Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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69

Von dem Kamin des kleinen Hauses im Klosterwald stieg Rauch auf. Ein kleines Feuer brannte im Küchenofen, und ein Mann, der eine Gabel in der Hand hielt, beobachtete sorgsam, wie ein Kotelett in der Pfanne briet. Die Fensterläden waren zugemacht und die Haustüren von innen dicht verschlossen. Wenn ein Neugieriger draußen angeklopft hätte, würde er keine Antwort erhalten haben.

Es war schon spät am Nachmittag, und der Abend kam heran. Der Mann war auf einem Richtsteig hierhergekommen, der das Dorf Garre nicht berührte. Nach einer Weile war das Kotelett zubereitet. Er nahm es aus der Pfanne und legte es auf einen Teller, der auf der Herdplatte gewärmt worden war. Aus seiner Rocktasche zog er einen kleinen Papiersack hervor und nahm zwei Brötchen heraus, die er auf den tadellos gedeckten Tisch legte. Nachdem sein einfaches Mahl beendet war, füllte er bedachtsam seine Pfeife und entzündete sie. Dann lehnte er sich in seinen bequemen Stuhl zurück und schaute in Gedanken vor sich hin.

Er nahm ein Telegramm aus der Tasche und las es nun schon zum drittenmal. Seine Beschäftigung schien ihm viel Freude zu machen, denn er lächelte. So saß er fast eine Stunde lang, dann erhob er sich und ging in den Raum, den zuerst Spike und später Bellamy durchsucht hatten. Das zusammengelegte Kleid lag noch auf dem Bett, aber es war anders gefaltet als er es zurückgelassen hatte. Die breiten Schmutzspuren von Bellamys Schuhen waren deutlich auf dem Fußboden zu erkennen.

Er ging wieder zur Küche, nahm ein Buch und setzte sich nieder, um zu lesen. Einige Male hob er den Kopf und horchte. Er hatte schon vorher zuweilen ein sonderbares Geräusch gehört und wurde nun aufmerksam, weil es in immer kürzeren Zwischenräumen kam. Er ging durch die Hintertüre in den verwilderten Garten, der hinter dem Hause lag, legte die Hand ans Ohr und lauschte. Plötzlich schien er zu wissen, woher es kam. Sofort eilte er wieder ins Haus, schloß die Hintertür ab, setzte den Hut auf und ging dann durch die Vordertür ins Freie. Er glaubte, jemand gehört zu haben, der die Straße entlang kam, trat in den Schatten und wartete, bis der Fußgänger vorüber war. Als der andere weit genug entfernt war, kam er wieder hervor und ging die Straße schnell entlang quer über das Feld, erreichte einen anderen Richtsteig und begegnete dort einem Mann, den er anhielt und fragte.

»Es klingt so, als ob dort geschossen wird?«

Der Mann grinste.

»Da haben Sie recht, mein Herr, dort wird kräftig geschossen. Der alte Bellamy in Garre Castle wird von Soldaten angegriffen. Ich weiß nicht, warum und wieso, aber man hat schon seit heute morgen die Schießerei gehört.«

Der Fremde beschleunigte seine Schritte und kam ins Dorf. Sein Weg führte ihn gerade nach Lady's Manor. Er konnte jetzt die einzelnen Schüsse ganz deutlich unterscheiden und sah die vielen Menschen, die neugierig in der Dorfstraße standen. Ganz in der Nähe war ein Polizist, der den Verkehr auf einen Nebenweg umleitete. Zu diesem ging er hin.

»Ja, mein Herr, der alte Bellamy schießt auf die Polizei,« sagte der Beamte mit unverkennbarem Stolz auf seine Abteilung, der eine so wichtige Aufgabe anvertraut war. »Es kommen noch mehr Soldaten – zwei Kompagnien sind bereits hier. Sind Sie hier fremd?«

»Ja.«

»Fast das ganze Dorf schaut zu. Ich sagte gerade zu einem von Mr. Howetts Dienstmädchen, es wäre besser, wenn sie nach Hause ginge und das Essen kochte.«

»Ist Mr. Howett hier?«

»Nach allem, was man hört, ist er nicht da. Die junge Dame ist aber im Hause. Wollen Sie sie aufsuchen?«

»Ja, das werde ich tun.« Der Fremde zögerte aber. In diesem Augenblick hob der Polizist seine Hand und hielt einen Lastwagen an, der sich näherte.

Als er sich wieder umschaute, stand der Fremde nicht mehr bei ihm und er sah, wie er den Weg nach Lady's Manor entlangschritt.

