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Unter Lemuren dachten sich die Römer abgeschiedene Seelen der Verstorbenen, von denen die guten als Laren, die bösen als umherirrende tückische nächtliche Gespenster und Poltergeister den armen Sterblichen beunruhigen und deshalb durch besondere Feste in mitternächtlicher Stunde nach Möglichkeit besänftigt werden sollten. Die Wissenschaft, welche bekanntlich nur auf helle Geister der Lebenden etwas gibt, bei Benennung der unendlich mannigfaltigen Naturerzeugnisse aber oft um einen Namen verlegen ist, versteht unter Lemuren zwar ebenfalls nächtliche Umherschwärmer und Polterer, aber keineswegs unfaßbare Wesen, sondern solche, welche Fleisch und Blut, mehr oder minder ansprechende Gestalt und hübsches Aussehen haben: den Kern der Ordnung, mit welcher wir uns beschäftigen, eine Gemeinschaft oder Familie der Halbaffen, welche weitaus die meisten, in den mannigfaltigsten Formen auftretenden Arten umfaßt und in viele Sippen zerfällt.
Für die Lemuren ( Lemuridae) gelten im allgemeinen die bereits mitgetheilten Ordnungsmerkmale, da die beiden übrigen Familien der Halbaffen wesentlich nur durch Gebiß und beziehentlich Hand- und Fußbau sowie Behaarung sich unterscheiden. Wie die Affen haben jene noch ein aus geschlossenen Zahnreihen bestehendes Gebiß, welches sich kennzeichnet durch kleine, in Paare getheilte, senkrecht stehende Schneidezähne des oberen, und größere, an einander stehende und etwas vorwärts geneigte des unteren Kiefers. Im Uebrigen weicht es innerhalb der Familien außerordentlich ab, und begründen gerade hierauf sich die verschiedenen Sippen, weshalb ich die Unterschiede auch erst bei Betrachtung der letzteren anzudeuten haben werde.
Das eigentliche Heimatsgebiet der Lemuren umfaßt die Insel Madagaskar und ihre Nachbareilande; außerdem treten sie in Afrika auf, über die ganze Mitte des Erdtheiles von der Ost- bis zur Westküste sich verbreitend, und finden sich einzeln auf den südasiatischen Inseln. Alle ohne Ausnahme bewohnen Waldungen, die undurchdringlichen frucht- und kerbthierreichen Urwaldungen den übrigen bevorzugend und die Nähe des Menschen, wenn auch nicht gerade meidend, so doch nicht aufsuchend. Im größeren oder geringeren Grade Nachtthiere, wie alle Mitglieder der Ordnung, ziehen sie in die dunkelsten Stellen des Waldes oder in Baumhöhlen sich zurück, kauern oder rollen sich zusammen und schlafen. Ihre Stellungen dabei sind höchst eigenthümlich. Entweder sitzen sie auf dem Hintertheile, klammern sich mit den Händen fest, senken den Kopf tief herab zwischen die angezogenen Vorderglieder und umwickeln ihn und die Schultern auch noch besonders mit dem Schwanze, oder aber, sie rollen sich dicht neben einander, ja sogar zu zwei und zwei in einander zu je einer Kugel zusammen und umwickeln sich gegenseitig mit ihren Schwänzen: stört man solch einen Haarball, so kommen plötzlich zwei Köpfe aus demselben heraus und schauen großen Auges auf die unangenehmen Wecker.
Der Schlaf der Halbaffen ist sehr leise. Schon das Summen einer vorüberschwärmenden Fliege oder das Krabbeln eines Käfers weckt viele von ihnen auf: die Ohren spitzen sich und die großen Augen spähen wie träumerisch umher, aber nur einen Augenblick lang. Denn ihre Lichtscheu ist außerordentlich groß, und ihre Augen scheinen gegen das Licht empfindlicher zu sein als die aller übrigen Säugethiere. Sie sind todt für den Tag; ihr Leben beginnt mit der Dunkelheit.
Wenn die Dämmerung hereinbricht, ermuntern sie sich, putzen und glätten ihr Fell, lassen ihre gewöhnlich ziemlich laute, nächtige und unangenehme Stimme vernehmen und beginnen dann die Wanderung durch ihr luftiges Jagdgebiet. Nunmehr beginnt ein je nach Wesen und Eigenheit der Lemuren sehr verschiedenes Treiben. Die Mehrzahl der Arten, welche wir als die am höchsten stehenden betrachten dürfen, beeifert sich zunächst, ihrem Namen Ehre zu machen, indem sie gemeinschaftlich ein Geschrei ausstößt, welches den Neuling mit Grausen erfüllen kann, weil es entweder einen unbeschreiblichen Höllenlärm verursacht oder aber an das Gebrüll gefährlicher Raubthiere, beispielsweise des Löwen erinnert. Dieses gemeinsame, grunzende Gebrüll scheint wie bei so manchen anderen Thieren den Beginn der Werkthätigkeit der Lemuren andeuten zu sollen; denn von jetzt an durchstreifen sie ihr Jagd- oder richtiger Weidegebiet mit einer Bewegungsfreudigkeit, Gewandtheit und Behendigkeit, welche man ihnen bei Erinnerung an ihre Schlafsucht während des Tages niemals zugeschrieben haben würde. Alle Kletter- und Springkünste, alle Gaukeleien, welche Affen auszuführen vermögen, werden von ihnen vielleicht noch überboten. Es scheinen ihnen Flügel gewachsen zu sein: so gewaltige Sätze von einem Zweige zum anderen führen sie aus, so rasch laufen sie an den Stämmen empor oder über stärkere Aeste dahin, so ununterbrochen bewegen sie sich in der verschiedensten Weise. Endlich erreicht die gewöhnlich aus einer bedeutenden Anzahl bestehende Bande einen Fruchtbaum und bekundet jetzt bei Plünderung desselben eine ebenso große Thatkraft wie früher beim Laufen, Klettern und Springen. Sie fressen viel und verwüsten noch weit mehr, würden also, fielen sie nach Affenart in die Pflanzungen ein, dem Menschen erheblichen Schaden zufügen. Doch ihre heimischen Waldungen sind so reich an Früchten verschiedenster Art, daß sie zu unberechtigten Eingriffen in das Eigenthum des Menschen keine Veranlassung haben.
