Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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24

Julius wartete, bis Spike Holland außer Sicht war, dann ging er im Schatten der Umfassungsmauer auf Lady's Manor zu. Die Mauer begrenzte die Dorfstraße einige hundert Meter lang und der Weg kam ihm endlos vor.

Er streckte gerade seine Hand aus, um die Gartentür zu offnen, als er jemand im Schatten der Eibenhecke stehen sah. Erschrocken fuhr er zusammen.

»Wer ist da?« rief er mit lauter Stimme. Da kam plötzlich Leben in die Gestalt, und er erkannte Mr. Howett.

»Nun, Mr. Savini, was gibts denn?«

»Ach, Mr. Howett, es tut mir sehr leid, aber Sie haben mich sehr erschreckt.«

Im Mondlicht erschien Mr. Howetts gefurchtes Gesicht bleich. Es mochte mit der Beleuchtung zusammenhängen, aber Julius hatte geschworen, daß die Blässe unnatürlich war.

»Wollen Sie Miß Howett sprechen?«

»Ja, mein Herr . . . ich möchte sie etwas fragen – aber es ist wohl schon zu spät.«

»Nein, keineswegs, Mr. Savini –« Howett schien etwas verwirrt zu sein. »Würden Sie mir den großen Gefallen tun und Miß Howett nicht sagen, daß Sie mich gesehen haben?«

»Gewiß,« erwiderte Julius höchst erstaunt.

»Sie glaubt nämlich, ich sei schon zur Ruhe gegangen, und ich möchte sie nicht irgendwie beunruhigen. Ich – ich – habe die Angewohnheit, manchmal noch abends spät einen Spaziergang zu machen.«

»Ich werde unter keinen Umständen erwähnen, daß ich Sie gesehen habe.«

Er läutete an der Haustür. Ein Dienstmädchen erschien und öffnete ihm. Sie war erstaunt, ihn zu so später Stunde noch zu sehen. Miß Howett war noch auf, und das Mädchen ließ ihn warten, um ihrer Herrin den Besuch zu melden. Als Julius zur Gartentür zurückschaute, konnte er nur feststellen, daß Mr. Howett verschwunden war. Gleich darauf wurde er in das große Wohnzimmer gebeten und fand Valerie dort, die auf ihn wartete.

»Es ist allerdings sehr spät für einen Besuch, Miß Howett, aber ich muß etwas mit Ihnen besprechen. Durch die unglückliche Unterbrechung unserer Unterhaltung damals vergaß ich alles, was ich Ihnen sagen wollte.«

Sie mußte innerlich lächeln, denn sie hatte Julius schon längst verziehen. Sie amüsierte sich sogar, wenn sie an jene peinlichen fünf Minuten dachte.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Mr. Savini. Mein Vater hat sich schon zurückgezogen, er geht gewöhnlich sehr früh schlafen. Sie können mir in aller Ruhe berichten.«

Julius machte sich allerdings seine eigenen Gedanken über Mr. Howetts frühes Verschwinden, aber er behielt sie für sich.

»Ich möchte Sie fragen, ob Sie ein Taschentuch verloren haben,« begann er. »Der alte Bellamy hat mir die strengste Anweisung gegeben, es herauszubringen. Er war heute abend ganz merkwürdig, als er erfuhr, daß Mr. Howett und Sie die neuen Bewohner von Lady's Manor seien.« Dann erzählte er ihr alles, was sich zugetragen hatte.

Je weiter er sprach, desto mehr leuchteten ihre Augen auf.

»Dann stimmt es also doch! Und es muß wahr sein, wenn er sich so benommen hat – sein Gewissen scheint zu schlagen! Warum sollte denn nur die Nennung meines Namens ihn so aufregen?«

»Darüber habe ich mich auch sehr gewundert,« entgegnete Julius. »Was ist denn Ihrer Meinung nach der Grund?« Aber sie beantwortete seine Frage nicht.

»Was wollten Sie wegen des Taschentuchs? Ich habe vor einer Woche eins verloren – es ist sogar schon länger als eine Woche her. Es ist eins von den sechs, die ich in Paris machen ließ. Haben Sie es gefunden?«

Er nickte.