Die Tür zu dem Hause stand weit offen, er klopfte trotzdem an, ging dann aber doch kühn in die mit Fliesen belegte Vorhalle, machte die Tür zum Wohnzimmer auf und schaute hinein. Ein offenes Buch lag auf Valerie Howetts Schreibtisch und eine angefangene Strickarbeit auf dem Sofa.

Er ging leise zur Küche und schaute sich auch dort um. Er kannte das Haus, denn er war schon oft hier gewesen. Die Tür zu dem Garten stand halb offen, und er trat hinaus. An der Mauer lehnte eine Leiter, aber er konnte weder Miß Howett noch jemand von der Dienerschaft finden.

Es war schon ganz dunkel, als er Stimmen vor dem Hause hörte. Er öffnete die Tür, die zu dem Keller führte, ging hindurch und schloß sie hinter sich ab. Dann eilte er die Treppe hinunter. Der Keller lag in vollständiger Dunkelheit. Aber er ging trotzdem sicher zu einer der Türen, schloß sie auf und trat in einen anderen Raum. Er bückte sich, machte einen großen Kasten auf und nahm eine kleine elektrische Lampe heraus. Ein Druck seines Fingers genügte, und der Raum war erhellt. Wieder wandte er sich dem großen Kasten zu und holte einen kurzen, grünen Bogen und zwei Pfeile heraus. Er balancierte sie auf seinen Fingern. Der eine schien ihm nicht zu genügen, denn er legte ihn in den Kasten zurück und zog dafür einen anderen heraus. Dann drehte er das Licht ab und wartete. Er hörte, wie die obere Kellertür aufgemacht wurde. Ein Dienstmädchen kam mit einem Licht die Treppe herunter und füllte einen Eimer mit Kohlen. Dann hörte er ein Gespräch zwischen jemand, der oben in der Spülküche stand und dem Mädchen, das unten Kohlen holte.

»Was mag mit Miß Valerie geschehen sein?«

»Ich habe sie nicht gesehen. Ist sie nicht in ihrem Zimmer?«

»Nein,« kam die Antwort von oben. »Ich bin gerade dort gewesen. Sie ist auch nicht im Garten.«

»Bei den Leuten, die von der Straße aus zuschauten, stand sie auch nicht – sie kann doch nicht fortgegangen sein? Die Polizei hat doch niemand über die Dorfstraße gehen lassen?«

Der Mann, der im Dunkeln auf der Kiste saß, hörte müßig zu, bis das Dienstmädchen mit den Kohlen wieder die Treppe hinaufging und die Tür oben schloß.

Stundenlang wartete er, bis er oben eine Bewegung hörte. Erregte Stimmen fragten durcheinander. Vorsichtig trat er aus dem Raum heraus, schlich die Treppe hoch und lauschte. Was er aber hörte, veranlaßte ihn, sofort wieder nach unten zu gehen. Und als einige Augenblicke später Mr. Howett die Tür öffnete und in den Raum eintrat, in dem der Fremde sich aufgehalten hatte, war der kleine Keller leer.

Draußen hatte das Gewehrfeuer allmählich nachgelassen, nur hin und wieder fiel noch ein Schuß. Die Regierung hatte ihre Einwilligung gegeben, Militär war in Garre angekommen und nahm seine Stellung um die Burg ein. Gegen Mitternacht kamen schwere Fuhrwerke heran. Artillerie fuhr die Dorfstraße entlang, hielt in der Nähe der Burg, brachte die Geschütze in Stellung und richtete die Mündungen auf den Eingang von Garre Castle.

Spike erschien sofort auf dem Platz und erkundigte sich.

»Vor morgen früh werden wir nichts unternehmen,« sagte der Offizier, der die Abteilung befehligte. »Es hängt auch noch ganz davon ab, was Bellamy tut. Wenn er gegen morgen noch fortfährt zu schießen, werden wir das Tor mit Artilleriefeuer niederlegen.«

»Warum legen Sie denn nicht einfach Dynamit an die Tür – noch heute nacht?« drängte Spike. »Haben Sie nicht gehört, daß auch Miß Valerie Howett verschwunden ist? Mr. Howett telephonierte schon die ganze Zeit nach allen Richtungen.«

»Wir müssen uns an unsere Befehle halten,« sagte der Offizier kurz. Spike wandte sich an den Polizeibeamten, aber der konnte ihm auch keine zufriedenstellende Antwort geben.

