Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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55

Jim schaute lange auf die beiden belastenden Funde, ohne zu sprechen. Und dann versuchte er, eine Erklärung zu geben.

»Mr. Howett erzählte doch, daß er einen Mann nach dem Ufer rudern sah und ihn bat, ihm sein Boot zu überlassen.«

»War das nicht eine recht sonderbare Geschichte, die er da erzählte, Captain Featherstone?«

»Mir ist sie nicht besonders merkwürdig vorgekommen,« sagte Jim ein wenig kühl. »Es scheint mir sehr wahrscheinlich, daß der Mann, der ursprünglich in dem Boot war, überrascht war, als er Mr. Howett auf der Landungsbrücke stehen sah, und daß er entweder vergaß, seine Waffe herauszunehmen, oder daß er sie absichtlich dort zurückließ, um nicht die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu lenken.«

»Hm!« meinte Inspektor Fair. Aber man hörte seinen Worten an, daß er sich durch Jims Worte nicht überzeugen ließ. »Sie haben den Fall ja zu bearbeiten und ich möchte Ihnen dabei nicht in die Quere kommen, Captain. Aber wenn Sie meinen Rat annehmen wollten – und ich bin doch schon viel länger im Dienst tätig als Sie – so würden Sie Mr. Howett doch nicht ganz von dem Verdacht freisprechen, daß er den Tod von Coldharbour Smith auf dem Gewissen hat. Und unter uns gesagt, wäre es ja schließlich auch gerechtfertigt, wenn man daran denkt, daß dieser Schuft seine Tochter geraubt hat –«

»Mr. Howett sollte – nein, das ist ganz unmöglich!«

»Es mag unmöglich scheinen,« erwiderte Inspektor Fair, der sich nicht im mindesten einschüchtern ließ. »Aber was wollen Sie nun tun? Werden Sie Mr. Howett zur Leichenschau laden? Das ist eine sehr wichtige Angelegenheit. Jeder, der unter solchen Umständen auf dem Fluß angetroffen wurde, hat sich verdächtig gemacht und müßte vorgeladen werden, um dem Leichenbeschauer zu sagen, was er gesehen und gehört hat.«

Jim war in einer schwierigen Lage. Es war unmöglich, Valeries Namen aus der Sache fernzuhalten, aber er wollte die Verbindung der Howetts mit der Geschichte möglichst beschränken. Wer mochte der Mann gewesen sein, den Valerie und Julius sahen, als er allein durch den Nebel ruderte? Den sie anriefen, ohne eine Antwort zu bekommen? War das Mr. Howett? Oder war das – der Mann, den er suchte? Er beschloß, Howett bei der nächsten Gelegenheit darüber auszufragen. Aber ebenso fest stand es bei ihm, daß es unter allen Umständen vermieden werden mußte, Mr. Howett zu der Leichenschau zu laden.

Es war ja auch noch der andere Mord des Bogenschützen aufzuklären, und das Publikum wurde schon ungeduldig, daß so viele Verbrechen ungesühnt blieben.

Als Jim Smiths Papiere durchsah, entdeckte er, daß er eine sehr große Summe, meist in amerikanischen Banknoten, bei sich trug. Von wem er das Geld erhalten hatte, konnte man nicht ausfindig machen.

Die Leichenschau mußte vom Standpunkt der Polizei aus sehr vorsichtig behandelt werden. Alle Zeitungen waren schon voll von diesem geheimnisvollen Verbrechen und erinnerten in Artikeln und Abbildungen wieder an die Ermordung Creagers. An dem Morgen, an dem die Leichenschau stattfinden sollte, brachte der »Daily Globe« einen aufsehenerregenden großen Aufsatz. Es war eine nahezu vollständige Zusammenstellung aller Unternehmungen des Grünen Bogenschützen, und die Zeitung hatte sorgfältig vermieden, Abel Bellamy mit den beiden Verbrechen in Verbindung zu bringen.