»Es ist in Garre Castle gefunden worden,« sagte er mit Nachdruck. »Und zwar in der Nacht, in der Bellamy auf den Grünen Bogenschützen geschossen hat – und es war ganz mit Blut durchtränkt!«

Sie sah ihn entsetzt an.

»Mein Taschentuch – in Garre Castle – das ist doch aber unmöglich!«

Er beschrieb das kleine dünne Tuch genau.

»Warten Sie einen Augenblick,« sagte sie, ging aus dem Raum und kehrte nach kurzer Zeit mit einem Taschentuch in der Hand zurück.

Julius brauchte nur hinzusehen, um es sofort zu erkennen.

»Aber wie merkwürdig! Ich erinnere mich jetzt, daß ich es an dem Tag verlor, an dem ich Lady's Manor besichtigte. Damals entschloß ich mich, meinen Vater zu bitten, das Haus zu mieten. Ich entdeckte den Verlust, als ich im Auto nach London zurückfuhr.«

»Sind Sie denn damals nicht in die Burg gegangen? Entschuldigen Sie, wenn ich diese Frage an Sie stelle, aber ich weiß doch, wie sehr Sie sich für Mr. Bellamy interessieren. Sind Sie nicht vielleicht irgendwie in die Nähe des Hauptgebäudes gekommen?«

»Nein,« sagte sie sehr bestimmt. »Ich weiß ganz genau, daß ich es in Lady's Manor selbst verloren habe. Ich erinnere mich, daß ich es bei mir hatte, als ich in das Haus ging.«

»Das ist alles, was ich heute berichten kann, Miß Howett.« Julius erhob sich. »Er hat mir sogar den Auftrag gegeben, ein anderes Taschentuch von Ihrem Dienstmädchen zu besorgen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum er plötzlich ein so großes Interesse an Ihnen hat.«

Er zögerte, als er in der Tür stand, und sie erinnerte sich, daß sie ihm Geld geben wollte.

»Aber das hat doch nichts zu sagen, Miß Howett,« meinte er, als sie ihm einige Banknoten auf den Tisch zählte. »Ich möchte eigentlich kein Geld mehr von Ihnen annehmen.«

»Der Arbeiter ist seines Lohnes wert,« erwiderte sie lächelnd. Aber er wußte nicht recht, ob er diese Äußerung als ein Kompliment auffassen durfte.

Als sie allein war, versuchte sie irgendeinen Entschluß zu fassen.

Ein großer Widerspruch war in Valerie Howetts Leben gekommen. Sie hatte sich die Ausführung eines Planes vorgenommen, der nach menschlichem Ermessen und Verstand nicht gelingen würde, der sogar äußerst gefährlich war. Und sie hatte sich trotz der dringenden Warnung Jim Featherstones dazu entschlossen. Sie war nicht so eigensinnig, daß sie gerade immer das Gegenteil von dem tat, worum er sie bat. Ihre gesunde Vernunft sagte ihr, daß die Burg für jeden ungebetenen Besucher einfach unzugänglich war. Schwer genug kam man schon in ein gewöhnliches Haus – wie konnte sie hoffen, in diese mit Schießscharten bewehrten Mauern einzudringen? Und selbst wenn sie drinnen war, wie sollte sie das finden, was sie suchte? Besonders da Bellamy jetzt vermutete, wer sie war und die Gefahr dadurch bedeutend größer wurde?

Aber trotzdem – und hier entschied sie sich gegen besseres Wissen – bestand noch eine geringe Hoffnung. Wenn der alte Plan der Burg, der in ihrem Besitz war, in allen Einzelheilen stimmte und die Umbauten der letzten beiden Jahrhunderte nicht den Grundriß vollkommen verändert hatten, dann hatte sie einen Zugang zu der Burg entdeckt.

