Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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64

Die graue Frau war also die ganze Zeit in der Nähe gewesen! Vielleicht war sie noch hier und verbarg sich in der Nachbarschaft, so daß er sie unmittelbar hätte erreichen können. Sicher war sie es, er hatte das graue Kleid nach der Beschreibung genau wiedererkannt. Nie hatte sie Kleider von ihm annehmen wollen, und obgleich er ihr die schönsten französischen Modeschöpfungen brachte, trug sie doch von dem Tage an, an dem sie in die Burg kam, stets ihr grauseidenes Kleid.

Diesen Abend ging er nicht zu Bett, und am Morgen schloß er sich in der Bibliothek ein, um nicht gestört zu werden. Dann ging er die geheime Treppe zu Savinis Gefängnis hinunter, öffnete schnell die Tür und war in dem Raum, bevor Julius nach seiner Pistole greifen konnte.

»Hände hoch!« rief der Alte. »Ich will Ihren Revolver haben!«

Er nahm seinem hilflosen Gefangenen die Waffe aus der Tasche und schloß dann die Tür von innen fest zu.

»Ich möchte mich ein wenig mit Ihnen unterhalten, Savini,« sagte er, als er zu Julius zurückging. »Sie haben mir doch gesagt, daß neulich in der Nacht jemand hierherkam, um ein Buch zu holen. Haben Sie mich damals belogen?«

»Warum sollte ich denn die Unwahrheit sagen?« fragte Julius finster.

»Haben Sie gesehen, wer es war?«

»Nein, ich hörte nur das Geräusch, wie die Tür geschlossen wurde.«

»Meinen Sie diese Tür?« Der Alte zeigte auf die Öffnung, durch die er gekommen war.

Savini nickte.

Bellamy ging in das Schlafzimmer und zog den Vorhang vor dem Schrank beiseite. Die Kleider der grauen Frau hingen noch dort wie an dem Tage, als er die Savinis eingesperrt hatte. Er nahm sie und legte sie über den Arm.

»Wie lange wollen Sie uns noch hier lassen, Bellamy?« fragte Fay. »Es wird etwas langweilig.«

»Sie sind doch bei Ihrem Mann, das ist doch für eine Frau alles, was sie braucht. Und Sie sind ja eine gute Frau, nach allem, was ich von Ihnen gehört habe.«

»Werden Sie nicht anzüglich,« sagte Fay. »Das hat hiermit nichts zu tun. Wie lange wollen Sie uns noch hier gefangenhalten?«

»Sie werden so lange hier bleiben, wie ich will. Und wenn es Ihnen zu langweilig ist, und Sie Gesellschaft haben wollen, kann ich diese Frage schon lösen.«

Sie antwortete nicht. Aber als er sich der Tür zuwandte, sprang sie ihn plötzlich wie eine wilde Katze an, umfaßte mit ihren Armen krampfhaft seinen Hals und zog ihn nach hinten zurück.

»Schnell, Julius!« schrie sie.

Aber bevor Savini näherkommen konnte, hatte der alte Mann sie schon abgeschüttelt wie ein Hund eine Ratte und sie fiel dumpf auf den Steinboden. Bellamy nahm sich nicht einmal die Mühe, die Pistole zu ziehen. Mit bloßer Hand stieß er Savini zurück. Julius hätte weinen können, als er seine vollkommene Machtlosigkeit einsehen mußte. Fay war sofort wieder aufgesprungen. Sie sah bleich und gebrochen aus. Aber Bellamy schaute sie jetzt mit anderen Augen an, es lag etwas von Bewunderung für diese kühne Frau in seinem Blick.

»Wenn Ihr Mann nur ein klein wenig von der Energie und dem Mut hätte, den Sie besitzen!« sagte er dann.

»Das geht Sie gar nichts an,« erwiderte sie verächtlich. »Geben Sie ihm seine Pistole zurück und probieren Sie es mal, Sie Gorilla!«

Bellamy lachte und wandte sich wieder dem Ausgang zu. Fay packte ihn noch einmal am Arm und versuchte ihn aufzuhalten, aber er schüttelte sie wieder ab. Als er zur Bibliothek zurückkam, rief er Sen. Dann nahm er die Kleider und ging mit seinem Chauffeur zu einer entlegenen Stelle des Parks in der Nähe der Garage. Sie durchtränkten die Kleider mit Benzin und steckten sie an.

»Die Sache wäre also in Ordnung,« sagte Bellamy und stieg wieder in den Gefängniskeller hinunter, um seine Arbeit fortzusetzen.

Den ganzen Nachmittag hörte Julius das Klopfen von eisernen Werkzeugen. Aber er gab sich keine Mühe zu sehen, was der alte Mann machte, da er ganz richtig vermutete, daß Bellamy die vergitterte Öffnung dicht verschlossen hielt.