»Die Schwierigkeit besieht darin,« sagte Spike, der wie gewöhnlich an diesem Morgen in Scotland Yard erschien, »Bellamy und einen oder beide Morde miteinander in Zusammenhang zu bringen. Die einzige Verbindung liegt in der Tatsache, daß Miß Howett in Lady's Manor wohnt und sich infolgedessen im Bereiche des Grünen Bogenschützen befindet.«

»Ich habe mir bis jetzt noch nie die Mühe gemacht, die Artikel zu lesen,« erwiderte Jim. »Aber ich hoffe, Spike, daß Sie nicht ausgeplaudert haben, was Sie verschweigen sollten.«

»Diskretion ist meine größte Schwäche,« antwortete Holland, »und alles in allem ist die Geschichte einleuchtend wiedergegeben. Coldharbour Smith, ein Verbrecher, der schon viel auf dem Kerbholz hatte, nahm Miß Howett gefangen und wollte sie nur gegen ein Lösegeld freigeben. Durch eine List gelang es ihm, sie an Bord der ›Contessa‹ zu bringen und er war gerade dabei – wie wir vermuten, oder wenigstens wie der ›Daily Globe‹ vermutet, und darauf kommt es doch nur an – ihrem Vater einen Brief zu schicken, in dem er ihm mitteilte, daß er sie gegen soundsoviel tausend Pfund freilassen würde. Die ganze Geschichte ist also als eine gewöhnliche Erpressung dargestellt – nichts ist erwähnt von einer Heirat, die dieser fürchterliche Kerl beabsichtigte, und es findet sich keine Andeutung, daß der alte Bellamy in die Angelegenheit verstrickt sein könnte.«

Jim nickte.

»Wenn ich die Dinge irgendwie arrangieren kann, so wird auf der Leichenschau die Sache ähnlich behandelt werden. Es besteht nur eine Gefahr –«

»Das ist Lacy,« platzte Spike heraus. »Der könnte uns noch die ganze Suppe versalzen, besonders da ich glaube, daß Sie ihn mit der Entführung Miß Howetts und deshalb auch mit dem Mord in Zusammenhang bringen müssen. Vielleicht hat er auch noch etwas über Sie auszusagen, Captain,« sagte er bedeutungsvoll. »Er erzählte mir eine haarsträubende Geschichte, wie er behandelt worden sei und auch, daß er sich schwer rächen wolle.«

Lacy war wirklich die große Gefahr, Jim erkannte das auch. Als aber bei der Leichenschau Lacys Name aufgerufen wurde und er sich nicht meldete, als man nach ihm suchte und ihn nicht fand, atmete Jim erleichtert auf, obwohl durch die Vertagung der Leichenschau der böse Augenblick für ihn doch nur hinausgeschoben wurde. Da Lacy nicht erschienen war, trotzdem er unter Strafandrohung vorgeladen war, blieb Jim nur eins übrig. Er mußte ihn verhaften lassen und in Gewahrsam behalten. Sehr unwillig händigte Jim seinem Assistenten den nötigen Verhaftungsbefehl aus. Aber Lacy war nicht aufzufinden, er war aus dem Hause, in dem er lebte, verschwunden, und man sah ihn nirgendwo in der Gegend.

Nach drei Tagen wurde die Leichenschau abgehalten. Spike Holland nahm auch daran teil und folgte den Vorgängen mit außerordentlichem Interesse. Aber es fiel kein Wort von Garre Castle, und der Grüne Bogenschütze wurde überhaupt nicht erwähnt. Nur ein etwas neugieriger Geschworener machte den Versuch, die Sprache darauf zu bringen, wurde aber prompt von dem Leichenbeschauer zurückgewiesen. Es war eben ein Mord, zwar außergewöhnlich durch die Nebenumstände, aber sonst sehr nüchtern. Und als die einfältigen Geschworenen mit ihrem Spruch wieder erschienen, wurde der letzte Hauch von Romantik von dem Fall genommen, denn der Spruch lautete:

