Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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67

Valerie war noch ganz verwirrt von dem Erlebnis, bei dem sie nur mit knapper Not der Gefahr entgangen war. Sie wußte nicht, daß dem alten Bellamy so viel an ihrer Sicherheit lag. Sie ging zurück in das Haus. Alle Dienstboten waren fort, ihr Vater konnte erst um sieben Uhr abends zurück sein. Das dauernde Krachen der Schüsse fiel ihr auf die Nerven. Sollte sie wieder auf die Dorfstraße gehen und mit den andern sich das Schauspiel ansehen? Sie wünschte, daß Spike kommen würde, aber der Reporter war abwechselnd in der Schützenlinie oder am Telephon und diktierte dem lauschenden Stenographen abgerissene, wilde Sätze.

Die Sache war so phantastisch, so ganz außerhalb des sonst Möglichen, daß sie fast nicht mehr die Grenzen der Wirklichkeit unterscheiden konnte. Aber wieder klangen die abgerissenen Schüsse zu ihr herüber und erinnerten sie daran, daß Garre Castle belagert wurde. In den Gebüschen, wo die Bluthunde einst hinter ihr her gewesen waren, lagen Schützen in Khakiuniformen, preßten die Kolben ihrer Gewehre gegen das Gesicht und warteten, ob sie nicht etwas von Bellamy sehen könnten. Und Jim! Sie dachte an die entsetzliche Gefahr, in der er schwebte. Sie trat auf die Straße, aber sie konnte nur die Leute sehen, die dort auf den Höhepunkt der Tragödie warteten. Ein Kind sprang an ihr vorbei, und sie rief es an.

»Nein, mein Fräulein, es ist noch nichts geschehen, es sind nur noch mehr Soldaten angekommen.«

Langsam ging sie wieder heim. Sie zögerte vor der offenen Tür, aber in ihrer schrecklichen Unruhe wollte sie sich auch nicht im Garten aufhalten. Es tat ihr nun leid, daß ihr Vater nicht geblieben war. Sie ging noch einmal auf die Straße zurück und hoffte, jemand zu treffen, der die Dienerschaft rufen konnte. Sie hätte ja selbst gehen können, aber –

Es war wirklich schrecklich, so nervös zu sein. John Wood hatte sich vor dem Mittagessen verabschiedet, um seinen Zug zu erreichen. Wenn er wenigstens noch da wäre, würde sie sich auch sicherer fühlen.

Das Feuergefecht ging immer weiter, manchmal war es stärker, manchmal schwächer.

Mitten in einem friedlichen, englischen Dorfe tobte ein Kampf, und die Bewohner schauten zu. Sie sah zwei Leute auf dem Dach eines Hauses stehen, die ganz in der Beobachtung des Gefechts vertieft waren.

Mit einem Seufzer trat sie in das Haus, ging in das Wohnzimmer und versuchte zu lesen. Plötzlich hörte sie Schritte in dem Gang. Sie glaubte, daß einer der Dienstboten zurückgekehrt wäre und eilte in die Küche, um ein wenig Gesellschaft zu haben.

Die Küche lag im Dämmer. Die Dunkelheit war beinahe hereingebrochen, und dieser Teil des Hauses war nur noch schwach erleuchtet.

»Ist jemand hier?« fragte sie.

Sie ging in den Keller. Plötzlich umfaßten sie zwei lange grüne Arme von hinten.

Sie kam erst nach einigen Minuten wieder zu sich. Jemand trug sie einen langen Tunnel entlang, die Luft war dumpf und moderig, und es war vollständig finster.

Wo befand sie sich? Langsam begann sie sich zu erinnern. Sie hing sich an den Mann, der sie trug.

»Bist du es?« flüsterte sie furchterfüllt. »Bist du es, Vater?«

Der andere erwiderte nichts darauf, sondern fragte sie nur mit kaum verständlicher Stimme, ob sie gehen könne.

»Ich glaube, ich kann den Weg nicht sehen.«

»Es ist nicht weit. Taste nur mit der Hand an der Wand entlang.«

Die Wände bestanden aus roh behauenen Felsen und fühlten sich feucht an. Schließlich kamen sie an eine Stelle, wo der Gang im rechten Winkel abbog. Er nahm ihren Arm und hielt sie an.

»Dorthin!«

Sie stieg drei Treppenstufen hinauf.

»Kopf beugen! Es ist sehr niedrig hier.«

Sie gehorchte und folgte ihm in gebückter Haltung etwa zwölf Schritte. Es kamen noch zwei Stufen, dann ging es langsam bergab. Hier konnte sie einen schwachen Schimmer des letzten Tageslichts von draußen hereinfallen sehen.

Sie trat durch einen niedrigen Bogen in einen Raum, an dessen Seiten vier Regale standen, die zum Teil mit Konserven und Nahrungsmitteln gefüllt waren.

»Wo bin ich?« fragte sie. Aber sie wandte sich ab, als sie das gräßliche weiße Gesicht ihres Begleiters sah.

»Sie sind in Garre Castle,« antwortete der andere jetzt laut. »Und hier werden Sie bleiben, mein Fräulein!«

Sie machte sich aus seinem Griff los und eilte zur Tür zurück, aber sie war verschlossen und verriegelt. Bevor sie den Kücheneingang auf der anderen Seite erreichen konnte, hatte er sie gepackt. In dem Kampf, der sich jetzt entspann, riß sie ihm die Maske vom Gesicht und schrie plötzlich auf.

»Du – Sie – der Grüne Bogenschütze!«

Vor ihr stand – Lacy!


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