»Ich glaube nicht, daß es etwas ausmacht, ob wir heute nacht oder morgen früh angreifen,« sagte er. »Der Augenblick der Gefahr für die unglücklichen Leute, die drinnen gefangen sind, wird der Beginn unseres Angriffs sein. Das ist meine Überzeugung, und das glaubt auch der Staatssekretär. Wir werden wirklich nichts erreichen, wenn wir heute noch das Tor der Burg einschießen. Vielleicht überlegt sich Bellamy die Sache über Nacht und ist morgen vernünftig.«

»Da kennen Sie Bellamy aber schlecht!« sagte Spike grimmig.

Mit jedem neuen Zug kamen Zeitungsberichterstatter und neugierige Leute an. Die Nachricht von der Belagerung Garres stand in allen Abendzeitungen. Spike, der stolze Besitzer eines Hotelzimmers, bewirtete ein Dutzend Kollegen, die sich die ganze Nacht unterhielten und keinen Schlaf fanden. Aber da sie jung waren, machte es ihnen nichts aus. Spike war gerade dabei, eine hastige Abendmahlzeit einzunehmen, als Mr. Howett eintrat.

»Ich werde einem der Polizisten den Weg in die Burg zeigen,« sagte er. »Wollen Sie mitkommen?«

Spike ließ sein Essen sofort stehen.

»Ich weiß den geheimen Weg – ich habe ihn vor kurzer Zeit entdeckt,« erklärte Mr. Howett. Er sah sehr alt aus, sein Gesicht war fahl, und seine Stimme zitterte. Spike war bestürzt. Er fragte ihn nicht, wie er den geheimen Weg entdeckt hatte, sondern stieg rasch in den Wagen Mr. Howetts, in dem schon einige Detektive saßen.

In Lady's Manor folgten sie Mr. Howett durch das Erdgeschoß in den Keller.

»Hier unten befindet sich ein unterirdischer Gang – er verbindet Lady's Manor mit der Burg.« Er zeigte auf die mittlere der drei Kellertüren, nahm einen Schlüssel aus seiner Tasche, schloß auf und ging durch.

Der Keller war sehr klein und enthielt nichts als einen großen Kasten, der in dem hinteren Ende des Raums stand. Diesen zog Mr. Howett nach vorn, und sie entdeckten an dieser Stelle eine viereckige Öffnung im Fußboden und eine gleiche in der Wand. Eine Anzahl Stufen führten zu dem Gang hinunter. Sie waren noch nicht weit gekommen, als plötzlich ein dumpfer Schlag ertönte. Mr. Howett, der sie führte, stieß einen entsetzten Ruf aus. Die anderen leuchteten mit ihren Taschenlampen – der Weg war durch eine geschlossene Tür versperrt, der geheime Pfad nach Garre Castle war unzugänglich geworden!

»Früher stand die Tür immer auf,« sagte Mr. Howett aufgeregt. »Ich kann mich besinnen, daß ich sie früher schon gesehen habe, aber sie war immer mit einem Haken an der Wand befestigt. Zwischen hier und der Burg sind noch vier andere Türen in dem Gang, und wir müssen sie nun erst alle einschlagen, bevor wir durchkommen können. Sie sind aus schweren Eichenbohlen, mit Eisen beschlagen und so stark, daß wir ohne besondere Hilfsmittel nicht dazu imstande sind.«

»Sind sie verschlossen?«

»Nein, verriegelt. Auf der Rückseite hat jede schwere, eiserne Vorlegestangen. Es ist auch unmöglich, die Tür aus den Angeln zu heben oder die Angeln zu zerstören.« Er überlegte. »Es tut mir leid, meine Herren,« sagte er dann leise. »Ich hoffte, Ihnen einen leichten Weg in die Burg zeigen zu können. Aber dieser Zugang scheint mir schwerer zu sein, als wenn die Burgtore eingeschossen werden.«

Sie wandten sich wieder zum Geben. Spike war am meisten enttäuscht.

»Glauben Sie, daß Miß Howett auf diesem Wege fortgebracht wurde?« fragte er plötzlich.

»Ich fürchte es. Die Dienstboten waren alle fort, und man hat sie von der Straße aus ins Haus gehen sehen. Es ist mein eigener Fehler. Ich hätte mehr männliche Dienstboten anstellen sollen.«

Er sprach immer leiser und leiser, und dann fing ihn Spike auf. Man rief schnell einen Arzt herbei, der aber nur eine leichte Ohnmacht konstatieren konnte. Spike ließ Mr. Howett in der Pflege seiner Leute zurück. Er selbst ging wieder zu dem Burgeingang und erfuhr, daß von London neue Befehle eingetroffen waren, und man den Angriff auf ein Uhr nachts festgesetzt hatte. Er schaute auf die Uhr – es war zehn. Wie mochte es bloß den Gefangenen in den fürchterlichen Kerkern von Garre zumute sein?


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