Auf der Nordseite der Burg befand sich das Wassertor. In früherer Zeit war das Gebäude von einem Graben umgeben. Ein Fluß, der aus den hügeligen Wäldern des Hinterlandes kam, hatte früher in Verbindung damit gestanden. Sein Wasser wurde durch einen besonderen Kanal abgeleitet und auf diese Weise war es den Besitzern der Burg möglich, den Graben mit Wasser zu füllen, trotzdem das Gebäude auf einer kleinen Erhöhung stand. Der Graben war aber nun längst ausgetrocknet und mit Gras zugewachsen. An manchen Stellen war er auch eingeebnet worden. Nur das Wassertor aus jener Zeit war noch übriggeblieben.

Sie hatte die niedrige, quadratische Öffnung in der Burgmauer, die durch schwere eiserne Gitter geschlossen war, von ihren Fenstern aus gesehen. Durch dieses Tor gingen die Händler aus und ein, wenn sie zum Kücheneingang wollten, und Valerie hatte den Entschluß gefaßt, auch auf diesem Wege in die Burg zu kommen und Abel Bellamys Geheimnis zu enthüllen. Aber ihr Verstand sagte ihr, daß das Küchengebäude und die anderen, außerhalb liegenden Räumlichkeiten, die man durch das Wassertor erreichen konnte, sicher von der eigentlichen Burg abgesperrt seien, und daß sie ihrem Ziele nicht näherkommen würde, wenn sie durch das Tor eindringen könnte. Aber trotz dieser geringen Aussicht wollte sie wenigstens einen Versuch wagen. Die Hoffnung, die in ihr lebte, hatten selbst alle bisherigen Mißerfolge bei ihren Bemühungen nicht zerstören können.

Ihr Vater war schon zur Ruhe gegangen, wie sie annahm. Den letzten der drei Dienstboten entließ sie um zwölf Uhr und sagte ihm, daß sie noch zu tun hätte. Nun war sie nur noch allein auf. Ihr Vater hatte, wie sie wußte, einen gesunden Schlaf.

Sie saß in ihrem kleinen Wohnzimmer und versuchte, die Zeit totzuschlagen. Sie hatte sich mit besonderer Sorgfalt für dieses Abenteuer angekleidet und hoffte, daß der kurzsichtige Mr. Howett beim Abendessen nicht gesehen hatte, daß sie noch immer das Golfkleid trug, das sie schon am Tage angehabt hatte.

Nachdem alles ruhig geworden war, ging sie in den Garten hinunter und fand mit Hilfe ihrer elektrischen Taschenlampe den Weg bis zur Mauer, wo die beiden leichten Leitern lagen. Sie hatte sie am Tage von den Arbeitsleuten, die noch mit der Reparatur des Daches beschäftigt waren, dorthin schaffen lassen. Sie stellte eine gegen die Mauer, die zweite stellte sie daneben und stieg hinauf. Oben zog sie die eine Leiter nach, ließ sie an der anderen Seite hinunter und band die beiden Gestelle mit einem Strick zusammen. Als sie damit fertig war, ging sie ins Haus zurück. Es war noch zu früh für die Ausführung ihres Plans, und sie war eine ganze Stunde lang ohne eigentliche Beschäftigung.

Sie schrieb zwei unwesentliche Briefe an Leute, die sie nur wenig interessierten, und wollte gerade einen dritten anfangen, als ihr zum Bewußtsein kam, daß sie am Abend nur wenig gegessen hatte. Sie empfand Hunger und ging deshalb in die Küche, die im Kellergeschoß lag und die man durch eine lange Steintreppe erreichen konnte. Sie nahm eine Kerze mit sich, denn Lady's Manor war nicht mit elektrischem Licht versehen. Sie entzündete den Gasherd, stellte einen Wasserkessel auf und durchsuchte den Vorratsraum. Zu ihrer Freude fand sie auch noch eine Schüssel mit Pasteten, die sie in die Küche brachte und auf den Tisch stellte. Dann ging sie in ihr Wohnzimmer nach oben und ließ die Kerze unten brennen.

Eine unheimliche Ruhe lag über dem Raum, das Schweigen war beklemmend und sie wünschte, daß ihr neuer Flügel schon angekommen wäre. Sie schrieb an dem begonnenen Brief weiter, aber ihre Gedanken waren so mit ihrem Abenteuer beschäftigt, daß sie sich nicht darauf konzentrieren konnte.