»Es wurde festgestellt, daß der verstorbene Henry Arthur Smith an Bord des Dampfers ›La Contessa‹ getötet wurde und zwar an einer Stelle, die zu der Gerichtsbarkeit von Rotherhithe in dem Bezirk von London gehört. Der Tod trat ein, weil er von einer oder mehreren unbekannten Personen mit einem spitzen Gegenstand durchbohrt wurde. Wir erheben gegen diese Personen die Anklage des vorsätzlichen Mordes.«

Es wurde nicht einmal gesagt, daß der spitze Gegenstand ein Pfeil war. Niemand sprach über Valerie Howett, die ihre Aussage mit leiser Stimme machte, so daß man sie nicht einmal auf den Sitzen der Zeitungsberichterstatter verstehen konnte.

»Das war ein wirklich idealer Spruch der Geschworenen,« sagte Jim mit einem Seufzer der Erleichterung, als alles vorüber war. »Ich möchte nur wissen, was Bellamy sich bei der ganzen Sache denkt.«

Mr. Howett lud ihn zum Wochenende nach Lady's Manor ein, und Jim nahm sofort mit Freuden an. Mr. Howett, der schon früher sehr zurückhaltend gewesen war, schien ganz schweigsam geworden zu sein. Valerie beklagte sich bei Featherstone darüber, kurz nachdem er in Lady's Manor angekommen war.

»Die Burg wird jetzt noch mehr bewacht wie früher,« erzählte sie ihm dann. »Mr. Bellamy läßt nicht einmal mehr die Geschäftsleute hereinkommen, sie müssen ihre Waren im Pförtnerhaus abliefern. Mr. Savini ist eine Art Haushofmeister geworden und seine Frau –«

»Fay?« fragte Jim ungläubig. »Sie wollen doch nicht sagen, daß sie hier ist?«

»Sie kam letzten Dienstag und ist der weibliche Haushofmeister von Garre Castle geworden. Mr. Savini glaubt, daß dieser schreckliche Lacy irgendwo in der Burg versteckt ist. Ich versprach ihm, Ihnen nichts davon zu sagen.«

»Sagen Sie bitte, daß Sie mir nichts berichtet haben,« fiel ihr Jim hastig ins Wort. »Lacy ist der einzige Mann, dessen Aufenthaltsort ich nicht zu wissen wünsche, bis ich Abel Bellamy alle seine Verbrechen nachweisen kann.«

Sie standen im Garten, und sie war dabei, die verwelkten Blütenblätter einer großen, weißen Chrysantheme zu entfernen.

»Glauben Sie, daß ich die Hoffnung aufgeben muß, jemals meine Mutter wiederzufinden?« fragte sie.

Er wollte ihr nicht direkt antworten.

»Eine Hoffnung, die schon ein Teil der Gedanken geworden ist, die man jahrelang gehegt hat, soll man eigentlich nicht aufgeben,« sagte er schließlich.

Sie wollte ihm etwas mitteilen und hatte ihn deswegen in den schattigen Garten geladen. Aber so oft sie beginnen wollte, fiel ihr das Sprechen zu schwer. Wenn sie ihr Geheimnis verriet, brachte sie damit einen Menschen in Verdacht, den sie von Herzen liebte, und der ihr sehr teuer war. Und doch konnte nur eine Aussprache über das, was ihre Gedanken Tag und Nacht beschäftigte, ihre verstörten Gedanken wieder zur Ruhe bringen.

»Jim, ich gebe mir die größte Mühe, Ihnen alles Vertrauen entgegenzubringen, und doch fürchte ich mich ein wenig vor Ihnen. Es ist wegen meines – meines Vaters, Mr. Howett. Wollen Sie bitte vergessen, daß Sie ein Polizeibeamter sind und nur daran denken, daß Sie mein Freund sind?«

Er nahm ihre kalte Hand in die seine, und sie verweigerte es ihm nicht.

