Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2

Der Klang von Stahl gegen Stahl, das Staccato-Trommelfeuer elektrischer Nietmaschinen und Bohrer, der Höllenlärm von Hämmern und Meißeln waren eine liebliche Musik für Abel Bellamys Ohren.

Er stand am Fenster seines Wohnzimmers, die Hände auf dem Rücken. Unverwandt schaute er auf die andere Seite der Straße, wo sich dem Hotel gegenüber ein ungeheuer großes Gebäude im Bau befand. Das Stahlgerippe erhob sich türmhoch über die kleinen, niedrigen Häuser der Nachbarschaft zu beiden Seiten.

In den Straßen hatte sich eine kleine, neugierige Menschenmenge angesammelt. Ein schwerer, eiserner Träger wurde durch einen Flaschenzug an einem Drahtseil aufgewunden. Höher und höher hob der große Kran die schwere Last, die majestätisch und langsam hin- und herpendelte. Abel Bellamy brummte. Er war nicht zufrieden damit. Er wußte genau auf den Bruchteil eines Zolls, wo der richtige Aufhängungspunkt lag, und der Träger war schlecht ausbalanciert.

Wenn die bösen Werke der Menschen in blutiger Schrift an den Tatorten aufgezeichnet wären, wie die Alten glaubten, so würde der Name Abel Bellamys an vielen Stellen in brennendem Rot erscheinen: Auf einer kleinen Farm in Montgomery County in Pennsylvania und in einer grauen Halle im Pentonville-Gefängnis, um nur diese beiden Orte zu nennen.

Aber Abel Bellamy hatte keine schlaflosen Nächte wegen seiner Vergangenheit. Reue und Furcht kannte er nicht. Er hatte viel Böses getan und war damit sehr zufrieden. Die Erinnerung an das Entsetzen der Menschen, deren Leben er rücksichtslos zerbrochen hatte, an die Qualen, die er ihnen mit Vorbedacht zugefügt hatte, konnte ihm nichts anhaben. Das Bewußtsein, unschuldige Kinder in Not und Elend gestoßen und eine Frau durch seinen Haß zu Tode gehetzt zu haben, nur um dem Moloch seiner Selbstsucht ein Opfer zu bringen, verursachte ihm nicht eine Sekunde lang Gewissensbisse.

Wenn er sich überhaupt jemals an diese Dinge erinnerte, dachte er nur mit Befriedigung daran. Es erschien ihm vollständig richtig, daß alle niedergetreten wurden, die sich ihm in den Weg stellten. Das Glück hatte ihn stets begünstigt. Mit zwanzig Jahren war er noch ein einfacher Arbeiter gewesen, mit fünfunddreißig hatte er schon eine Million Dollars zusammengebracht und mit fünfundfünfzig war dieses Vermögen verzehnfacht. Er verließ die Stadt, in der er sich heraufgearbeitet hatte, siedelte sich auf einem Adelssitz in England an und wurde der Herr einer Besitzung, die die Blüte der englischen Ritterschaft durch das Schwert erobert und mit dem Schweiß und der Furcht der Unterdrückten erbaut hatte.

Seit dreißig Jahren war er mächtig genug, andere zu verfolgen, und warum sollte er sich auch selbst verleugnen? Er bereute nichts und handelte ganz nach seinen Wünschen. Er war von ungewöhnlicher Körpergröße, maß über sechs Fuß und hatte noch im Alter von sechzig Jahren die Kraft eines jungen Stieres. Auf der Straße sahen sich alle Leute nach ihm um, aber nicht wegen seiner außerordentlichen Größe, sondern wegen seiner ins Auge springenden Häßlichkeit. Sein rotes Gesicht war von unzähligen Falten durchzogen, seine Nase war groß und knollenartig. Dicke Lippen umrahmten den großen Mund, dessen eine Seite etwas in die Höhe gezogen war, so daß er ständig höhnisch zu grinsen schien.