Zum erstenmal kam die Verzweiflung über Julius. Er hatte keine Waffe mehr, mit der er sich und Fay verteidigen konnte. Die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage bedrückte ihn furchtbar.

»Es hat gar keinen Zweck,« sagte er, »wir müssen damit rechnen, daß wir hier jahrelang eingesperrt werden.«

»Der Gedanke würde mich trösten,« antwortete sie. »Aber hast du noch niemals daran gedacht, was geschieht, wenn der Alte plötzlich stirbt?« Sie schauderte.

»Um Himmels willen, gib dich doch nicht so fürchterlichen Gedanken hin!« rief er nervös. »Du glaubst doch nicht – daß wir hier verhungern müssen?«

»Julius, ist es denn nicht möglich, die Tür aufzubrechen?«

»Keins der Möbelstücke ist schwer genug, es ist auch nichts anderes da, womit man die Tür einschlagen könnte.«

Sie biß sich nachdenklich auf die Lippen.

»Ich wünschte nur, der alte Teufel käme noch einmal hier herunter. Ich müßte eigentlich eine Dusche haben.«

»Was willst du haben?« fragte er ungläubig.

»Eine Dusche,« sagte sie ruhig. »Das ist nun einmal eine meiner Schrullen.«

Abel Bellamy war immer noch an der Arbeit, wie sie aus dem andauernden Hämmern unten hören konnten. Plötzlich ging Fay zu der Öffnung und kroch so dicht wie möglich an das eiserne Gitter. Sie konnte aber nicht hindurchsehen, die Öffnung war mit einem Sack verhängt.

»Bellamy!« rief sie, und nach einer Weile hörte er sie auch.

»Was wollen Sie denn?« fragte er und hörte auf zu hämmern.

»Wenn Sie uns hier gefangenhalten wollen, dann können Sie es uns doch wenigstens behaglich machen,« sagte Fay kühl, als er den Sack wegzog und sie anstarrte.

»Im Gefängnis haben Sie es nicht so komfortabel gehabt, junge Frau. Was wollen Sie denn?«

»Ich mochte eine Dusche haben. Diese Vollbäder bekommen meiner zarten Konstitution nicht.«

»Was wollen Sie?« brüllte er und brach in ein schallendes Gelächter aus. Sein Gesicht wurde rot, und sie betrachtete ihn furchtsam. Aber er beherrschte sich sofort wieder.

»Vielleicht soll ich Ihnen auch ein Boudoir einrichten? Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich Ihnen eine Dusche anbringen werde?«

»Ich will gar nicht, daß Sie irgend etwas anbringen, ich will auch nicht, daß Sie hereinkommen, weil Sie Manieren wie ein Schwein haben,« sagte Fay offen. »Ich will nur einen Gummischlauch haben, um ihn am Wasserhahn anbringen zu können.«

Er brummte etwas vor sich hin und ließ den Sack wieder herunterfallen. Nach einer halben Stunde hörte sie, daß er ihren Namen rief und lief zu der Öffnung. Er schob einen roten Gummischlauch hindurch.

»Der ist vielleicht etwas zu lang, Sie können ihn ja abschneiden. Wenn Sie aber denken, er wäre zu gebrauchen, um mir damit ins Gesicht zu spritzen, wenn ich hereinkomme, damit ich nichts sehen kann – dann sollen Sie einmal etwas erleben!«

Triumphierend nahm sie den Schlauch in Empfang.

»Wozu brauchst du ihn denn?« fragte Julius leise, aber sie legte nur ihren Finger an die Lippen und sah ihn bedeutungsvoll an.

Als am Abend alles ruhig war, schob sie den Schlauch über eine der Gaslampen. Der Schlauch war zu weit, sie suchte einen Bindfaden und band ihn dicht an den Hahn. In das andere Ende steckte sie die Spitze, die sie von dem Brenner genommen hatte, und machte auch dieses durch Umwickeln mit Bindfaden dicht. Der Sicherheit halber strich sie noch Seife herum. Als sie damit fertig war, drehte sie den Gashahn auf und steckte vorne den Brenner an. Eine lange Stichflamme schoß heraus. Sie brachte sie an die Türe in die Gegend des Schlosses. Der Schlauch war gerade lang genug, das Holzwerk begann zu rauchen und verkohlte langsam.

»Hole Wasser,« flüsterte Fay. »Wir müssen das Feuer auslöschen, sobald helle Flammen herausschlagen.«

So arbeiteten sie die ganze Nacht zusammen. Der Raum unten war von beißendem Rauch erfüllt. Um drei Uhr morgens konnte Julius die Türe endlich aufbrechen. Polternd fiel das Schloß heraus.