Sie hielt die Feder in der Hand und suchte nach neuen Gedanken, die sie ihren Bekannten schreiben könnte, als sie plötzlich zusammenschrak. Sie hatte ein Knacken gehört – jemand mußte die Haustür am äußersten Ende der Halle aufgeschlossen haben. Einen Augenblick saß sie starr vor Furcht, ihre überreizten Nerven waren einem solchen unerwarteten Zwischenfall nicht mehr gewachsen.

Einige Sekunden vergingen, dann hörte sie leichte Fußtritte auf dem mit Fliesen belegten Gang. Die leisen Schritte kamen näher und näher und gingen an der Tür vorbei.

Sie stand auf, eilte zu der Tür und riß sie auf. Sie konnte nur den Lichtschein aus der Küche sehen, sonst nahm sie nichts wahr.

»Ist jemand hier?« fragte sie mit lauter Stimme. »Sind Sie es, Clara?«

Plötzlich hörte sie ein Krachen, und das Licht in der Küche verlosch sofort.

Ihr Herz schlug schnell. Sie atmete schwer, aber sie biß sich auf die Lippen, um einen Hilfeschrei zu unterdrücken.

Sie hatte die elektrische Lampe noch in ihrer Tasche und nahm sie mit bebenden Händen heraus. Ein zitternder Lichtstrahl erhellte die dunkle Halle. Valerie dachte an den Revolver, den ihr Spike gegeben hatte, ging in das Zimmer zurück und holte ihn aus der Tischschublade. Dann schaute sie wieder die dunkle Halle entlang und die Treppe zur Küche hinunter.

»Ist jemand hier?« fragte sie noch einmal, aber nur das dumpfe Echo ihrer Stimme schallte zurück.

Als sie nichts mehr hören konnte, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und ging langsam durch die Halle. Zögernd betrat sie die Treppe und gelangte allmählich in die Küche. Die Platte mit den Pasteten lag zerbrochen auf dem Fußboden. Sie hatte also eben den Fall dieser Schüssel gehört. Erleichtert atmete sie auf – der Eindringling war wenigstens ein Mensch!

Sie steckte die Kerze wieder an, deren Docht noch glimmte. Dann entdeckte sie, obgleich die Platte zerschmettert auf dem Boden lag, zwei Scherben auf dem Tisch. Irgend jemand mußte sie aufgehoben haben. Die Küche war aber leer. Dahinter lag die Speisekammer und von dort aus führte eine Tür in den Kohlenkeller. Sie versuchte sie zu öffnen, aber sie war verschlossen.

Wohin mochte wohl der geheimnisvolle Besucher gegangen sein? Die Fenster waren durch eiserne Gitter geschützt, und hier gab es doch nirgends einen Platz, wo er sich verbergen konnte. Die Tür, die auf den kleinen Wirtschaftshof an der Rückseite des Hauses führte, war von innen verriegelt und versperrt. Die Gartentür hatte Valerie heute selbst abgeschlossen, als sie wieder hereinkam, nachdem sie die Leitern an die Mauern gestellt hatte. Sie fühlte den Schlüssel in ihrer Tasche.

Sie dachte daran, die Dienerschaft aufzuwecken und eine genaue Durchsuchung der unteren Räume vornehmen zu lassen, aber das hätte ihre eigenen Pläne vollkommen zerstört. Plötzlich sah sie in der einen Ecke der Speisekammer zwei feurig grüne Punkte, die sie anstarrten. Sie fuhr zusammen und mußte im nächsten Augenblick hysterisch auflachen, denn sie hielt die Katze in den Händen.

»Du armer Kerl! Ich glaubte schon, du wärst ein Gespenst! Aber wie darfst du denn die Schüssel hinunterwerfen?«

Sie ging zur Küche zurück. Ihr Blick fiel plötzlich auf einen langen grünen Pfeil, der neben den Scherben der Porzellanplatte auf dem Fußboden lag. Seine Spitze leuchtete im Schein der Kerze auf.


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