Er kümmerte sich nicht im mindesten um sein Aussehen und nahm es als eine Tatsache hin, wie ihm auch seine Leidenschaften etwas Selbstverständliches waren.

Das war Abel Bellamy aus Chicago, der jetzt in Garre Castle in Berkshire wohnte. Ein Mann, der weder Liebe noch Mitleid kannte.

Noch immer stand er an dem großen Fenster seines Hotels und beobachtete die Bauarbeiten. Wer der Erbauer oder was das für ein Bauwerk war, wußte er nicht und kümmerte sich auch nicht darum. Aber einen Augenblick schien es ihm, als ob die Männer, die sich drüben auf schmalen, gefährlichen Stegen bewegten, seine eigenen Arbeitsleute seien. Er stieß einen halbunterdrückten Fluch aus, als sein wachsames Auge eine Gruppe von drei Schmieden entdeckte, die von dem Polier nicht gesehen werden konnten und müßig umherstanden.

Plötzlich schaute er wieder auf den großen hängenden Träger und witterte sofort die Gefahr. Er hatte den Unfall, der sich jetzt ereignete, vorausgesehen. Das freie Ende des Doppel-T-Trägers schwang nach innen und schlug gegen ein Gerüst, auf dem zwei Leute arbeiteten. Er konnte das Krachen trotz des lärmenden Straßenverkehrs deutlich hören, er sah einen Augenblick einen Mann, der sich verzweifelt am Gerüst festhielt, dann in die Tiefe stürzte und in dem großen Wirrwarr von Ziegelhaufen und Mörtelmaschinen hinter dem großen hohen Arbeitszaun verschwand.

»Hm!« sagte Abel Bellamy.

Er war gespannt, was der Bauunternehmer wohl jetzt tun würde. Wie mochten die Gesetze dieses Landes sein, in dem er sich seit sieben Jahren niedergelassen hatte? Wenn es sein Bau gewesen wäre, würde er seinen Rechtsanwalt losgeschickt haben, um die Witwe aufzusuchen, bevor sie die Nachricht erreichen konnte, und sie zu veranlassen, alle ihre Anforderungen aufzugeben, ehe sie den Betrug wirklich gemerkt hätte. Aber diese Engländer waren dazu viel zu langsam.

Die Tür des Wohnzimmers öffnete sich, und er wandte sich um. Julius Savini war schon daran gewöhnt, nur durch ein Brummen gegrüßt zu werden, aber er merkte, daß er heute etwas mehr abbekommen würde als den gewöhnlichen Rüffel, der sein regelmäßiger Morgengruß war.

»Savini, ich habe seit sieben Uhr auf Sie gewartet. Wenn Sie Ihre Stellung behalten wollen, will ich Sie wenigstens vor Mittag sehen. Haben Sie mich verstanden?«

»Es tut mir sehr leid, Mr. Bellamy, aber ich sagte Ihnen bereits gestern abend, daß ich heute später kommen würde. Ich bin erst vor ein paar Minuten von außerhalb zurück.«

Die Haltung und die Stimme Savinis waren sehr unterwürfig. Er war schon ein ganzes Jahr Bellamys Privatsekretär und hatte gelernt, daß es zwecklos war, seinem Herrn zu widersprechen.

»Würden Sie einen Vertreter vom ›Globe‹ empfangen?« fragte er.

»Einen Zeitungsmenschen?« sagte Abel Bellamy verächtlich. »Sie wissen doch, daß ich niemals solche Leute empfange. Was will er? Wie heißt er denn?«

»Es ist Spike Holland, ein Amerikaner,« antwortete Julius, als ob er um Entschuldigung bitten wollte.

»Deswegen ist er mir nicht angenehmer,« brummte Bellamy. »Sagen Sie ihm, daß ich ihn nicht empfangen kann. Ich kümmere mich überhaupt nicht darum, was in den Zeitungen steht. Weshalb kommt er denn? Sie sind doch mein Sekretär!«

Julius machte eine Verlegenheitspause, bevor er antwortete.

