nicht Geist ist, wenn der Mensch außerhalb seines Berufs, neben demselben, geistiges Leben und geistige Erholung suchen mußte, wenn er seinem Beruf fast entfliehen mußte, um eigentliche Geistesnahrung zu haben, war das wirklich das Richtige? Wenn das Amt jahraus jahrein einen zwar wohlgeordneten, weise überdachten Beruf vorschrieb, aber doch zugleich in zu enge Grenzen fesselte, in zu gleichmäßige Bahnen einzwängte, war das gut? War das wirklich gut?»
»Es war nicht wohl anders zu machen,» sagte Gertrud, »und jede Arbeit ohne Ausnahme kann doch in sich selbst ihren Segen haben, aber gut war es freilich so nicht, und insofern gebe ich Dir durchaus recht mit dem, was Du gesagt hast.»
»Ja,« erwiderte Otto, »und unsere Freunde von Jerusalem sollen von mir aller Ehre wert geachtet sein: wenn auch wir Europäer den Asiaten noch bis zum letzten Jahrhundert in tausend Dingen überlegen gewesen sind, so ist es doch ein hochwichtiges Ding um das, daß wir Abendländer jetzt auch mehr das stille, verborgene Arbeiten der Seele, ihr tieferes Innenleben, das Walten und Weben des Geistes in seinen eigenen Tiefen wirklich hochhalten, höher halten, als man es in der Zeit des rast- und ruhelosen Arbeitslebens im Schweiß des Angesichts einerseits und des hastigen und sinnlichen Genußlebens in Saus und Braus andererseits zu thun pflegte. Die Menschheit ist durch Gottes Gnade – ich weiß es wohl, durch Gottes Gnade – jetzt endlich reifer geworden für ein geheiligteres Arbeitsleben, wie für eine heilige Ruhe in Gott.«
»Der Sabbath ist angebrochen, der große Sabbath des Volkes Gottes!« rief Rahel.
»Jawohl,« antwortete Kuno, »die ganze Menschheit hat es erkannt: Arbeit allein thut es nicht, mit allem Rennen und Jagen nicht, auch Denkarbeit allein thut es nicht, sondern zurück zu Gott und zurück in die innersten Tiefen des Geisteslebens muß die Menschheit, in stillem Sinnen und innerem Erschauen, und zwar nicht für leere Schwärmerei und eitle Träumerei, sondern um die höchsten Ziele zu erfassen, damit die reiche Gemüts- und Geistestiefe der Menschenseele sich voll erschließe und nicht allein das sittlich-religiöse Innenleben in praktischer Ausgestaltung aller Lebensverhältnisse, sondern auch Künste und Wissenschaften jeder Art ganz neu erblühen, ganz eigenartig sich entfalten und großartig emporwachsen, wie es noch nie in irgend einer Zeit unter den Menschen so umfassend der Fall gewesen ist. Das ist jetzt unsere Losung geworden und das macht nun der Menschheit seliges Glück aus.«
»Nun muß ich aber doch noch einmal mahnen, abzubrechen, lieber Mann,« redete Gertrud dazwischen, – »es ist allzuspät geworden, und der Wagen kommt, wie ich höre, an's Haus; es ist Zeit, heimzufahren.«
»Wie schade!« sagte Beatrice.
»Wir werden uns aber doch bald wiedersehen?« rief Kuno.
»O gewiß, wie gerne!« war Rubens und Rahels Antwort, und Otto versprach dasselbe.
Bald bestieg man den Wagen, und durch die lichthelle Bergstraße abwärts fuhr man zur mittleren Stadt, dann quer durch die breite Straße, darauf die Bergstraße hinan und in großem Bogen auf die jenseitige Höhe. Draußen außerhalb der Stadt aber leuchteten die Sterne noch einmal so hell vom klaren Himmel, mit ihren lichten, freundlichen Engelsaugen die schlafende Erde grüßend.
»Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht,« sagte Rahel ganz leise zu Ruben, als er sich, ihre Hand fassend, traulich von seinem Sitze aus zu ihr vorneigte.
Nach einer halben Stunde schon war man daheim und freute sich noch lange herzlich der schönen, erquicklichen Gemeinschaft mit alten treuen Freunden. Der weithin freie Nachthimmel war anzuschauen wie ein großes, stilles Meer, wie ein offenes Thor in ferne Welten. Sein herrlicher Schimmer war dem seligen Glück der Menschheit zu vergleichen, welche jetzt am Ziel ist, sein geheimnisvolles Leuchten aber dem mächtigen Sehnen der Menschenseele nach immer herrlicheren Tiefen der Erkenntnis und nach einer noch fernen unsichtbaren Welt vollendeter, ewiger Seligkeit. Der leuchtende Nachthimmel und die frohen Augen der Menschen redeten eine Sprache: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!