Sie waren vollständig erschöpft, ihre Gesichter waren schwarz vom Rauch, ihre Augen schmerzten fürchterlich, und sie husteten. Fay ging durch die Tür in den Raum unter der Bibliothek und lehnte sich an die Wand. Sie atmete schwer – nun blieb nur noch die Tür unter dem Schreibtisch Bellamys. Sie sah wohl ein, daß dies eine viel schwierigere Aufgabe war, als die Holztür. Wie schwer es sein würde, konnte sie nur vermuten, denn sie besann sich nicht auf alle Einzelheiten, als sie damals hindurchgegangen waren.

Durch die offene Tür fiel das Gaslicht aus ihrem Wohnzimmer in diesen Raum. Sie stiegen die Treppe in die Höhe und durchsuchten die Decke.

»Es ist vollkommen nutzlos, Fay,« meinte Julius. »Wir können uns höchstens unter der Treppe verstecken und den Alten von hinten niederschlagen, wenn er herunterkommt und uns drüben sucht.«

»Womit denn?« fragte sie.

»Mit dem Gasschlauch!«

Sie gingen beide zurück und betrachteten den Schlauch.

»Er ist doch nicht stark genug,« sagte Julius. »Wir müssen etwas Schwereres finden.«

Aber trotzdem sie den Raum eingehend durchsuchten, fanden sie nichts, das sie als Waffe hatten gebrauchen können. Julius ging wieder die Treppe hinauf und untersuchte die steinerne Platte. Er stemmte sich in der Nähe der Stelle, wo er das Schloß vermutete, mit aller Macht dagegen. Plötzlich hörte er Fußtritte über sich und bückte sich instinktiv. Das schwache Läuten einer Telephonglocke drang zu ihm hin, dann sprach jemand.

»Ist dort Captain Featherstone? . . . Können Sie sofort nach Garre Castle kommen? Mr. Bellamy ist um zwei Uhr morgens gestorben. Er hat ein großes Schriftstück hinterlassen, das für Sie bestimmt ist.«

Julius war vollständig erstarrt über diese Nachricht und ging schreckensbleich wieder die Treppe hinunter.

»Was ist los, Julius?« Fay packte ihn am Arm und sah ihn ängstlich an.

»Nichts – es ist nichts,« sagte er heiser.

»Du hast doch jemand sprechen hören – hast du etwas verstanden?«

»Es war – ich weiß nicht . . . ich glaube, es war Lacy.«

»Lacy? Um diese Morgenstunde? Zu wem sprach er denn?«

Julius schluckte.

»Er sprach zu Featherstone. Aber es ist besser, daß du es weißt – Bellamy ist tot!«

Sie war entsetzt.

»Bellamy ist tot?« sagte sie ungläubig. »Wer hat dir das gesagt?«

»Lacy hat an Featherstone telephoniert, daß Bellamy ein Schriftstück hinterlassen hätte, das Featherstone lesen soll.«

Sie sah ihn argwöhnisch an.

»Bellamy ist tot? Und Lacy ruft Featherstone an, daß er herkommen soll? Featherstone würde Lacy doch sofort ins Gefängnis stecken. Glaubst du denn, daß Lacy so dumm ist? Wenn der Alte wirklich ein solches Schriftstück zurückgelassen hat, dann konnte Lacy es ihm doch per Post zuschicken, nachdem er sich selbst gedrückt hatte. Daß Bellamy tot ist, hilft Lacy doch nicht. Die Polizei ist deswegen genau so hinter ihm her wie früher. Was wird Featherstone nun wohl tun? Glaubst du, daß er Lacy um den Hals fällt, sich an seiner Brust ausweint und sagt, daß alles vergeben und vergessen ist? Nein, Julius! Es ist ja möglich, daß Featherstone in die Falle geht, weil er in Valerie Howett verliebt ist und seine Gedanken nicht beieinander hat. Aber wenn er wirklich bei der Sache ist, dann müßte er doch merken, daß das ein Trick ist. Julius, du bist doch ein merkwürdiger Mensch! Du zitterst hier wie Gelee bei einem Erdbeben und du könntest ohne Hilfe mit Bellamy fertig werden! – Wir wollen aber jetzt wieder in unser Wohnzimmer zurückgehen und die Sache miteinander besprechen. Der Rauch verzieht sich allmählich.«

Die Ventilation war so gut, daß sich die Luft schon wieder erneuert hatte, als sie zurückkamen.

»Wir werden Gesellschaft bekommen,« meinte Fay. »Der alte Bellamy hält sein Versprechen.«


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