»Er kommt wegen des Grünen Bogenschützen.«

Abel Bellamy fuhr wild herum.

»Wer hat denn etwas über den Grünen Bogenschützen ausgeplaudert? Das können doch nur Sie Esel gewesen sein!«

»Ich habe mit keinem Zeitungsmann gesprochen,« sagte Julius mürrisch. »Was soll ich ihm denn sagen?«

»Sagen Sie ihm, er soll sich zum – na, lassen Sie ihn meinetwegen heraufkommen.«

Bellamy hatte sich schnell überlegt, daß der Journalist wahrscheinlich irgendeine Geschichte erfinden würde, wenn er ihn nicht empfing, und er hatte gerade genug von den Zeitungen. Hatte nicht neulich solch ein Blatt den ganzen Lärm in Falmouth inszeniert?

In diesem Augenblick führte Julius den Besucher herein.

»Ihre Anwesenheit ist nicht notwendig,« fuhr Bellamy seinen Sekretär an. Als Savini gegangen war, brummte er: »Nehmen Sie sich eine Zigarre.«

Er stieß die Zigarrenkiste mit einem heftigen Ruck über den Tisch, wie wenn er einem Hund einen Knochen hinwürfe.

»Danke,« sagte Mr. Spike Holland, »ich rauche niemals Millionärzigarren. Ich bin nachher nur mit meinen unzufrieden.«

»Nun, was wollen Sie?« fragte Bellamy rauh und betrachtete Spike mit zusammengekniffenen Augen.

»Man erzählt sich da eine Geschichte, daß ein Geist in Garre Castle umgeht – ein Grüner Bogenschütze –«

»Das ist eine gemeine Lüge!« erwiderte Bellamy viel zu schnell und viel zu prompt. Hätte er sich dieser Äußerung gegenüber gleichgültig gezeigt, so hätte er Spike wahrscheinlich täuschen können. Aber die Schnelligkeit, mit der er alles ableugnete, machte dem Zeitungsmann die Geschichte sofort interessant.

»Wer hat Ihnen denn das erzählt?« fragte Bellamy.

»Wir haben es aus einer ganz sicheren Quelle.« Spike war vorsichtig. »Man hat uns mitgeteilt, daß der Grüne Bogenschütze von Garre in dem Schloß gesehen wurde und offensichtlich in Ihrem Zimmer aus- und eingegangen ist.«

»Ich sagte Ihnen doch, daß das gelogen ist!« Abel Bellamys Stimme hatte einen verletzenden und beleidigenden Ton. »Diese verrückten englischen Dienstboten haben nichts anderes zu tun, als sich nach Geistern umzusehen! Es stimmt, daß ich die Tür meines Schlafzimmers eines Nachts offen fand, aber ich habe vermutlich vergessen, sie zu schließen. Wer hat Ihnen denn diese Auskunft gegeben?«

»Wir haben die Nachricht von drei verschiedenen Seiten,« log Spike frech darauf los. »Und alle drei Berichte ergänzen sich, Mr. Bellamy,« meinte er lächelnd, »es wird schon was daran sein. Außerdem erhöht doch so eine Geistererscheinung den Wert einer Burg oder eines Schlosses!«

»Da sind Sie aber sehr im Irrtum,« erwiderte Abel Bellamy, der die günstige Gelegenheit wahrnahm, das Thema zu ändern. »Es bringt eine solche Besitzung nur in schlechtes Gerede. Wenn Sie auch nur eine Zeile von Geistern und Gespenstern in Ihre Zeitung setzen, dann werde ich gerichtlich gegen Sie vorgehen – denken Sie daran, junger Mann!«

»Es ist möglich, daß auch der Geist noch irgend etwas unternimmt,« sagte Spike äußerst liebenswürdig.

Er ging die Treppe hinunter und war sich noch nicht klar, was er tun sollte.

