Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

39

Um acht Uhr abends trat ein Dienstmädchen schüchtern in die Bibliothek Bellamys und schob den mit Rädern versehenen Serviertisch, auf dem das mehr als reichliche Mahl stand, in den Raum. Sie stellte den Wagen auf den freien Platz hinter den Schreibtisch, setzte einen Stuhl zurecht und entfernte sich wieder ängstlich.

Abel Bellamy, der ihre Anwesenheit scheinbar gar nicht bemerkt hatte, stand auf, als sie hinausgegangen war, und brummte einen Fluch vor sich hin, den sie aber nicht mehr hörte. Er ging zur Tür, verschloß sie und begann dann das Essen auf verschiedene Schüsseln und Teller zu verteilen, ohne sich zu setzen. Als er damit fertig war, näherte er sich dem Schreibtisch und zog ihn zurück, bis der Teppich, auf dem er stand, ganz frei lag. Diesen rollte er sorgfältig auf, so daß der Parkettboden sichtbar wurde.

Aus einer Schublade nahm er einen kleinen Vacuumheber, über den sich Julius schon oft den Kopf zerbrochen hatte, preßte ihn auf eins der kleinen hölzernen Quadrate, aus denen sich der Fußboden zusammensetzte, und hob eine Platte heraus. Darunter kam ein Schlüsselloch zum Vorschein. Er steckte den Schlüssel hinein, den er an einer Kette trug, faßte die Kante des Holzes und zog sie hoch. Es war eine Falltür. Das Ganze war so schlau ersonnen, daß man es nicht erkennen konnte, wenn es zusammengeschoben war. Darunter befand sich offenbar fester Steinboden, in den ein kleines Metallschloß eingelassen war.

Wieder brauchte er seinen Schlüssel. Als er aufgeschlossen hatte, setzte er seinen Fuß auf den Stein und drückte nach unten. Die schwere Steinplatte drehte sich halb um eine Stahlachse. Es zeigte sich eine Öffnung und darunter eine Steintreppe.

Bellamy ging zum Tisch zurück, nahm einige Schüsseln und begab sich damit in den unteren Raum. Obwohl es dunkel war, fand er den Weg zu einem Seitentisch und setzte die Speisen dort nieder. Dann entzündete er ein Streichholz und steckte die Gaslampen an. Am hinteren Ende des Raumes befand sich eine Tür, die er aufriegelte und aufstieß.

Er war jetzt außerhalb der Burgmauern. Die Tür, durch die er schritt, führte durch die Fundamentmauern, die an dieser Stelle so stark waren, daß er durch einen kleinen Tunnel zu gehen schien. Auf der anderen Seite lag ein großes Zimmer, dem sich noch zwei kleinere angliederten. Sechs Gasarme, über die schöne, opalfarbene Glasglocken gesetzt waren, beleuchteten sie.

Es war der merkwürdigste Raum im ganzen Schloß. Das schwere steinerne Gewölbe ruhte auf massiven Pfeilern, das Innere war luxuriös ausgestattet. Herrliche Teppiche bedeckten den Steinboden und echte Gobelins hingen an den Wänden. Mehrere bequeme Sessel standen umher, auf denen weiche Kissen lagen, und auf einem schmalen Seitentisch erhob sich eine große silberne Vase mit einigen Blumen. Jedes Möbelstück, das man hier sah, hatte Bellamy selbst hergebracht.

Er schaute sich um – das Zimmer war leer. Er ging zu einer der Türen, öffnete sie und kam in eine kleine, vollständig eingerichtete Küche. Auf der anderen Seite war durch eine offene Tür ein schmaler Baderaum zu sehen. Brummend ging er zu dem Hauptraum zurück.

»Elaine!« rief er mit lauter Stimme.

Eine Frau kam langsam aus dem dritten Zimmer. Sie trug ein weites, dunkles Kleid, und ihre Bewegungen waren langsam und teilnahmlos.

»Hier ist das Essen« sagte Bellamy. »Hast du wohl jemals bedacht, was passieren würde, wenn ich dich vergesse? Nimm doch einmal an, ich würde tot umfallen!« Er schüttelte sich vor Lachen bei dem Gedanken. »Wer würde dich dann hier auffinden? Dann müßtest du hier unten verhungern, Elaine. Nach Hunderten von Jahren, vielleicht nach tausenden würde man dich hier ausgraben und dich für irgendeine gefangene Königin halten, wie?«

Sie hatte diese Reden schon so oft gehört, daß sie nicht mehr darauf achtete. Sie schob nur einen Stuhl an den Tisch und setzte sich. Er beobachtete sie, als sie mechanisch einige Bissen zu sich nahm. Acht Jahre Gefangenschaft waren auf der durchsichtigen Blässe ihres Gesichts zu lesen.