Ganz als das Gegentheil der eben geschilderten Sippen und Arten der Familie zeigen sich andere Lemuren in ihrem Auftreten, ihrem Wesen und ihren Bewegungen. Verstohlen und mit unhörbaren Schritten schleichen sie langsam von Ast zu Aste. Ihre großen, runden Augen leuchten im Dämmerlichte wie feurige Kugeln, und sie allein sind es, welche von ihrem Dasein Kunde geben; denn die düstere Färbung ihres Felles verschwindet auch einem scharfen Blicke gar bald im Dunkel der Nacht, und die weiße Unterseite wird hinlänglich durch die Aeste verdeckt, auf denen sie dahingleiten, oder läßt höchstens an einen gebrochenen Lichtstrahl des Mondes denken. Alle ihre Bewegungen geschehen so bedachtsam und leise, daß auch nicht ein einziger Laut dem lauschenden Ohre das Vorhandensein eines lebenden Thieres vernehmbar macht.
Wehe nun dem sorglos schlafenden Vogel, auf welchen ein Blick dieser feurigen Augen fällt! Kein Indianer schleicht leiser auf seinem Kriegspfade dahin; kein blutdürstiger Wilder naht sich in furchtbarerer Absicht als der Lori jetzt seiner schlafenden Beute. Ohne jedes Geräusch, fast ohne sichtbare Bewegung setzt er einen Fuß nach dem anderen fürder und nähert sich mehr und mehr, bis er sein Opfer erreicht hat. Dann erhebt er die eine Hand mit gleicher Lautlosigkeit und Bedachtsamkeit und streckt sie leise vor, bis sie den Schläfer beinahe berührt. Jetzt geschieht eine Bewegung, schneller, als das Auge ihr folgen kann, und ehe der schlummernde Vogel noch eine Ahnung von seinem furchtbaren Feinde erlangt hat, ist er erwürgt, erdrosselt. Und nichts gleicht der Gier, mit welcher der so harmlos erscheinende Vierhänder nach vollbrachtem Morde seine Beute verzehrt. Wie der schlafende Vogel ist auch seine Brut, das Ei in seinem Neste verloren, sobald der Lori dies entdeckt. Das nächtige Wesen des Thieres zeigt sich in seiner Raubgier; es scheint, daß es Fleischnahrung ganz entschieden der Pflanzenkost vorzieht, obschon es auch diese nicht verschmäht.
Alle hierher zählenden Arten sind bedächtig und berechnend vorsichtig. Sie bewegen sich auf den Bäumen langsam, aber sicher; ehe sie einen Zweig loslassen, vergewissern sie sich stets, daß ihnen ein anderer verlässigen Halt gibt. Ihr Gang auf dem Boden ist schlecht und eher ein krötenartiges Kriechen als ein Laufen zu nennen.
Ueber die Fortpflanzung der Lemuren wissen wir immer noch sehr wenig, obgleich mehrere der höher stehenden Arten unserer Familie bereits mehrere Male in der Gefangenschaft sich fortgepflanzt haben. Diese werfen ein Junges, welches sich unmittelbar nach seiner Geburt an seiner Mutter festklammert und von ihr so lange umhergetragen wird, bis es gelernt hat, selbständig sich zu bewegen. Bei einzelnen Arten sollen nach Aussage der Eingeborenen Madagaskars Männchen und Weibchen an der Pflege dieses Jungen sich betheiligen; doch ermangelt diese Behauptung bis jetzt noch des Beweises. Eine gleichmäßige und ziemlich hohe Wärme ist allen Bedürfnis; die Kälte macht sie mismuthig und krank. Gefangene geben ihr Misbehagen hauptsächlich dann zu erkennen, wenn sie frieren oder im Schlafe gestört werden. Fühlen sie sich aber behaglich, dann schnurren sie, wenigstens viele, fast nach Art der Katze.
Ihre geistigen Fähigkeiten sind gering; nur wenige machen eine rühmliche Ausnahme. Alle zeigen sich scheu und furchtsam, obgleich sie muthig sich wehren, wenn man sie fängt. Nachdem sie an den Menschen sich gewöhnt haben, werden sie in gewissem Grade zutraulich und benehmen sich sanft, friedlich und gutmüthig, verlieren aber ihre Furchtsamkeit nur selten. Die am höchsten stehenden Arten der Familie fügen sich noch am ersten in den Verlust ihrer Freiheit und in ein untergeordnetes Verhältnis zu den Menschen, lassen sogar zu gewissen Dienstleistungen, beispielsweise zur Jagd anderer Thiere sich abrichten; die ungeschwänzten Arten dagegen behalten meist auch in der Gefangenschaft ihr stilles, schwermüthiges Wesen bei, suchen jede Störung ärgerlich von sich abzuwehren und lernen wohl kaum ihre Pfleger von anderen Leuten unterscheiden, behandeln vielmehr alle Menschen mehr oder weniger in derselben Weise.
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