Abel Bellamy war nicht der gewöhnliche Millionär, der sich in England ansiedelt und dann von selbst in der englischen Gesellschaft Zutritt findet. Er war von niederer Herkunft, nur halb gebildet und ohne irgendwelchen gesellschaftlichen Ehrgeiz.

Als Spike in die Hotelhalle eintrat, fand er Julius, der mit einem großen Herrn mit grauem Bart sprach, der dem besseren Handwerkerstand anzugehören schien. Julius gab Holland ein Zeichen, zu warten.

»Sie wissen, in welchem Zimmer er ist, Mr. Creager? Mr. Bellamy erwartet Sie.«

Als der Mann gegangen war, wandte sich Julius an den Reporter.

»Nun, was hat er gesagt, Holland?«

»Er hat die ganze Geschichte abgestritten. Aber in allem Ernst, Savini, ist etwas daran?«

Julius zuckte die schmalen Schultern.

»Ich weiß nicht, woher Sie die ganze Geschichte haben und Sie können sich darauf verlassen, daß ich Ihnen unter keinen Umstanden etwas erzähle. Der Alte hat mir sowieso die Hölle heiß gemacht, weil er dachte, ich hätte Ihnen den Tip gegeben!«

»Dann stimmt die Geschichte also. Irgendein grauenerregendes Gespenst hat in Ihren Mauern herumgespukt. Hat es auch irgendwie mit Ketten gerasselt?«

Julius schüttelte den Kopf.

»Von mir werden Sie nichts herausbekommen, Holland. Ich kann höchstens meine Stellung dadurch verlieren.«

»Wer war denn der Mensch, den Sie eben hinaufgeschickt haben? Er sah aus wie ein Polizist.«

Julius grinste.

»Er hat genau dieselbe Frage über Sie an mich gestellt, als Sie herunterkamen. Er heißt Creager und ist ein –« Er zögerte. »Nun ja, ich will nicht gerade sagen, Freund, er ist so eine Bekanntschaft von dem Alten. Wahrscheinlich bezieht er eine Art Pension von ihm. Er kommt in regelmäßigen Zwischenräumen, und ich bilde mir ein, daß er nicht umsonst erscheint. Bis der andere herunterkommt, ruft mich Bellamy sicher nicht. Kommen Sie und trinken Sie einen Cocktail mit mir.«

Spike schüttelte den Kopf.

Während sie noch sprachen, kam Creager zur sichtlichen Überraschung von Julius die Treppe wieder herunter. Er sah böse und verbissen aus.

»Er will mich nicht vor zwei Uhr sehen,« sagte er mit unterdrückter Wut. »Glaubt er denn, daß ich auf ihn warte? Wenn er sich das einbildet, irrt er sich gewaltig! Sagen Sie ihm das nur, Mr. Savini.«

»Was ist denn los?« fragte Julius.

»Er sagte zwei Uhr. Gebe ich zu. Aber ich bin doch nun in die Stadt gekommen, – warum sollte ich denn bis zum Nachmittag warten? Warum kann er mich nicht vormittags empfangen?« fragte Creager wütend. »Er behandelt mich wie einen Hund, er glaubt, er hat mich so –« Er machte eine bezeichnende Geste mit dem abwärts gerichteten Daumen. »Außerdem tobt er über einen Zeitungsreporter – das sind Sie wohl, wenn ich nicht irre.«

»Das stimmt genau,« entgegnete Spike.

»Also Sie können ihm sagen,« wandte sich Creager wieder an Julius und tippte dem jungen Mann mit dem Finger auf die Brust, um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben, »daß ich um zwei Uhr komme. Und ich werde eine lange Unterredung mit ihm haben oder ich werde mich selbst mit einem Zeitungsreporter ein wenig unterhalten.«

Mit dieser Drohung ging er fort.

»Savini,« sagte Spike sanft, »ich wittere eine gute Geschichte!«

Aber Savini sprang die Treppe hinauf und nahm immer zwei Stufen zu gleicher Zeit, um schnell zu seinem aufgebrachten Herrn zu kommen.


 << zurück weiter >>