Aber all diese Qualen, all diese Demütigungen, die sie täglich durchmachen mußte, die Beleidigungen und die höhnenden Reden des brutalen Bellamy hatten sie geistig nicht vollkommen gebrochen und auch die Schönheit ihres Gesichtes nicht zerstört. Man hatte sie für eine Frau von dreißig Jahren halten können, nur ihre grauen Haare verrieten, daß sie älter war.

Bellamy hatte sich mit verschränkten Armen an einen Pfeiler gelehnt und schaute auf sie herab.

»Ich habe heute Valerie gesehen, Elaine Held. Sie hätte dir sicher liebevolle Grüße geschickt, wenn sie von diesem Aufenthalt wüßte. In einem Monat wird sie eine glückliche Braut sein. Kannst du dich auf Coldharbour Smith besinnen?«

Zum erstenmal sah die Frau auf.

»Ich glaube dir nicht, wenn du erzählst, du hättest Valerie gesehen oder sie sei irgendwo in der Nähe. Das lügst du mir vor. Alles, was du mir früher gesagt hast, waren Lügen.«

»Kennst du Coldharbour Smith?« fragte er zum zweitenmal.

Sie antwortete nicht, aber ihre Hand, die das Glas zum Munde führte, zitterte.

»Es wäre besser, wenn du dich an ihn erinnern könntest,« sagte er dann, und seine Stimme wurde drohend und laut. »Du wirst ihn bald wiedersehen! Es schleicht hier irgendein Polizeispitzel um die Burg herum. Als du neulich einen Anfall hattest und schriest, hörte er es – er stand gerade über dir und hörte dich schreien.« Das Echo seines dröhnenden Gelächters schallte dumpf in dem gewölbten Zimmer wieder. »Ein schlauer Bursche! Er maß die Temperatur der Erde und hat doch richtig deine Küche herausgefunden. Seine Vermutungen waren richtig, aber ich habe ihn an der Nase herumgeführt!«

Sie antwortete noch immer nicht, aber er war so gewöhnt an dieses Schweigen, daß er sich nicht mehr darüber ärgerte.

»Valerie ist recht hübsch geworden, sie ist wie Elaine Held in ihrer Jugend. – Dieselben Augen, dasselbe Haar und derselbe verdammte Eigensinn. Sie wird in einem Monat heiraten.«

Sie stand seufzend auf und schaute ihm ruhig und gerade in die Augen.

»Ich gedenke Valeries als einer Toten.«

»Du bist eben verrückt und bist immer verrückt gewesen. Damals hattest du eine große Chance, als ich dich heiraten wollte. Jetzt will ich dich natürlich nicht mehr haben.«

»Das ist das Angenehmste, was du mir sagen kannst. Ach, ich wünschte, ich wäre tot!« Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und ihre Gestalt zitterte.

»Warum stirbst du denn nicht?« fragte der Alte verächtlich. »Ich will es dir sagen, weil du feige bist! Warum willst du denn nicht sterben? Es ist doch so leicht. Du brauchst doch nur die Gashähne aufzudrehen und dann schläfst du von selber ein. Du hast doch auch Messer da, die scharf genug sind.«

»So möchte ich nicht sterben – ich will leben, um zu sehen, wie du gestraft wirst für all das Böse, das du getan hast, für all den Kummer und das Elend, daß du Menschenherzen bereitet hast, Abel Bellamy!«

Er grinste und zeigte seine weißen Zahne. Dann ging er langsam auf sie zu und faßte sie an den Schultern.

»Du fürchtest also den Tod doch? Ich fürchte mich nicht, ich warte nur auf den Tag, an dem ich sterben soll – ich da oben und du hier unten. Niemand denkt auch nur im Traum daran, daß hier unten jemand lebt, und dieser letzte Gedanke wird mir noch im Tode eine Beruhigung und Genugtuung sein. Wenn sie mich aus der Burg heraustragen, dann gehen sie über dein Grab, Elaine, und niemand wird es wissen – du wirst es nicht wissen, und auch ich werde es nicht mehr wissen!«

Sie zitterte.

»Du bist unmenschlich,« sagte sie leise vor sich hin.

Abel ließ sie los, nahm die leeren Schüsseln, blieb noch eine Weile stehen und schaute sie nachdenklich an.

»Man wird dich niemals finden,« sagte er, als ob er zu sich selbst spräche, »niemals. Ich will dich hier gefangenhalten. Und wenn ich dich einmal herausließe, würde ich dich doch wieder hierher zurückbringen.«

Plötzlich drehte er sich um und ging zur Tür hinaus, warf sie krachend zu und schob die Riegel vor. Er brachte die Schüsseln wieder nach oben und setzte sie auf den Rolltisch in der Bibliothek nieder.

Dann brachte er durch einen Druck seines Fußes die Steinplatte wieder in ihre alte Lage, und sie schnappte mit einem feinen Klicken ein.


 << zurück weiter >>