»Erzählen Sie, was Sie bedrückt, Valerie,« sagte er freundlich. »Ich habe mich niemals weniger als Polizeibeamter gefühlt als gerade in diesem Augenblick.«

Sie ließ sich auf einer großen Holzbank an seiner Seite nieder und berichtete ihm zögernd von ihrem merkwürdigen nächtlichen Erlebnis, von den flüsternden Stimmen und dem Weinen.

»Als mein Vater mir sagte, daß er selbst im Wohnzimmer war, hätte ich zu Bett gehen sollen – aber ich war so neugierig und – Jim, ich wäre beinahe gestorben, als ich unten in der Eingangshalle den Grünen Bogenschützen stehen sah!«

Jim war erstaunt, aber nicht im mindesten beunruhigt.

»Haben Sie Mr. Howett gesehen, als er nachher die Treppe heraufkam?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Er ging direkt in sein Zimmer.«

»Langsam oder eilig?«

»Sehr schnell.«

»Hat er nicht an Ihre Türe geklopft oder Ihnen Gute Nacht gesagt?«

»Nein, er ging in sein Zimmer und schloß die Tür hinter sich zu.«

»Und die Frau – haben Sie die auch gesehen?«

»Nein, Mr. Holland glaubte, daß sie den Wagen lenkte, der an ihm vorbeikam und ihn aufweckte.«

Man sah Zweifel in Jims Gesicht.

»Eine hysterische Frau wird wohl kaum in der Lage sein, ein Auto zu lenken. Aber immerhin, manchmal erholen sich Frauen sehr schnell. Es ist eine ganz merkwürdige Geschichte.«

»Ich will Ihnen eine noch viel seltsamere Sache erzählen,« sagte sie und teilte ihm nun zum erstenmal mit, daß sie in der Nacht, in der sie ihren abenteuerlichen Gang nach Garre Castle unternahm, sonderbare Geräusche gehört und den grünen Pfeil in der Küche gefunden hatte.

Auf seine dringende Bitte hin brachte sie die Waffe zum Wohnzimmer herunter. Er nahm sie in die Hand und maß sie.

»Dieser Pfeil ist länger als die drei, die ich bis jetzt gesehen habe,« sagte er schließlich. »Creager und Smith wurden durch Pfeile getötet, die wenigstens fünfzehn Zentimeter kürzer waren als dieser, der genau ein altes Yard mißt. Diese Pfeile wurden von den Bogenschützen im Mittelalter benützt.«

Er befühlte die nadelscharfe Spitze und untersuchte sie durch sein Vergrößerungsglas.

»Die Spitze ist handgefertigt,« erklärte er dann. »Nun verstehe ich auch, warum wir keinen Erfolg hatten, als wir alle Geschäfte untersuchten, die solche Sportartikel führen. Der Pfeilschaft ist auch selbst hergestellt – er ist außerordentlich kunstvoll geglättet.«

Er besah ihn neugierig und hielt ihn nahe ans Licht. »Ich sehe ein halb Dutzend Fingerabdrücke daran,« sagte er plötzlich. »Wahrscheinlich sind das Ihre eigenen, aber es wäre doch wichtig, wenn ich sie photographieren könnte. Darf ich den Pfeil mit mir zur Stadt nehmen?«

»Nein,« sagte sie mit einer Heftigkeit, über die er sich sehr wunderte, bis er sich wieder an die Zusammenhänge erinnerte. Sie fürchtete – daß die Fingerabdrücke die Identität des Grünen Bogenschützen ans Tageslicht bringen könnten.

Er gab ihr den Pfeil zurück, als sich plötzlich die Tür öffnete und Mr. Howett eintrat.

»Mein lieber –« begann er, brach aber plötzlich ab. »Was ist das?« fragte er düster.

»Ein Pfeil,« stotterte Valerie. Mr. Howett nahm ihr die Waffe aus der Hand, wandte sich um, ohne ein Wort zu sagen, und verließ das Zimmer schnell.

Die Beiden sahen sich an, und Jim entdeckte in Valeries Blick einen Ausdruck von Angst und Furcht, der ihm ins Herz schnitt.


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